Karin Ernst

Menschen im Bus

Zu meinen Besorgungen fahre ich meistens mit dem Bus. Gerne beobachte ich während der Fahrt mitfahrende Menschen. Woher kommen sie? Wohin fahren sie? Alles Unbekannte, alle haben ihr Leben....

Die alte Frau dort hinten. Mit Falten im Gesicht, die von einem langen Leben erzählen. Lebt sie allein, jetzt, in ihrer Wohnung? Vielleicht ist sie Witwe. Hoffentlich hat sie Kontakte, auch zu anderen Menschen. Vielleicht sind ihre Kinder und Enkel weit weg. Mag sie jetzt träumen von ihnen. Vielleicht hat sie nur wenige Bekannte. Traut sich nicht, Neues zu wagen. Gehört vielleicht zu denen, die krank geworden sind. Viel zum Arzt gehen. Dort finden sich im Wartezimmer Gesprächsmöglichkeiten, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich gönne es ihr. Möge sie manch freundliches Wort hören. Heute.

Die junge Mutter mit dem Kinderwagen. Sie macht ein sorgenvolles Gesicht. Eigentlich könnte sie sich freuen über ihr kleines Kindchen. Ich schaue genauer hin. Es ist noch klein, das Kind. Aber ein kleines Mongo. Jedenfalls höre ich zwei Jungen sich darüber unterhalten. Sie benutzen dieses Wort. Vielleicht hat die Mutter es gehört. Vielleicht wollten die Jungen, daß sie es versteht. Es klang abfällig. Ich sehe mir das Kind an. Lächle ihm zu. Das Down-Syndrom ist unverkennbar. Aber es strampelt und freut sich, als ich schaue. Will erzählen. Die Augen der Mutter treffen sich mit meinen. Ich lächle ihr zu, als wolle ich sagen: Du schaffst das schon. Laß dich von den dummen Jungen nicht beirren. Dein Kind wird seinen Weg gehen. Heute hat es viele Möglichkeiten. Und du wirst ihm dabei helfen.

Ein Mann in feinem Zwirn hält seinen Aktenkoffer auf dem Schoß. Holt ein Handy heraus, will telefonieren. Sicherlich mit seinem Büro. Jetzt packt er sein Laptop aus, fängt an zu tippen. Er gehört wahrscheinlich zu den Menschen, die nur an ihre Karriere denken. Immer und allzeit einsatzbereit sind. Er könnte die Zeit der Busfahrt auch nutzen, um zu entspannen. Oder aus dem Fenster zu sehen. Zu erkennen, daß es noch ein anderes Leben gibt. Außerhalb des Büros.

Ganz vorne sitzt ein Ehepaar. Beide sind schwarz gekleidet. Die Frau trägt einen Blumenstrauß. Beide sehen traurig aus. Möglicherweise fahren sie zu einer Beerdigung. Hoffentlich nicht zu der ihres eigenen Kindes. Dann wären sie aber sicherlich von anderen Verwandten mitgenommen worden. Also vermute ich, daß es sich um eine Nachbarin oder einen Nachbarn handelt, die oder der gestorben ist. Sie wollen ihr oder ihm das letzte Geleit geben.

Oft genug lese ich, daß Menschen sterben, die allein gelebt haben. Keine Verwandten, keine Bekannten. Nur Nachbarn. Traurig werde ich bei der Vorstellung, selbst eines Tages so allein zu sein. Hoffentlich habe ich dann nette Nachbarn, mit denen ich mich gut verstehe. Die werden dann zu meiner Beerdigung kommen. So werde ich wenigstens einen Blumenstrauß bekommen, zum Abschied.

Kurz hinter mir sitzt eine junge Frau. Sie trägt ein Kopftuch. An der übrigen Kleidung ist zu erkennen, daß sie keine Muslimin ist. Sehr blaß sieht sie aus, hat starke Augenränder. Ihr Kopftusch verrutscht ein wenig. Ich erschrecke kurz, denn sie hat keine Haare. Sicher hat sie eine schwere Krankheit, vielleicht Krebs. Zu der Behandlung kann auch Chemotherapie gehören. Des öfteren las ich, daß durch eine solche den Patienten die Haare ausfallen. Vielleicht fährt sie jetzt zu einer weiteren Behandlung ins Krankenhaus. Muß leiden für einen Tag, oder mehrere Stunden. Warum fährt sie allein? Sie ist höchstens 16 - 18 Jahre alt. Hat sie keine Eltern, die sie begleiten können? Oder einen Freund, eine Freundin? Fast muß ich schlucken, so traurig werde ich bei der Vorstellung, wie sie ganz allein auf einer Behandlungsliege liegen wird. Innerlich wünsche ich ihr von ganzem Herzen, daß sie wieder gesund wird. So jung, wie sie noch ist.

In einer Ecke sitzt eine weitere junge Frau. Auch sie sieht nicht gut aus. Ausgemergelt, unsauber, verfilzte Haare. An ihren kurzen Ärmeln kann ich erkennen, daß sie stark vernarbte Arme hat. Sie zittert stark und sieht mit starrem Blick geradeaus. Vielleicht ist sie eine Obdachlose. Muß versuchen, Geld zu verdienen für ihren nächsten Schuß Rauschgift. Dieses Gift hat sie vielleicht noch nicht. Weiß nicht, wie sie es beschaffen kann. Für den Moment.
Sicherlich ist mein Gedanke nicht richtig. Meistens möchte ich eher helfen, wenn ich Elend sehe. In diesem Falle aber drehe ich den Kopf weg, denke nur: Armes Luder. Auch ihr wünsche ich ein besseres Leben, das sie hoffentlich hatte. Früher.

Zu meiner Freude sitzt auf einem anderen Platz eine Frau mit einem kleinem Mädchen. Das Mädchen hält ein Püppchen ganz fest im Arm. Die Puppe trägt einen Verband am Arm. Mutter und Kind sehen ernst aus. Ich stelle mir vor, daß das Kind der Mutter erzählt hat, Püppchen sei gefallen. Es hat einen kaputten Arm. Mutter hat den Arm verbunden und versprochen, zum Puppendoktor zu fahren. In unserer Stadt gibt es eine Puppenklinik. Vielleicht sind beide auf dem Wege dorthin. Das würde mich freuen, hätte doch die Mutter für dieses, ihr Kind, Verständnis. Das ist heute nicht selbstverständlich. Daß sich eine Mutter Zeit nimmt für etwas “Unwichtiges“.

Ein Musiker fährt ebenfalls mit dem Bus. Er trägt ein Instrument. Ich denke, es könnte ein Blasinstrument sein, vielleicht eine Klarinette. Er summt leise vor sich. Vielleicht fährt er zur Orchesterprobe, stellt sich gedanklich das zu spielende Werk noch einmal vor. Er sieht glücklich aus. Oder zufrieden. Oft beobachte ich, daß Menschen, die musizieren, glücklich aussehen. Ob sie singen oder ein Instrument spielen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie froh Musik machen kann. Auch wenn ich selber kein Instrument spiele, nur ein wenig Mundharmonika. Ich wünsche mir innerlich, er möge Mozart spielen. Vielleicht mein Lieblingsstück, das Klarinettenkonzert. Innerlich summe ich mit.

Vorne im Bus, auf dem Kinderwagenplatz, steht ein Mann mit einem Tiertransportkorb. Darin sitzt ein Kätzchen. Sicher ist dieses Kätzchen krank, es miaut kläglich. Oder es fühlt sich nur eingesperrt, kann es doch nicht rumrennen. Der Mann lebt vielleicht allein. Seine ganze Freude ist diese kleine Katze. Ich wünsche beiden, daß die Katze nicht sehr krank ist, so daß sie geheilt werden kann. Vielleicht braucht sie auch nur eine Impfung. Ich lächle dem Mann zu, er lächelt zurück.

Auch gibt es Schülerinnen und Schüler, die zur Schule müssen. Sie unterhalten sich lauthals, oder sehen noch richtig müde aus. Dann wirken sie wie kleine Kinder. Wollen sie doch sonst cool erscheinen.

Frauen mit Taschen und Körben fahren auch mit. Jede geht ihren Gedanken nach. Gedanken daran, was sie einkaufen müssen.

Nie werde ich erfahren, was in Wirklichkeit in ihnen vorgeht. In den Menschen, die mit mir im gleichen Bus fahren. Jeder hat sein Leben.

Auch ich....



(c) Karin Ernst

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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