Alexa Engel

Eigentlich warst du zum leben geboren

Eigentlich warst du zum Leben geboren – Gedanken verwaister Eltern

 

 

Lina, du bist tot – gestorben weil ein anderer Mensch nicht mehr leben wollte. Du fehlst uns so sehr, jeder Tag hat seinen Sinn verloren ohne dich. Warum musste sich dieser Verrückte  ausgerechnet vor dem Krankenhaus in die Luft sprengen -  hat dieser Mann denn kein Gewissen??? Wie kann man nur so etwas tun?

Du bist gerade erst auf die Welt gekommen, gestern haben wir dich willkommen heißen dürfen und heute bist du schon auf dem Weg zu den Sternen. Dein Leben war viel zu kurz und dein Lachen ist das einzigste, was uns noch als Erinnerung bleibt. Diese neun Monate mit dir, in  denen du in meinem Bauch warst, waren so wunderschön - du warst unser Wunschkind. Du solltest der Beweis unserer Liebe sein und behütet aufwachsen, dir wollten wir die Welt zeigen und dich immer größer werden sehen. Wir haben dich gemeinsam im Kreißsaal willkommen geheißen, dann wurdest du zur Untersuchung gebracht. Anschließend haben wir dich die ganze Zeit im Arm gehalten, dieses zaghafte Lächeln, diese glänzenden blauen Augen und dein Duft, du hast so nach Babyöl gerochen – ich werde diesen Moment nie mehr vergessen.

Hätte uns damals jemand gesagt, dass du schon bald tot sein wirst, hätten wir ihn nur angelächelt und gemeint, du bist doch gerade erst auf diese Welt gekommen, da würdest du sie doch nicht gleich wieder verlassen. Warum wurdest du uns genommen – unser Sternchen…

Jeden Tag müssen wir an dich denken, an deine kleinen Hände, an die Tatsache, dass du unser Kind warst und jeden Tag wird uns schmerzlich bewusst, dass du nun tot bist -  einfach zu den Sternen gereist – ohne jemals gelebt zu haben. Hätten wir uns vorbereiten können, dann wäre es sicher genauso schmerzvoll gewesen, aber es wäre mehr Zeit da gewesen, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, doch nun müssen wir es akzeptieren lernen -  uns bleibt nichts anderes übrig. Warum unser Kind -  warum du Lina?

 

Wenn du uns von der Welt, in der du nun bist, sehen kannst, so lasse deinen Stern abends am hellsten leuchten, Papa und ich glauben, dass wir dich am Himmel gefunden haben. Denn es gibt am Himmel einen Stern, der so prachtvoll leuchtet, so wie deine Augen geleuchtet haben. Dieser Stern, da sind wir uns sicher, bist du – unsere geliebte Tochter.

Du durftest so wenig von dieser Welt sehen und wir so viel – lieber hätten wir unser Leben gegeben, als dass du sterben musstest, wir haben schon viele Jahre auf dieser Welt gelebt, haben unsere Erfahrungen machen dürfen. Du wirst nie wissen, wie es ist im Frühling all die Blumen aufblühen zu sehen, wie es ist, wenn man im Sommer gerne in einen Badesee springt, wie im Herbst das bunte Laub zum Basteln und Blätter rascheln einlädt und vor allem wirst du nie mit uns Schneeballschlachten im Winter machen können. Papa hätte dir so gerne Fahrrad fahren beigebracht und ich dir das Kochen gelernt. Wir hätten dich so gerne aus dem Kindergarten und später aus der Schule abgeholt. Wir hätten gerne deinen ersten Liebeskummer mit dir geteilt und wir hätten dich so gerne irgendwann deinen Weg gehen lassen. Doch das alles werden wir nie sehen können, denn ein einziger Mann hat drei Leben zerstört, deins, das deines Vaters und meins. Warum tun Menschen so etwas? Warum ziehen sie so viele mit in den Tod, warum können sie nicht einfach für sich alleine sterben, wenn sie es doch schon wollen?

Lina unser kleines Mädchen, wir nehmen nun von dir Abschied, wir stehen vor diesem Massengrab und wissen nur zu gut, dass du irgendwo da unten liegst – tot – gestorben ohne jemals gelebt zu haben. Papa und ich bringen dir jeden Tag Blumen als Zeichen, dass wir dich sehr lieb haben und niemals vergessen werden. Einen Grabstein konnten wir dir nicht geben, denn die Behörden weigern sich, das Grab zu öffnen und deinen Sarg herauszuholen, aber glaub uns, wir werden weiter kämpfen, damit du wenigstens alleine die ewige Ruhe finden darfst – es ist eine Schande, dass man dich mit diesem Selbstmordattentäter in ein Grab gelegt hat und das wollen wir nicht länger dulden.

 

Geh nun dahin unsere kleine Prinzessin – geh zu den Sternen und lass sie für uns leuchten, bleibe immer an unserer Seite, bist wir uns im Himmel wiedersehen werden. Wir kommen eines Tages nach, versprochen – wir lassen dich nicht für immer alleine.

 

Geh nun dahin unser Mädchen, das nie die Sonne sehen durfte – lass sie für uns scheinen und schicke uns dein Lächeln auf die Erde.

 

Geh nun dahin du kleiner Stern, der du nie leben durftest, dessen Leben schon zu Ende war, bevor es je begonnen hatte.

 

Geh nun dahin unser Schatz und finde deine Ruhe -  für immer.

 

In Liebe,

 

deine Eltern

Diese Geschichte habe ich anlässlich der World Press Fotos 2007 die in Ulm ausgestellt waren geschrieben. Es war ein Wettbewerb, bei dem man ein Praktikum in einer Zeitung gewinnen konnte. Ich habe den ersten Platz bekommen, und meine Geschichte wird nun in der Zeitung abgedruckt.
Ich bin sehr stolz darüber.
Alexa Engel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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