Michael Mews

Maria Bellano ( 1 )

 

 

1

 

 

Carlo Brioni steht an der weißen Reling einer Jacht und blickt, seinen Gedanken nachhängend, auf das offene, blaue Meer. Der strahlende Himmel ist wolkenlos. Heftig bläst der Wind in sein gebräuntes, bärtiges Gesicht und die atlantischen Wellen klatschen rhythmisch gegen die Bordwand. Die Sonne steht fast über ihm. Durch den starken Wind sind die sengenden Strahlen nicht zu spüren. Weit vor ihm ist unter der flimmernden Landluft der Leuchtturm von Lanzarote zu sehen. Er ist zufrieden mit sich selbst und genießt das Schaukeln des Schiffes. Sein buntes Hawaii- Hemd und seine wilden, leicht ergrauten Haare flattern im Wind.

 

 

„Alles lief wie am Schnürchen“, denkt er. „Vor drei Wochen war ich noch in Kolumbien und heute Abend werde ich endlich auf Lanzarote übernachten.“

 

 

Ohne sich umzudrehen greift er mit der linken, behaarten Hand hinter sich nach seiner hellblauen Jacke. Denn er weiß, dass sich in der Tasche noch ein Päckchen Zigaretten befinden müssen. Die Jacke klemmt er unter seinen Arm fest, während er mit der anderen Hand nach der Zigarettenschachtel tastet.  

 

 

Die stechenden Augen hinter ihm bemerkt er nicht. Auch nicht das auf ihn gerichtete kalte Metall. Plötzlich wird sein sonniger Tag von drei aufpeitschenden Schüssen zerrissen und beendet.

 

 

Carlo Brioni beugt sich nach vorne vor und kippt über die Reling. Mit der Jacke unter dem Arm und einem Päckchen Zigaretten in der rechten Hand. Noch atmet er. Das Salzwasser dringt in seine Lungen. Er sinkt immer tiefer, in das dunkle Blau, während die Wellen über ihn dahin rollen, so, als wäre nichts geschehen.

 

 

 

 

 

2

 

 

Der Rucksack befindet sich unter meinem Sitz in einer Boeing 777. In der Seitentasche, bei den Tickets steckt mein Ausweis. In ihm steht mein Name: Jens Lupa. Geboren am 16. Juni. Alter: Anfang dreißig. Größe: hundertachtzig Zentimeter. Augenfarbe: blau. Das ist alles richtig. Auch die Augenfarbe stimmt. Sie sind so blau und geheimnisvoll wie das fast unendlich tiefe blaue Meer unter mir. Was nicht darin steht ist, dass ich 76 kg wiege. Mein Haar ist lockig und dunkel. In der Dämmerung wirkt es nahezu schwarz. Es ist nicht zu kurz und auch nicht zu lang. Einen Scheitel gibt es nicht. Unter dem schmalen Oberlippenbart habe ich eine Narbe, die durch ihn fast vollständig verdeckt wird. Bevor ich an dieser Stelle den Kontakt mit einer Faust hatte, gab es diese Narbe noch nicht. Diese Faust gehörte einem Schulkameraden. Ich fahre viel mit dem Fahrrad. Daher sind meine Beine muskulös und ich liebe die Farbe blau. Dunkelblau. Das wirkt sich auch auf die Farben meiner Kleidung aus. Aufgewachsen bin ich artgerecht, wie ein glückliches Huhn.

 

Die Boeing 777 setzt sanft auf der Landebahn in Lanzarote auf, nahe der Hauptstadt Arrecife. Die Fahrt vom Flugplatz zum Hotel im klimatisierten Bus ist angenehm. Während der Busfahrt sehe ich die karge Vulkanlandschaft, bedeckt mit unterschiedlich bräunlichen, malerischen Farben, die in der Sonne leuchten. Die verputzten Flächen der vereinzelnd stehenden Häuser sind weis, die Fensterrahmen, Türen und andere Holzteile sind mit einem hellen Grün angestrichen und leuchten in der Sonne. Cesar Manruique, ein Maler und Architekt, der lange auf dieser Insel lebte, hatte viel dazu beigetragen, dass die für dieser Insel typischen Farben erhalten und gepflegt wurden. Nach dem Transfer zum Hotel, dem Kofferauspacken und einer kurzen Erfrischungsdusche erkundige ich die Hotelanlage.

 

 

In der Eingangshalle steige ich aus dem Aufzug. Sie ist groß, zweigeschossig und im spanischen Landhausstiel möbliert. Rechts von mir befindet sich die Rezeption und in der Mitte der Halle ein Springbrunnen. Das plätschernde Wasser machte jede Hintergrundmusik überflüssig. Auf dem hellen Steinboden mit den maurischen Intarsien spiegelt sich die Wassersäule. Im Hotelgarten sehe ich unterschiedliche Pools, umringt von Liegen, auf denen sich Hotelgäste mit bunten Badetüchern befinden. Die gelben Sonnenschirme bewegen sich leicht, wie die Palmenblätter, mit dem Wind. Am Horizont küsst der Himmel das Meer.

 

 

„Gut, dass der Abflug so früh war. Dadurch habe ich Zeit, den Nachmittag genießen zu können“, denke ich und bestelle mir an der Rezeption ein Taxi, um zum Hafen zu fahren. Mit der Sehnsucht nach der Hafenatmosphäre komme ich bald an und setze mich auf die Terrasse eines Cafes. Die Kellnerin reicht mir den heißen Caputschino. Direkt vor mir liegt der Hafen. Leicht bewegen sich die Segelboote in den Wellen. Über mir stoßen die Seemöven ihre spitzen Schreie aus. Mein Blick richtet sich auf eine weiße Jacht, die an der Kaimauer entlang langsam in die Marina einfährt. Meine rechte Hand gleitet in den neben mir stehenden Rucksack. Ein Reisebegleiter mit vielen Gebrauchsspuren. Das handliche Fernglas ertaste ich und sehe mir nun die in den Hafen einfahrende Jacht etwas genauer an.

 

 

Ihr Name ist Fortuna. Sie hat den Hilfsmotor eingeschaltet und tuckert langsam Richtung Steg. Jetzt kommt jemand aus der Kajüte auf das Deck. Deutlich sehe ich ihn. Er trägt eine weiße Hose, eine hellblaue Jacke und darunter ein weißes T- Schirt mit dunkelblauen Streifen. Die schwarzen langen Haare sind nach hinten gekämmt. Er setzt seine Kapitänsmütze mit den goldenen Streifen auf, bückt sich und wirft ein Tau auf den Steg. Nun bemerke ich auch die beiden anderen, wie Fischer gekleidete Männer auf dem Steg. Die Jacht wird vertäut. Alle drei gehen in die Kajüte, erscheinen aber gleich wieder in meinem Gesichtsfeld. Jeder Trägt eine große, schwarze Sporttasche. Während die beiden Fischer auf den Steg springen, stellt der Kapitän seine Tasche auf der Jacht ab. Er bückt sich, holt aus der Seitentasche einen Gegenstand und steckt ihn in seine Jackentasche. Er hat Ähnlichkeit mit einem Revolver. Das Geld für den Caputschino lege ich auf den Tisch, schlendere noch etwas durch die Marina und fahre anschließend mit einem Taxi zurück zum Hotel.

 

 

 

 

3

 

 

Spät am Abend gehe ich in die Hotelbar. Sie ist gut besucht. Vereinzelt gibt es noch einige freie Plätze. Ich bestelle ein Bier, der Kellner bringt mir eine Flasche San Miguel, gießt es in ein Glas und wendet sich den anderen Gästen zu. Gesprächsfetzen treffen mich aus unterschiedlichen Richtungen, vermischt mit leiser Musik. Lässig lehne ich mit dem Rücken an dem Bartresen, den Gästen zugewandt und lass den erlebten Tag gedanklich Revue passieren. Dann frage ich mich: „War das wirklich ein Revolver, den der Kapitän vorhin in seine Jackentasche steckte?“ Zum Kellner hinter dem Tresen zugewandt bestelle ich noch ein zweites Bier, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spüre.

 

 

„Perdone, ist der Platz neben ihnen noch frei?“

 

„Aber ja, bitte setzen sie sich doch.“ Der fremde Mann setzt sich auf den Barhocker und bestellt auch ein Bier. Ich mustere ihn. Er ist etwas über vierzig, hat ein gebräuntes Gesicht und lange, nach hinten gekämmte schwarze Haare. Seine Hose ist weiß, die Jacke hellblau und das T- Schirt weiß mit dunkelblauen Streifen. Auf der kleinen Brusttasche ist ein goldener Anker aufgenäht. Der Mann ist schlank und wirkt durchtrainiert.

 

 

„Meine grauen Zellen fangen an zu arbeiten. „Ist das der Mann, den ich heute auf der Jacht gesehen habe?“ Unauffällig betrachte ich seine Jackentasche. Sie ist nicht ausgebeult. Also ist er nicht bewaffnet. „Vielleicht ist er auch gar nicht dieser Kapitän?“ Aber meine Neugier lässt mich nicht in Ruhe.

 

 

„Buenas tardes“, sage ich zu ihm. „Darf ich ihnen eine Frage stellen?“

 

Aufmerksam prüfend sieht er mich an: „Por favor“, antwortet er mit einer rauen Stimme, leicht lächelnd.

 

 „Gracias. Ich möchte mir gerne für einen Tag ein Segelschiff mieten. Sicherlich kennen sie sich hier etwas aus. Können sie mir sagen, an wen ich mich deswegen wenden kann?“

 

„Haben Sie Segelerfahrung?“

 

„Ja. Letztes Jahr hatte ich mir auf Fuerteventura ein Segelschiff gemietet. Damit habe ich die ganze Insel umrundet“, log ich. Die Sache mit dem Segelschiff stimmt, aber ich hatte sie nicht umrundet.

 

Sein Blick wandert über die vor ihm sitzenden Gäste, um anschließend mich zu fixieren: „Einer meiner Freunde hat hier eine Jacht. Ich könnte ihn fragen, ob er sie für einen Tag vermieten möchte.“

 

„Das wäre sehr freundlich von ihnen, danke. Ich habe die Zimmernummer 601. Vielleicht können sie mich anrufen, nach dem sie ihren Freund gefragt haben?“

 

„Morgen Abend werde ich wieder hier in der Bar sein. Wenn sie auch hier sind, werde ich sie über seine Antwort informieren. Buenas noches“, sagt er, legt einen 10 € Schein auf den Tresen und wendet sich von mir ab, um zu gehen.

 

„Ich habe noch eine Frage. Wie ist der Name von diesem Schiff?“

 

Ohne sich umzudrehen murmelt er: „Fortuna“ und geht Richtung Ausgang.

 

„Fortuna!“, schießt es mir schlagartig durch den Kopf. „Er ist also doch der Kapitän von dieser Jacht. Aber warum…?“, mein Gedanke wird unterbrochen. Wieder spüre ich eine Hand auf meine Schulter. In Erwartung, den Kapitän wieder zu sehen drehe ich mich um und blicke in die braunen Augen einer jungen Frau mit blonden Haaren. Sie scheint in meinem Alter zu sein.

 

„Entschuldigung, ist der Platz hier noch frei?“, sagt sie mit einer freundlichen, angenehmen Stimme.

 

„Aber ja“, antworte ich lachend. „ Erst vorhin klopfte mir jemand auf die Schulter, um sich dann neben mich zu setzen. Meine Schulter scheint sympathische Menschen regelrecht anzuziehen.“ Obwohl ich eigentlich nach der langen Anreise müde bin, bestelle ich mir noch ein drittes Bier. Wieder bin ich neugierig auf eine Unterhaltung.

 

 

Auch sie bestellt sich ein Bier. Etwas unsicher frage ich sie: „Heute kam ich gerade an. Das ist hier mein erster Urlaubstag. Wenn sie schon länger hier sind, dann können sie mir vielleicht einige Tipps geben hinsichtlich Sehenswürdigkeiten?“

 

 

„Ich bin Maria, Maria Bellano“, antwortet sie leise. „Das ist auch mein erster Urlaubstag auf Lanzarote. Vorher war ich aus beruflichen Gründen auf Fuerteventura.“

 

„Mein Name ist Jens. Jens Lupa. Ihr Name klingt italienisch. Sind sie Italienerin?“

 

„Ja Jens. Aufgewachsen bin ich in Sizilien, aber ich lebe schon lange in Deutschland.“

 

Etwas überrascht, dass sie mich mit meinem Vornamen anredet erwidere ich: „Maria, was hast du beruflich auf Fuerte gemacht?“

 

Für eine Zeitung schrieb ich einen kleinen Artikel über die boat people.“

 

„Über die boat people?“

 

„Ja. Nun, wie soll ich es sagen? Auch die boat people haben bei ihrer Überfahrt von Westafrika nach Fuerte einen Meerblick, so wie wir hier. Den sie jedoch nicht genießen können. Die Reise mit einer kleinen Nussschale dauert zwei bis vier Tage. Die Nächte sind kalt, die Boote überladen und hohe Wellen schwappen in das Innere. Die Kleidung wird nass und die Leute frieren. Dieses Jahr kamen schon über 1.300 Flüchtlinge auf Fuerte an. Es werden auch Ertrunkene an die Strände gespült.

 

 

Diese kleinen Boote werden von den Spaniern „Pateras“ genannt. Vor einigen Jahren fuhren sie noch durch die Meerenge von Gibraltar. Als dann die Spanische Südspitze abgeschottet wurde, bekam die Küstenwache der Guardia Civil hier zusätzliche Arbeit. Besonders Anfang September, wenn die Passatwinde nicht so heftig wehen und das Meer ruhiger ist.“

 

 

Nach einer Pause erzählt sie weiter: „Seit das System „Sive“, das ist ein Überwachungssystem, installiert wurde, gibt es keine unentdeckte Ankünfte der Boote mehr…“

 

 

Ich unterbreche sie mit meiner Frage: „Wohin werden die boat people, die diese Insel erreichen gebracht?“

 

 

„Die aufgegriffenen, illegalen boat people werden zu einem ehemaligen Militärgefängnis gebracht. Es hat jetzt die Funktion als Auffanglager. Aber das besonders schlimme ist, dass manche Boote zu einer Stelle auf dem Meer, die 15 bis 25 Meilen südlich von Morro Jable liegt, treiben. Die Einheimischen  bezeichnen diese Bereich als „Point of no Return“. Die Boote werden dann durch die Strömung weit raus auf das offene Meer getrieben. Ich möchte nicht wissen, wie viele dort bei hohem Wellengang untergegangen sind. Viele der Leute können auch nicht schwimmen. Ist das nicht alles schrecklich?“

 

„Ja, das ganze ist wirklich schrecklich. Wir sind aber an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Durch die Ausbeutung der Rohstoffe in der Kolonialzeit wurde eine Monostruktur aufgebaut. Auch die Ländergrenzen wurden willkürlich gezogen. Sie orientieren sich nicht an dem Lebensbereich  ethnischer Gruppen. Dadurch entstehen noch zusätzliche politische Spannungen. Maria, ich denke…“

 

 

„Jens, ich unterbreche dich ungern. Bitte verzeihe mir, aber es ist schon fast Mitternacht. Mein Bett wartet auf mich. Sicherlich sehen wir uns noch öfters hier. Gerne können wir dann weiter darüber sprechen.“ Maria steht auf, um zu gehen.

 

 

„Gute Nacht, Maria.“

 

Sie sieht mich einige Sekunden mit Ihren braunen Augen an. Ihre Lippen scheinen zu beben.

 

„Gute Nacht, Jens. Treffen wir uns Morgen um acht Uhr beim Frühstück?“

 

„Gerne“, rufe ich ihr nach und bewege mich in Richtung Aufzug, zu meinem Bett. Unterwegs frage ich mich noch: „Wozu braucht ein Kapitän einen Revolver, wenn er alleine auf dem Atlantik unterwegs ist?“

 

 

 

 

4

 

 

Am nächsten Morgen, gleich nach dem, gemeinsamen Frühstück mit Maria entscheiden wir uns für eine Strandwanderung. Zu dieser frühen Uhrzeit ist der Strand fast menschenleer. Der kühle Wind kommt vom Meer. Das Plätschern der Brandung wirkt beruhigend. Die ersten Sonnenstrahlen treffen uns. Wir reden wenig. Maria bückt sich nach einigen weißen Muschelschalen und steckt sie in die Tasche. Plötzlich hebt sie ihren Arm und zeigt auf die Brandung: „Jens, was ist denn das? Da wird gerade ein Badetuch an den Strand gespült.“

 

„Wo denn?“

 

„Da vorne.“

 

Ich kann es nicht sehen. Schon hat sie die Sandalen ausgezogen, geht einige Meter in das seichte Wasser, hebt ein blaues, tropfendes Ding schwenkend hoch und ruft: „ Hier ist meine Beute. Ein Badetuch! Nein, es ist doch kein Badetuch. Es ist eine Jacke. Komm, wir hängen sie auf dem Balkon auf. Wenn sie trocken ist, dann kannst du sie tragen. Bestimmt passt sie dir.“

 

Später hängen wir die Jacke zum trocknen auf dem Balkon auf, als Maria sagt: „Ich ziehe mich jetzt zurück, da ich an meinem Artikeln weiter arbeiten möchte. Wenn du Lust hast, kannst du mich ja anrufen, aber nicht sofort. Ich wohne gleich unter dir, mit der Zimmernummer 501. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?“ Lachend verlässt sie das Zimmer.

 

 

Nachdem ich meine Badehose angezogen habe gehe ich zum Pool, lege mich auf eine schattige Liege und denke an Maria.

 

 

Erst am Nachmittag gehe ich wieder auf den Balkon, um mir die blaue Jacke etwas genauer anzusehen. Sie ist trocken, voller Falten und auf der kleinen Brusttasche befindet sich ein aufgenähter, goldener Anker. Sofort muss ich an den gestrigen Abend und den Kapitän denken. „Trug er nicht auch die gleiche Jacke? Ach ja, ich habe mit ihm heute Abend eine Verabredung. Fast habe ich das vergessen.“ Die Jacke probiere ich an. Sie passt wie angegossen. Nun werden die Taschen untersucht. Alle sind voller Sand. In der linken Brusttasche fühle ich etwas weiches und hartes. Ein Plastiksäckchen und ein Schlüssel erblicken das Tageslicht. Beides wandert in meine Hosentasche und die Jacke in die Hotelwäscherei.

 

 

Es klingelt an der Zimmertür. Maria steht vor mir. Sie sagt nur: „Und?“

 

„Und was?“

 

„Passt meine Beute dir?“

 

„Deine Beute ist mit den Taschen voller Sand in der Wäscherei. Ja, sie passt mir ausgezeichnet. Heute Abend werde ich sie tragen. Setze dich schon mal auf den Balkon, ich möchte dir etwas zeigen. Weist du, was in der Jackentasche war?“

 

„Sand.“

 

„Richtig. Kanarischer Sand. Aber nicht nur Sand, sondern auch…“, die Hand ist schon in der Hosentasche. Das durchsichtige Plastiksäckchen und den Schlüssel lege ich auf den Tisch. Maria nimmt beides in die Hand und betrachtet es aufmerksam. „Jens, siehst du das weiße Pulver in dem Säckchen? So etwas habe schon einmal gesehen. Ich bin mir sicher, dass das weiße Pulver da drin Rauschgift ist. Ich tippe auf Heroin. Auch die Schlüsselform kommt mir bekannt vor. Das ist ein Schlüssel zu einem Banktresor.“ Schweigend höre ich ihr zu. „ Auf dem Schlüssel ist ganz klein eingraviert: Banco Lanzarote und die Nummer 64916061.“ Noch immer schweige ich.

 

„Jens, wir werden Morgen zur Banco Lanzarote fahren und uns den Inhalt von dem Tresor ansehen. Einverstanden?

 

„Ja, das machen wir. Meinst Du, die Person, die die Jacke verloren hat ist ein Rauschgifthändler?“

 

„Morgen wissen wir mehr. Wir lassen uns einfach überraschen.“

 

 

Der Abend kommt so, wie die Vogelgrippe kommen sollte, wie im Fluge. Schon seit über einer Stunde sitze ich auf dem Barhocker in der Hotelbar und weder Maria, noch der Kapitän lassen sich blicken. Die neue, hellblaue Jacke trägt sich angenehm. Der Stoff ist sehr weich und leicht. Gerade will ich bezahlen um die Bar zu verlassen, da erscheint der Kapitän an der Tür. Suchend schweift sein Blick durch den Raum und bleibt auf mir haften. Seine Augen starren mich irritiert an. Langsam kommt er näher, setzt sich und sagt nur: „ Buenas tardes.“ Der Kellner fragt : „ Quiere tomar una copa?“ Er zeigt nur auf mein Bier und erhält auch eines.

 

 

„Salud“, sage ich und erhebe das volle Glas: „Konnten sie ihren Freund fragen, ob er das Boot vermieten möchte?“

 

Seine kleinen, bohrenden Augen sind immer noch auf mich gerichtet und passen nicht zu seinem Lächeln. „Sie haben eine schöne Jacke an. Mit diesem Stoff gibt es ganz wenige von dieser Sorte. Darf ich fragen, wo sie diese gekauft haben?“

 

„Das ist ein Geschenk von einem Freund“, log ich.“

 

„Solche Freunde hätte ich auch gerne. Wegen der Jacht muss ich Sie leider enttäuschen. Mein Freund ist bereit dazu, das Boot zu vermieten, aber er braucht es selber in den nächsten Tagen. Aus beruflichen Gründen.“

 

„Schade, dass es mit der Jacht nicht klappt. Aber so schlimm ist es auch nicht. Bestimmt kann mir jemand von Rezeption hier weiter helfen. Trotzdem, vielen Dank für ihre Mühe.“

 

„Aber ich bitte sie, ich helfe doch gerne wenn ich kann. Leider muss ich gleich wieder gehen. Ein Freund wartet auf mich. Adios.“

 

„Adios.“

 

Er geht aus und Maria in die Bar. „Hallo Jens, die Jacke steht dir wirklich gut. Schick siehst du mit ihr aus.“ Wir unterhalten uns lange und freundschaftlich bis späht in die Nacht. Als ich im Bett liege, wandern meine Gedanken zum Kapitän. „Irgendwie hatte ich vorhin das Gefühl, als ob er diese Jacke, oder deren Besitzer kennt. Wenn er den Besitzer kennen sollte, dann ist er sicherlich auch über den gefundenen Inhalt dieser Jacke informiert. Vielleicht hat er auch etwas mit Rauschgift zu tun? Das wäre eine Erklärung für die Pistole, die ich bei ihm gesehen habe.“ Eine traumlose Nacht wartet auf mich.

 

 

 

5

 

 

Gerade habe ich mein Frühstück beendet, da erscheint Maria. Zielgerichtet geht sie auf der Terrasse zum Buffet, kommt mit einer Tasse Tee und etwas Obst auf mich zu, setzt sich und sagt neckisch: „Was machen wir denn heute?“

 

„Nun, wir könnten …“

 

„Zum Strand gehen? Oder eine Inselrundfahrt buchen? Oder…“

 

„Oder mit einem U- Boot die Unterwasserwelt bewundern. Vorhin habe ich die Reklame über eine U- Bootfahrt mit großen Bullaugen gelesen. Du scheinst heute sehr unternehmungslustig zu sein.“

 

„Nun, wir könnten auch ein Taxi nehmen und zur Banco Lanzarote fahren. Bist du nicht neugierig zu erfahren, was…“

 

„Mensch, die Sache mit dem Schließfach hatte ich ganz vergessen. Klar, das machen wir. Trinke den Tee aus. Ich gehe schon mal zur Rezeption um ein Taxi zu bestellen.“

 

 

Wir warten in der Hotelvorfahrt. Nach wenigen Minuten kommt das Taxi. Die fahrt dauert nicht lange. Quietschend hält der Wagen vor der Bank. In der Eingangshalle summt eine Klimaanlage. Selbstsicher fragt Maria nach dem Tresorraum, den wir mit der Begleitung eines Bankangestellten betreten. Er verabschiedet sich von. Die Wände sind von unten bis oben mit silbernen Schließfächern verkleidet. Endlich sehen wir das Fach mit der Nummer 64916061. Der Schlüssel passt tatsächlich. Ich ziehe das Fach heraus, das eine Größe von 60 / 60 cm hat. Es ist 30 cm hoch und schwer. Gemeinsam stellen wir es auf einen Stahltisch, der mittig im Raum steht. Wortlos blicken wir auf den Inhalt. Zwei schwarze Ledertaschen und seitlich eingeklemmt ein Stapel Briefumschläge.

 

 

Zuerst öffne ich die erste Tasche, dann die zweite. Die erste ist voller 500 Euroscheine, alle gebündelt. Die zweite voller weißer, kleiner Päckchen.

 

Maria ergreift zuerst das Wort: „Wir packen alles in deinen und meinen Rucksack und sichten es erst im Hotelzimmer. Das Heroin lassen wir aber hier. Einverstanden?“

 

„Ich weiß nicht…ist das denn nicht Diebstahl?“

 

„Nein. Mein Eindruck ist der, dass die Sachen niemand mehr gehören. Meine Vermutung erzähle ich dir später.“

 

 

Im Hotel öffnen sich in der sechsten Etage die Teleskoptüren vom Aufzug. Ein Herr mit einer hellblauen Jacke betritt den dämmrigen Flur. Die schwarzen Haare sind nach hinten gekämmt. Leise geht er über den dunkelgrünen, weichen Teppich. Es ist so still wie in einer Grabkammer. Vor der Tür mit der Nummer 601 bleibt er stehen, holt etwas aus seiner Jackentasche und öffnet sie, betritt das Apartment, schließt hinter sich die Tür zu. Rechts von ihm befindet sich die Tür zum Badezimmer. Links stehen dunkelbraune, raumhohe Garderobenschränke mit Lamellentüren. Vor ihm liegt das Zimmer. Zielsicher, mit wenigen Handgriffen durchsucht er das Apartment. Enttäuscht wird die Lamellentür vom Garderobenschrank geöffnet. Nun betritt er den Schrank, zieht die Lamellentür so an sich, dass er noch durch einen Spalt nach außen sehen kann. Es ist niemand da, der sich über seine Handschuhe wundern könnte. Lautlos schraubt er den Schalldämpfer auf seine Mk XIX. Die Desert Eagle Mk XLX ist eine israelische Militärpistole, angefertigt für das Kaliber 44 Magnum. Noch nie hat sie ihn im Stich gelassen.

 

 

Die Zeit vergeht langsam. Seine Gedanken schweifen zu einer älteren Dame, die er nun vor sich sieht. Zufrieden betrachtet er sein Werk und das kleine Loch in der Stirn, aus dem helles Blut sickert und langsam auf die weiße Bluse tropft. Sie sitzt schräg, mit angewinkelten Beinen und offenen, starren  Augen in ihrem Sessel. Ihr Gesichtsausdruck ist immer noch angsterfüllt. Zufrieden und eiskalt lächelnd sieht er sie an. Dann fühlt er seinen Ring mit dem verborgenen Stahldraht an der linken Hand. In Gedanken lässt er die acht Männer und zwei Frauen Revue passieren, die er bisher mit dem Stahldraht erdrosselt hat. Seine Augen flackern dabei leicht.

 

 

 

6

 

 

Wieder hält das Taxi mit quietschenden Reifen, aber dieses mal vor der Hotelvorfahrt. Ungeduldig steigen wir aus, gehen durch die Eingangshalle zum Aufzug, fahren in die fünfte Etage und betreten Marias Zimmer 501.

 

 

„Warte bitte mit dem Auspacken“, sage ich zu Maria. „Ich habe einen großen Appetit auf Schokolade.“

 

„Jens, ich habe keine Schokolade bei mir.“

 

„Aber das macht doch nichts. Bei mir im Zimmer liegt noch eine. Ich hole sie schnell. Gleich bin ich wieder hier.“ Schon bin ich im Flur, dann vor meiner Tür, öffne sie und stehe vor dem Nachtisch. Sie liegt direkt vor mir. Mit der Schokolade gehe ich zurück zur Eingangstür. Die Lamellentür vom Garderobenschrank beachte ich nicht. Auch nicht den offenen Spalt, durch den sich langsam ein Schalldämpfer schiebt. Meine Gedanken sind bei den geheimnisvollen Ledertaschen.

 

Plötzlich zucke ich zusammen. Der Schreck rast mehrmals durch meinen Körper. Das unerwartete schrille Klingeln an der Tür hatte ich nicht erwartet. Die Tür wird von außen geöffnet. Eine fremde Frau steht vor mir. Überrascht starrt sie mich an. Zuerst reißt sie die Augen, dann ihren süßen Mund auf. Ein ohrenbetäubender, greller, lang gezogener Schrei schießt aus ihm. Ein Schrei, der wie eine Explosion durch das ganze Hotel zu rasen scheint. Ihr schockierender Schrei lähmt mich schlagartig. Sekundenlang stehen wir uns anstarrend gegenüber. Ihr Gesicht ist bleich und angstverzehrt. Ein grauenhafter, bestialischer Schatten spiegelt sich darin. Erst jetzt begreife ich, dass vor mir die Putzfrau steht. Lächelnd lege ich meine Hand auf ihre Schulter und küsse ihre Stirn. Mein Lächeln wird erwidert. Rennend erreiche ich den Aufzug.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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