Petra-Maria Kodshabaschew

Ölzweig und Schwert oder der Tod der Trojanerin

Ölzweig und Schwert                           

 

 

Die alte Frau starb und sie wusste es. Zwei Tage mochte es dauern, höchstens drei. Das war genügend Zeit, um ihr Leben zu überdenken. Am Fußende ihres Bettes stand die blutjunge Gemahlin ihres ältesten Sohnes und schluchzte jämmerlich. Ihr Gesicht war von verzweifeltem Weinen aufgequollen und die Augen hässlich gerötet. Aus dem schmerzlich verzogenen Mund drangen mitleiderregende Klagelaute. Obwohl Andromache übertriebene Gefühlsausbrüche unbehaglich waren, tadelte sie die Schwiegertochter nicht.  Sie wusste, dass Melissas Trauer echt war. - Wann hatten Melissa und Pyrrus geheiratet? War es vor sechs Wochen gewesen oder schon vor acht? - Wie sollte sie dem verängstigten Mädchen erklären, dass das Leben nun einmal mit dem Tode endete? Und aus welchem Grunde hätte sie es tun sollen? Glück war viel zu kostbar, um durch Trauer verkürzt zu werden. Sollte es die Kleine so lange wie möglich genießen.

 

Ihren eigenen Tod akzeptierte Andromache. Sie hatte ihn nicht gerade herbeigewünscht, lehnte sich aber auch nicht gegen ihn auf.  Ihr Leben hatte sich erfüllt. Es war ein schweres Leben gewesen, doch niemals war sie den Schwierigkeiten ausgewichen die sich vor ihr aufgetürmt hatten. Manchmal waren es Gebirge von Schwierigkeiten gewesen. Selbst mit Demütigung und Schande war sie fertig geworden.

 

Sie hatte zeitlebens als  bewunderungswürdig vernünftige Frau gegolten. Nach dem Tode ihres ersten, sehr geliebten Gemahls und dem Mord an ihrem gemeinsamen Kind, hatte sie allerdings sogar mit den Göttern gehadert. Danach war ihr nichts mehr wirklich wichtig gewesen. Darum war es ihr leicht gefallen vernünftig zu sein. Sie schickte Melissa hinaus. Pyrrus wartete sicher schon auf sie.

 

"Ich möchte ein wenig allein sein", sagte sie freundlich, als Melissa kurz zögerte und sie prüfend ansah.

 

Ihren beiden folgenden Männern war sie eine pflichtbewusste, treue Gemahlin und den Kindern dieser Verbindungen eine gute Mutter gewesen. Die drei Jungen vergötterten sie geradezu. Mehr hatte vernünftigerweise niemand von ihr fordern können.

 

Neoptolemos, ihr zweiter Gemahl, war der Bruder des Mannes gewesen, der fast ihre gesamte Familie ausgerottet hatte. Doch damit nicht genug. Auch er selbst hatte seine Hände  mit dem Blut ihrer Verwandten befleckt. Trotzdem hatte es ihn   allen Ernstes nach ihrer Liebe verlangt. Es mochte eine Strafe der Götter sein, dass er letztlich vor Eifersucht halb verrückt geworden war. Dabei  hatte er nicht einmal ganz Unrecht gehabt. Immer, wenn er seine Frau umarmte, hatte sie des Toten gedacht. Auch der Sohn, den sie ihm geboren hatte konnte nichts daran ändern.

 

Als man ihr das Kind zum ersten Male an die Brust gelegt und ihr den Namen genannt, den der Vater ihm gegeben hatte, flüsterte sie sofort den Namen eines anderen Kindes. "Astyanax!" Davon war es nicht weit gewesen zu dem Namen des Mannes, der ihr wahres Leben gewesen war. Hektor! Hektor und Astyanax! So viele Jahre waren vergangen. Trotzdem war ihr alles andere wie ein Alptraum vorgekommen.

 

Nein, sie bedauerte nicht, dass sie sterben würde. Es war an der Zeit!

 

 

Eine Sklavin trat an Andromaches Bett und verbeugte sich ehrerbietig. "Herrin?"

 

"Was willst du?" fragte Andromache barsch. Sie fühlte sich in ihren Gedanken gestört. "Ich will nichts hören!" Ärgerlich wie sie war, hielt sie es nicht einmal für nötig die Augen zu öffnen. Was, bei allen Göttern wollten sie von ihr? Konnte man sie nicht wenigstens in Ruhe sterben lassen? Frieden war das einzige, was sie noch interessierte.

 

"Der König möchte dich aufsuchen und bittet um die Erlaubnis eintreten zu dürfen", wisperte das Mädchen deutlich erschrocken. Die Dienerschaft war es nicht gewöhnt, von Andromache schroff behandelt zu werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Damen hatte sie nie vergessen, dass auch sie versklavt worden war und was sie als Sklavin hatte erleiden müssen. Neoptolemos hatte durchaus nicht sofort zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erhoben.

 

Sie bereute ihre Unfreundlichkeit auch sofort. Was konnte das arme Mädchen dafür, wenn Helenos ihr befohlen hatte? Die kleine Sklavin durfte sich nicht weigern.

 

Andromache hatte sich schon immer gewundert, wie gleichgültig Helenos gegenüber den Bediensteten auftrat, obwohl er doch die Sklaverei aus eigenem Erleben kannte.

 

"Was also hat dir mein Gemahl aufgetragen?" fragte sie diesmal mit sanfter Stimme.

 

Das Mädchen atmete erleichtert auf. "Er möchte dich unbedingt sprechen. Ich sollte nachsehen ob du schläfst und dich im gegebenen Fall wecken."

 

Das klang dringlich.

 

 

"Was wichtiges ist geschehen?" fragte Andromache während Helenos sich einen Schemel heranzog und neben das Bett

 

setzte.

 

"Wir haben hohen Besuch bekommen", erklärte Helenos. "Verwandtenbesuch!"

 

Andromache zog befremdet ihre edelgeformte Augenbrauen in die Höhe. Was sollte das? Es lebten ständig irgendwelche Gäste an ihrem kleinen Hof. Wer beunruhigte ihren Gemahl so sehr, dass er ihre Ruhe störte, er, der für gewöhnlich die Rücksicht in Person war.

 

"Sollte ich diese Besucher kennen?"

 

"Es ist Aeneas."

 

Für einen Moment fürchtete Andromache tatsächlich, ihr Herz würde stehen bleiben. Es gab keinen lebenden Menschen, den sie so sehr wie Aeneas hasste. Sie hasste ihn stärker als sie selbst Achill gehasst hatte, den Schlächter Achill, der Hektor erschlagen hatte, den einzigen Mann, den sie jemals geliebt und dem sie ihre Liebe über den Tod hinaus bewahrt hatte.

 

Achill war der Feind und jeder wusste es. Aeneas dagegen hatte sich als Freund ausgegeben. Sie hatte ihm vertraut und er hatte sie verraten. Doch kein Mensch wusste, wie sie über Aeneas dachte. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen.

 

Mühsam versuchte sie sich aufzusetzen. Es gelang ihr nicht, obwohl sie sich sehr anstrengte. Unaufgefordert eilte die kleine Sklavin herbei und schob der Kranken mehrere Kissen unter den Rücken.

 

Die Herrin sollte aufrecht sitzen können. Diese Aufmerksamkeit brachte ihr einen dankbaren Blick Andromaches ein und beseligt rannte die Kleine davon, denn Helenos hatte ihr mit einem Wink angedeutet, dass er mit seiner Gemahlin allein zu sein wünschte.

 

"Aeneas ist also gekommen", stellte Andromache mit merkwürdig farblos klingender Stimme fest.

 

Helenos nickte,  es gab nichts weiter zu sagen.

 

"Und was will er?"

 

"Unsere jungen Männer!"

 

Helenos Auskunft barg für Andromache keine sonderliche Überraschung. Sie waren keines der mächtigen Großreiche, die zu besuchen ein Akt der Höflichkeit und vor allem der Vorsicht war. Die jungen Krieger ihres kleinen Heeres waren jedoch von Veteranen aus der Schule des Hektor und des Achill ausgebildet worden und das waren die besten Kämpfer der bekannten Welt.

 

Ob Aeneas um die Myrmidonen oder die jungen Trojaner warb, würde nie ein Mensch erfahren. Wahrscheinlich würde er das sogar dem Gott verschweigen, dem er fromm die großen Erfolge zuschrieb, die er zweifellos aufzuweisen hatte.

 

"Wirst du sie ihm geben?" erkundigte sich Andromache rebellisch. Die Nachricht über das Eintreffen des Aeneas hatte ihrer Lebenskraft vorübergehend wieder etwas Auftrieb gegeben.

 

"Ich?" fragte Helenos entrüstet. "Als wäre es jemals nur nach mir gegangen! Er verhandelt mit dem Kronrat Und dieser  will sich allein nach deiner Entscheidung richten. Du wirst das letzte Wort sprechen."

 

"Ich werden sterben, Helenos", sagte Andromache sanft. "Vielleicht dauert es noch einige wenige Tage, es könnten aber auch nur noch Stunden sein."

 

"Ich weiß!" Helenos nahm eine Hand seiner todkranken Frau und schmiegte eine Wange hinein. "Ich habe immer gewusst, dass du mich nicht liebst, zumindest nicht viel anders als einen Bruder. Für Dich hat es immer nur Hektor gegeben, zu seinen Lebzeiten und erst recht nach seinem Tode. Ich dagegen habe dich geliebt wie ein Mann seine Frau nur lieben kann, wahrscheinlich stärker als Hektor dich je liebte."

 

Andromache nickte traurig. "Er besaß ein gewaltiges und reiches Herz, dessen größter Teil bestimmt mir und unserem Kinde gehörte. Es gab darin jedoch noch genug Platz für die Liebe zu seinen Eltern und Geschwistern. Er liebte seine Freunde ebenso sehr, wie die schmutzigen Bengel, die Trojas Straßen unsicher machten." Ihre Stimme überschlug sich vor Zorn.  "Er hat die ganze verdammte Stadt geliebt und sich für sie verantwortlich gefühlt. Sonst wäre er mit mir und dem Kind zu den Hethitern geflohen."

 

Helenos streichelte ihre abgezehrten Wangen. Sie w i l l sterben, dachte er bedrückt.

 

 

Mittels einiger stabiler Stangen wurde Andromaches Bett in eine offene Sänfte verwandelt und von acht ausgesucht kräftigen Sklaven getragen. Dabei wog Andromache selbst fast nichts. Es war das Bett, was dieses Aufgebot an Trägern nötig machte und die es in den Audienzsaal schleppten, denn soweit, die Fremden in ein Frauengemach zu führen ging die Toleranz nun auch wieder nicht. Dabei war Andromache keine x-beliebige Frau. Als Hektors Witwe war sie eine Institution. Dass sie jetzt mit Helenos vermählt war spielte nur eine untergeordnete Rolle.

 

 

Bestürzt starrte Aeneas auf die Bahre, die hereingetragen und auf einem prächtig verzierten  Podest abgestellt wurde, als sollte der Machtanspruch, der darauf ruhenden Frau unterstrichen werden.

 

Er fasste es nicht. Diese alte Frau dort, die in den letzten Zügen zu liegen schien, sollte Andromache sein, Hektors bezaubernde Andromache die viele Leute für schöner als selbst Helena gehalten hatten?

 

Sie war um viele Jahre jünger gewesen als er selbst und er fühlte sich keineswegs schon als alter Mann. - Doch was ging ihn das vorzeitige Altern der ehemaligen Schwägerin an? Er brauchte ihr Einverständnis zu seinen Plänen, weil dieser merkwürdige Kronrat darauf bestand, dass sie entscheiden sollte. Und er würde es bekommen! Der Sympathie Andromaches glaubte er sicher sein zu dürfen. Schließlich war er der beste Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen.

 

Aeneas verneigte sich weltmännisch. Er wollte die alte Frau beeindrucken.

 

In seiner Jugend, der Krieg war noch nicht ausgebrochen gewesen, hatte Aeneas sich nach der Welt gesehnt. Inzwischen war sein Wunsch in Erfüllung gegangen und er hatte nicht wenig davon gesehen. Er berichtete gern von seinen Abenteuern und er war ein guter Erzähler. Nur über Karthago sprach er nicht. Der Selbstmord der Königin Dido hatte ihm schon manches Mal geschadet, besonders wenn Frauen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte ausübten. Andromache wurde eindeutig als Königin betrachtet. Er erkannte es an der Ehrfurcht, die auf allen Gesichtern lag.

 

Zum Glück brauchte er nicht zu befürchten, dass die Leute in diesem Kaff erfahren hatten, was im fernen Karthago geschehen war.

 

Leider hatte er die Schnelligkeit unterschätzt, mit welcher Klatsch sich auszubreiten pflegte und beinahe jedes Dorf erreichte, besonders wenn es sich um eine tragische Liebesgeschichte handelte.

 

"Arme Dido!“, sagte Andromache nur. "So schnell vergessen."

 

Aeneas' Gesicht lief knallrot an. Da stand er, ein kräftiger Mann in der Blüte seiner Jahre, mutig und von hohem Selbstbewußtsein. In diesem Moment wirkte er jedoch ausgesprochen beschämt und war sprachlos. Mit nur wenigen Worten hatte ihn Andromache von seinem hohen Ross heruntergeholt.

 

Zwar kannte er die Gerüchte, die über ihn und Dido verbreitet wurden und in der Hauptsache entsprachen sie sogar der Wahrheit, aber noch niemand hatte es bisher gewagt ihn damit zu konfrontieren. Wenigstens nicht vor den Augen der Öffentlichkeit.

 

Mit leicht geöffnetem Mund starrte er Andromache ein wenig töricht an. Er mochte nicht glauben, wozu das sanfte, nachgiebige Geschöpf sich entwickelt hatte.

 

Andromache gab ihm Zeit sich zu sammeln und ließ es bei der einen Bemerkung bewenden. Sowie er sich gefasst hatte, kam er auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen, bei dem es sich selbstverständlich um eine diplomatische Mission und nicht um einen harmlosen Verwandtenbesuch handelte. Aeneas gab sich nicht mit Belanglosigkeiten ab. Er war die personifizierte Berechnung.

 

Gerade hielt er seine seit langem vorbereitete Rede. Er sprach davon, dass sie schließlich alle Trojaner seien, was ihm das entrüstete Grunzen eines myrmidonischen Veteranen einbrachte, der rechts hinter Helenos stand. Doch Aeneas zeigte sich der Situation gewachsen. Er sprach von Traditionen, die beide Völker miteinander verband und wie gemeinsam erlittenes Unrecht sie zusammengeschmiedet habe.

 

Seine Worte waren nicht unklug gewählt, denn Myrmidonen und Trojaner lebten in Helenos kleinem Reich in Zweckgemeinschaft nebeneinander. Da die Kinder beiderlei Geschlechts miteinander ausgebildet wurden, war man in den letzten Jahren immer enger zusammengerückt und durch gegenseitige Heiraten war aus dem Nebeneinander allmählich ein Miteinander geworden.

 

 

Aeneas sprach lange. Er erzählte von einem großen schönen Land, das nur darauf warte, von ihnen in Besitz genommen zu werden.  Ein Teil der dort ansässigen Bevölkerung wollte sie sogar willkommen heißen und sich mit ihnen verbünden. Er lächelte ein strahlendes und wie er glaubte unwiderstehliches Lächeln.

 

"Und der andere Teil?" schnappte Andromache.

 

Er breitete bedauernd seine Arme aus. "Das ist nun einmal der Lauf der Welt", verkündete er. "Es hat immer Kriege gegeben und wird sie weiterhin geben."

 

"Ich bin anderer Meinung", erwiderte Andromache mit verschlossener Miene.

 

Er lächelte herablassend. "Du bist eine Frau und besitzt ein empfindsames Herz. Darum solltest du dich nicht mit  Dingen des Krieges belasten." Er wandte sich Helenos zu. "Du dürftest deiner Gemahlin nicht gar zu großen Einfluss einräumen."

 

Helenos' Gesicht blieb ruhig. "Betrachte sie als Hektors Witwe!"

 

"Trotzdem ist es nicht recht, dass sie sich in Aufgaben der Männer mischt", wehrte Aeneas ungeduldig ab. Die Feindseligkeit, die Andromache ausstrahlte beunruhigte ihn. Er witterte Gefahr für seine Mission.

 

"Ich habe mich an den Kronrat gewandt, nicht an irgendeines Mannes Frau oder Witwe."

 

 "Dennoch wird das Urteil der Herrin Andromache ausschlaggebend für uns sein", erklärte der ältere Myrmidone hinter Helenos.

 

"Euer Kronrat will sich tatsächlich nach ihr richten?" fragte Aeneas verwirrt. "Nach einer Frau?"

 

"Sie hat uns die längste Friedensperiode geschenkt, an welche die Menschen hier sich erinnern können", lobte Helenos seine Gemahlin herausfordernd. Er betrachtete den Besucher mit Abneigung. Obwohl er ihn schon sein Leben lang kannte, wurde ihm erst jetzt bewußt, daß er den Bastard des Anchiches nie richtig hatte leiden können.

 

"Wie könnt ihr nur?" Aeneas kreischte beinahe. "Es ist für jeden Mann eine Schande, auf die Worte einer Frau zu achten."

 

"Es ist vernünftig, wenn es sich um eine kluge Frau handelt." Ein anderer der Myrmidonen grinst unverhohlen. Was maßte der unverschämte Mensch sich eigentlich an, der nicht einmal ein richtiger Trojaner war?  Das hätte ihm noch gefehlt, diesem Mann das Leben seines Sohnes anzuvertrauen. Traurig und voller Sorge betrachtete er die sterbende Andromache. Es würde schwer werden ohne sie. Helenos war kein schlechter Herrscher, aber er besaß nicht ihre Autorität.

 

 

"Bekomme ich meine Hilfstruppen oder nicht?" fragte Aeneas knapp, sich  demonstrativ von Andromache abwendend.

 

Diese Formulierung erwies sich als Fehler. Jedermann wusste, wie mit Hilfstruppen für gewöhnlich umgegangen wurde. Man schickte sie zuerst in die Schlacht und ließ sie bei Gefahr auch zuerst im Stich.

 

Aeneas' Blicke begegneten nur noch ablehnenden Gesichtern.

 

"Wir wollen unser friedliches Leben nicht aufgeben", sagte Andromache  kurz. 

 

"Aber darum geht es doch", fiel er ihr eifrig ins Wort. "Um wirklichen Frieden und eine neue Heimat."

 

Er schöpfte neue Hoffnung. Doch ein einziges Wort Andromaches zerstörte seine Träume.

 

"Nein!"

 

"Warum denn nur nicht?" bedrängte Aeneas sie. "Mein Vorschlag ist so einleuchtend."

 

Doch sie erlag der Verführung in seiner Stimme nicht. Sie hatte in ihrem Leben zu viele Männer kennen gelernt, die in ihrer linken Hand den Ölzweig und in ihrer rechten das Schwert gehalten hatten. Was nun Aeneas betraf, so versuchte sie gar nicht erst, sich ihm zu erklären. Sie richtete sich nicht einmal auf, als sie ihm die verlangte Antwort erteilte. Ihre Worte erfüllten jedoch laut und deutlich den Raum. Jeder konnte hören, was sie zu verkünden hatte. "Ich vertraue dir nicht", sagte sie voll Hass.

 

 

Bestürzt wich Aeneas zwei Schritte zurück. Das hat ihm noch kein Mensch vorzuwerfen gewagt. Er hatte allerdings auch keine Mühe gescheut, den Völkern der Welt von sich das Bild des edlen, selbstlosen und unfehlbaren Lieblings der Götter zu malen. Nun wagte es diese Frau, sein Ansehen in Frage zu stellen. Wie sollte er ihrer offensichtlichen Abneigung begegnen? Selbstverständlich würde er es versuchen. Doch er machte sich keine Illusionen. Sie würde es ihm schwer machen.

 

"Ich war Hektors Freund und bin ihm treu geblieben", verteidigte er sich.

 

Andromache nickte. "So lange er lebte warst du ihm treu. Das will ich nicht bestreiten. Leider endete deine Treue in der Stunde seines Todes."

 

Aeneas spürte den forschenden Blick seines Sohnes, der einen halben Schritt hinter ihm stand, auf sich gerichtet. Ein unangenehmes Kribbeln versteifte seinen Nacken. Es drängte ihn, sich umzudrehen und Askanios zu beruhigen. Sein Instinkt warnte ihn jedoch diesem Gefühl der Schwäche nachzugeben. Der Junge liebte ihn sehr und vertraute ihm blind. Aber blindes Vertrauen ist zerbrechlich.

 

"Mein Vater ist kein Verräter", meldete sich eine bebende Jünglingsstimme zu Wort. "Du musst deine Beschuldigung zurücknehmen."

 

"Du bist also Askanios", entgegnete Andromache gelassen. "Ist dir bewusst, dass ich dich auf meinen Knien reiten ließ, als du noch klein warst?"

 

Doch Askanios ließ sich nicht ablenken, obwohl er sofort an seinen jüngeren Vetter Astyanax dachte. Er war verärgert und nicht leicht zu versöhnen.

 

"Es ist schön, wie du deinen Vater verteidigst." Sie ließ sich nun doch in den Kissen aufrichten, obwohl jede Bewegung sie schmerzte. "Trotzdem solltest du ihn fragen, was aus deiner Mutter geworden ist.

 

“Die Götter haben sie zu sich entrückt", sagte der Junge fest. Aeneas hatte gute Arbeit geleistet. Jedes Wort seines Vaters war Askanios heilig.

 

"Warum sollten sie?" mischte Helenos sich nun ein. "Sie war eine Frau ohne Bedeutung. Was hätten die Götter mit ihr anfangen sollen? Die sie nichts weiter war als ein liebenswertes hübsches Mädchen, wenn auch vielleicht ein wenig zu kapriziös."

 

"Was mischst du dich in unsere Unterhaltung?" fragte der junge Mann hochmütig zurück. Es war ihm egal, dass Helenos der König des Landes war, in dem sie zu Gast weilten. "Was kannst du schon von meiner Mutter wissen?"

 

"Sie war immerhin meine Schwester", flüsterte der König. Tiefe Trauer erfüllte ihn. "Und ich habe sie sterben sehen. Glaube mir, die Götter hatten damit nichts zu tun. Ein Rudel brünstiger Achaier war über sie hergefallen und hatte sie vergewaltigt.  D a r a n  ist unsere Kreusa gestorben."

 

Aeneas war betroffen, wenn er auch bemüht war sich nichts anmerken zu lassen. Gewiss, er hatte Kreusa längst nicht mehr geliebt, aber einen solchen Tod hatte er ihr nicht gewünscht. Er hatte nur die bequemste Lösung gewählt und nicht weiter über ihr Schicksal nachgedacht.

 

Für Askanios dagegen war es schwer. Kreusa war seine Mutter und was der König ihm erzählte erschüttert ihn bis ins Herz.  Zu seiner eigenen Verwunderung bezweifelte er die Worte des Oheims nicht, auch wenn es weit bequemer gewesen war dem Märchen zu glauben, das man ihm sein Leben lang erzählt hatte.

 

Andromache fühlte Mitleid mit dem Jüngling. Sie konnte ihm jedoch die Wahrheit über seinen Vater nicht ersparen, wie grausam diese auch sein mochte. Sie wollte es auch nicht. Er hatte es in jedem Falle besser getroffen, als ihr eigenes Söhnchen, das in die Hände der Sieger gefallen war, die es ohne Erbarmen erschlagen hatten. Askanios lebte wenigstens, aber ihr Astyanax war tot.

 

Sie fühlte noch immer das zarte Körperchen, die weichen Locken und die molligen Ärmchen, die er nicht von ihrem Halse hatte lösen wollen.  Am schlimmsten war es gewesen, die entsetzliche Angst in den wachen Kinderaugen sehen zu müssen. Noch heute fragte sie sich manchmal, ob er wohl geahnt hatte, was ihm angetan werden sollte. Dann hatten sie ihn ihr entrissen, den gefährlichsten Feind der Griechen, Astyanax, Sohn des Hektor, drei Jahre alt.

 

Sie sah Aeneas mit kaltem Hass ins Gesicht. "Warum hast du uns Frauen zum skäischen Tor geschickt?"

 

"Ich glaubte, dort seien die Aussichten für eine erfolgreiche Flucht am aussichtsreichsten", behauptete er unbewegt, als ginge ihn das Ganze nichts an. Er vermied es jedoch, ihr in die Augen zu sehen.

 

"Und deshalb hast du Troja dann mit deinen Leuten durchs entgegengesetzte  Stadttor verlassen?" Sie wartete seine Antwort nicht ab, wandte sich nun jedoch ausschließlich an Askanios. "Die Achaier hatten die Stadt vom Skäischen Tor aus eingenommen. Wir sind ihnen direkt in die Arme gelaufen, deine Mutter Kreusa, die kleine Polyxena und ich mit dem Kind." Andromache weinte nun.

 

"Dein Vater hat Troja durchaus nicht so tapfer verteidigt, wie er später überall verkünden ließ", schaltete Helenos sich ein. "Stattdessen zog es ihn zu unseren letzten Schiffen. Mit einer Schar Krieger, unter denen sich in der Hauptsache Dardaner befanden, ergriff er die Flucht, als in der brennenden Stadt noch überall gekämpft wurde. Sie führten nur ein einziges Kind mit sich. Dich!"

 

"Sag', dass sie sich irren." Askanios flehte mit bangem Herzen, der Vater möchte sich von einer solchen Schuld entlasten. Doch ungeachtet seiner sonstigen Wortgewandtheit blieb Aeneas diesmal stumm. Er brachte es nicht fertig, dem Sohn mitten ins Gesicht zu lügen. In diesem Moment entschied Askanios, dass die kranke Frau und der König, der zudem sein Oheim mütterlicherseits war, die Wahrheit gesprochen hatten. 

 

"Du konntest keine Nachkommen des Priamos oder gar Hektors Sohn gebrauchen und hast sie deshalb in ihr Unglück rennen lassen die Frauen und Kinder.“

 

"Versteh doch Sohn! Das war nichts Persönliches, nur Politik."

 

Jedoch Askanios wollte ihm nicht verzeihen. Er hatte nicht nur seine Mutter, sondern auch den Winzling Astyanax lieb gehabt, der ihm wie ein kleiner Bruder gewesen war.

 

 

Irgendwann wird er schon begreifen, dass die Welt nicht aus rosa Zuckerwerk geformt ist. Dachte Aeneas, als er die Ablehnung auf Askanios' Gesicht las, eine Ablehnung, die sich auf den Gesichtern fast aller Anwesenden widerspiegelte. Auch Andromache sollte es besser wissen. Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass die Griechen Astyanax töten würden. Ein so kleines Kind! Es hatte ihm wirklich leid getan, als er davon erfuhr. Trotzdem war sein Ehrgeiz größer als sein Mitgefühl gewesen, denn auch wenn er sicher gewusst hätte, was geschehen würde, an seiner Entscheidung hätte es nichts geändert.

 

"Das alles ist schon lange her", tat er die Vorwürfe gleichgültig ab. "Deshalb solltet ihr euch meinen Vorschlag noch einmal gut überlegen. Es gilt eine Welt zu erobern. Mit einem starken Heer kann jedes Reich erobert werden." Die letzte Bemerkung klang beinahe wie eine Drohung. "Ich werde in zwei Tagen nachfragen."

 

"Auch in zwei Tagen wird es allein Andromaches Entscheidung sein."

 

"Dann sollte sie ihre Entscheidung überprüfen."

 

Eine Antwort erhielt er nicht.

 

Mit geschlossenen Augen ließ Andromache sich völlig erschöpft in die Kissen zurücksinken. Der Schwager vermochte ihr weder angst einzujagen, noch sie zu erpressen. Seine Worte erreichten sie nicht mehr.

 

 

Sie sah sich selbst in einem wunderschönen Garten, in dem duftende Blumen und seltene Pflanzen wuchsen. In der Ferne leuchtete die mit Mosaiken verzierte Mauer eines hübschen Palastes. Doch sie hatte nur Augen für den kleinen Jungen, der ihr auf dem, mit verschiedenfarbigem Kies bestreuten Weg entgegen rannte. Er hatte kurze braune Locken und strahlte über das ganze Gesicht. "Mama!" rief er glücklich und ließ seinen Goldenen Ball achtlos zu Boden fallen. Andromache sank in die Knie und umarmte zärtlich den warmen weichen Körper des Kindes.

 

Über seine runden Schultern hinweg erblickte sie dann endlich auch den Mann, auf den sie so lange gewartet hatte, obwohl er immer in ihrem Herzen gewesen war. Kräftig ausschreitend kam er auf sie zu. Er trug eines seiner weiten, seidenen Gewänder, die in den herrlichsten Farben schillerten. Seine Handgelenke und Oberarme schmückten kunstvoll gearbeitete Reifen und Spangen. Er ging barfuss. Auch die Hände waren nackt.

 

Andromache willkommenheißend breitete er weit die Arme aus. Im Sonnenlicht glänzte der Goldstaub auf seinem Haar hell und die lose in seine Locken eingeflochtenen Rubine glänzten nicht weniger. Schon immer hatte sie sich ein wenig über seine Eitelkeit amüsiert. Auf seinem Gesicht leuchtete das ihr altvertraute Lächeln liebevoll und von einem Zauber erfüllt, wie ihn kein anderer Mann besaß. Ihr Herz flog ihm entgegen, als hätte es die Jahre der Trennung nie gegeben. Das war auch nicht wichtig. Es  zählte nur, daß sie wieder beisammen waren.

 

Eines allerdings war ungewöhnlich. Er trug nicht eine einzige Waffe bei sich, nicht einmal einen Dolch. Doch das focht sie nicht an. Wozu auch Waffen? Nichts konnte sie weiterhin bedrohen. In den Armen des Geliebten hatte Andromache endlich ihren Frieden gefunden.

 

"Wir haben lange auf dich gewartet, unser Sohn und ich", sagte Hektor. "Aber jetzt bist du ja gekommen.“ Seine Bemerkung war kein Tadel, sondern nichts als die Wahrheit.

 

Ihr Erleben seit dem Tode des Kindes wurde immer unwirklicher, bis sie die Erinnerung schließlich völlig verlor.  Es schien ihr, als habe sie nur auf diesen einen Moment gewartet.

 

"Oh Hektor, wie sehr ich dich doch liebe", sagte Andromache als sie starb und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen

 

 

21.664 Zeichen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Petra-Maria Kodshabaschew).
Der Beitrag wurde von Petra-Maria Kodshabaschew auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.04.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Petra-Maria Kodshabaschew als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Philosophisch gedacht - Philosophisches Gedicht: Eine poetisch philosophische Gedankenreise von Maik Schülken



Der Gedichtband Philosophisch Gedacht - Philosophisches Gedicht von Maik Schülken entführt Sie auf eine poetisch philosophische Gedankenreise.

Poesie trifft Philosophie, Psychologie und Idiotie ;-)

32 Lieblingsgedichte aus unterschiedlichen kreativen Schaffensphasen.
Ein ideales Geschenk für Menschen, die sich mit dem menschlichen Miteinander und der menschlichen Selbstreflektion beschäftigen. Ebenso ein tolles Präsent für Sinn- und Glückssucher.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Historie" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Petra-Maria Kodshabaschew

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ausrangiert von Petra-Maria Kodshabaschew (Parabeln)
Der Tod des Templers von Claudia Laschinski (Historie)
"Strg+Alt+Entf" von Johannes Schlögl (Science-Fiction)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen