Uwe Keßler

Neulich Nachts

Wie aus einem Alptraum heraus schreckte Richard Müller aus dem Schlaf auf. Dabei sollte der wahre Alptraum erst beginnen.
     „Haben wir Sie geweckt?“ Die Stimme klang fast mitleidig. Wäre da nur nicht dieser hämische Unterton gewesen…
     Ängstlich lugte Herr Müller unter seiner Bettdecke hervor. Neben seinem Bett hatten sich drei Gestallten aufgebaut. Dass heißt, ein Mann hatte auf einem Stuhl neben seinem Bett platz genommen, zwei andere Personen standen hinter ihm. Alle drei trugen den gleichen schwarzen Anzug mit der gleichen schwarzen Krawatte und den gleichen Sonnenbrillen.
     „Was machen Sie in meinem Schlafzimmer?“ presste der eben geweckte leise hervor.
     „Wir müssen uns unterhalten“ sagte der Herr direkt neben ihm. Offenbar war er der Chef.
     „Hier? Mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer?“
     „Sie sind doch wach, oder?“    
     „Und worüber wollen Sie mit mir reden?“
     „Na, über Sie. Oder besser über Ihre Zukunft“
     „Meine Zukunft? Wer sind Sie überhaupt?“
     „Das ist nicht wichtig. Wichtiger für Sie wäre, was für Konsequenzen auf Sie warten, wenn Sie Ihr Verhalten nicht grundlegend ändern“     
     „Mein Verhalten? Konsequenzen? Wovon reden Sie denn da?“
     „Ich rede über den Schaden, den Sie unserer Gesellschaft zugefügt haben. Und so, wie ich Sie einschätze, haben Sie nicht die Absicht, Ihre Gewohnheiten zu ändern“
     „Und das könnte üble Konsequenzen für Sie haben“ warf die Person ein, die links hinter dem Chef stand und offenbarte somit, dass es sich bei Ihr um eine Frau handelte.
    „Wovon zum Teufel reden Sie? Ich habe niemanden Schaden zugefügt. In meinem ganzen Leben nicht. Sie verwechseln mich wohl“    
    „Sie sind Herr Richard Müller, 42 Jahre alt, ledig, Bürokaufmann von Beruf. Sie arbeiten seit zwanzig Jahren für die Deutsche Hoch- und Tiefbau AG. Davon seit acht Jahren in Ihrer jetzigen Position. Sie sind nie umgezogen und verreisen nur selten. Und wenn Sie sich tatsächlich man bewegen bleiben Sie schön im Lande. Ihre letzte Reise war in den Spessart, und die liegt schon zwei Jahre zurück.“
     Herr Müller spürte, dass er hinter seiner Bettdecke langsam erbleichte, während der andere Mann die Fakten herunter geleiert hatte. Und das mit einer Stimme, die um einiges emotionsloser klang, als die der Zeitansage. Doch eines war Herrn Müller klar geworden: Diese Männer, soweit man das sagen konnte, hatten sich nicht in der Adresse geirrt. „Aber ich habe doch nie etwas verbrochen“ wehrte sich Herr Müller.
     „Das wissen wir. Sie leben hier in aller Ruhe und führen unauffällig ihr unbedeutendes Leben. Und genau das ist das Problem.“
     „Aber hören Sie mal… Was soll daran ein Problem sein?“
     „Sie verweigern sich unserer Gesellschaft. Das ist ein großes Problem. Und unsere Gesellschaft wird sich das nicht mehr lange mit ansehen.“
     „Gesellschaft? Verweigern? Ich verstehe nicht…“
     „Sie geben zu wenig Geld aus, Herr Müller!“
     „Wenn Sie mein Geld suchen, ich habe noch ein- oder Zweihundert in meiner Brieftasche…“
    „Aber Herr Müller, zu dieser Sorte gehören wir doch nicht“ versuchte die Frau zu beschwichtigen. „Es geht schlicht und ergreifend darum, dass Sie unserer Gesellschaft zu wenig, Nun ja, Aufmerksamkeit widmen“
    „Aber ich weiß doch gar nicht, zu welcher Gesellschaft Sie gehören“ wehrte sich Herr Müller.     Der Mann auf dem Stuhl atmete tief durch. So als ob er einem kleinen Kind immer und immer wieder dasselbe hatte erklären müssen. „Sehen Sie, unser Land befindet sich in einer Krise. Und Sie könnten helfen, diese Krise zu entschärfen. Aber was tun Sie stattdessen? Sie verhalten sich passiv. Sie unterstützen uns nicht“
     „Unterstützen? Aber wie denn?“
     „Gönnen Sie sich mal wieder was“ war die euphorische Antwort des Chefs. Herr Müller glaubte sich verhört zu haben. Dann aber sagte der Mann in ruhigem Ton: „Herr Müller, unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Waren gekauft und verbraucht werden. Das hält unsere Wirtschaft am laufen. Nur das sorgt dafür, dass die Aktienkurse gut sind, die Bilanzen ausgeglichen und dass Arbeiter hierzulande beschäftigt sind. Sie aber geben kaum Geld aus. Ihr Konsumverhalten grenzt schon fast an Verweigerung. Sie haben keine Hobbys und Ihr Auto ist schon sieben Jahre alt…“
     „Aber der Wagen ist doch noch völlig in Ordnung…“
     „Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass Sie in den letzten sieben Jahren kein neues Auto gekauft haben. Hätten Sie sich jedes Jahr ein neues Auto gekauft, wären sieben zusätzliche Pkws produziert worden. Schauen Sie sich doch mal Ihren Kollegen, den Herren Plassberg an. Der ist wirklich ein Musterbeispiel von einem guten Kunden. Der holt sich immer das neuste Modell und immer große Geländewagen. Der Herr Plassberg trägt auch immer elegante und moderne Anzüge und ist auch sonst immer >up to date<, wie man so sagt…“
     Besagte Lobesreden galten einem Mann, der immer großspurig auftrat, und bei den meisten Kollegen als ziemlich unbeliebt galt. Dies ermutigte Herrn Müller ein wenig aufzubegehren. „Entschuldigen Sie bitte, aber der Kollege Plassberg gilt; nun, als ziemlich dummer Konsumtrottel“
    „Aber genau das ist es doch“ strahlte der Chef über das ganze Gesicht. „Genau solche Leute sind die Stütze unserer Gesellschaft. Sie geben Geld aus, und das mit vollen Händen. Nur solche Konsumtrottel sind der Motor unserer Gesellschaft!“
     „Vielleicht bin ich ja zu altmodisch, aber was ist mit den Werten? Ich meine menschlichen Werten, wie Sparsamkeit, Sorgfalt oder treue?“
    „Das ist recht löblich, Herr Müller. Aber Sie sollten auch daran denken, dass dies die Werte einer vergangenen Zeit waren. Heutzutage gelten eben andere Werte. Andere Zeiten, andere Werte, so einfach ist das“
     „Aber was ist mit unserer Umwelt? Ich meine ja nur, wird durch ein solches Verhalten nicht der Energiebedarf in die Höhe getrieben? Und die Müllberge, die werden doch auch immer größer…“
    „Aber Herr Müller! Glauben Sie denn nicht, dass unsere Gesellschaft damit nicht zurecht kommt? Dann werden eben neue Kraftwerke gebaut. Und auch die riesigen Müllberge schaffen neue Arbeitsplätze. Und dem wollen Sie doch nicht entgegenwirken“
     „Natürlich nicht! Aber wie soll ich das denn machen?“
     „Aber Herr Müller, dass ist doch so einfach. Geben Sie Geld aus. Suchen Sie sich ein Hobby…“
    „Aber ich habe doch ein Hobby…“
    „Herr Müller, wir meinen ein richtiges Hobby. Das Geld, was Sie für Ihre Kreide- und Kohlezeichnungen in Umlauf bringen, lohnt kaum der Erwähnung“
    „Früher bin ich auch gerne schwimmen gegangen. Nun, so lange, bis die Stadt das Schwimmbad geschlossen hat…“
    „Aber Herr Müller, Sie können doch nicht wollen, dass die Stadt Ihr Hobby finanziert. Wie sähe denn das aus?“
    „Außerdem arbeiten Schwimmbäder und andere öffentliche Einrichtungen nur mit Verlusten“ schnaubte die Frau verächtlich.
    „Was für ein Hobby wäre Ihnen denn genehm?“
    „Shopping, zum Beispiel“ flötete die Frau    
    „Aber das ist doch kein Hobby“
    „Nun, Sie können sich ja auch Jahreskarten für die Bundesliga besorgen“ sagte der Chef.         „Oder für Konzerte oder Theateraufführungen“ schlug die Frau vor.
    "Oder Sie fahren mal in Urlaub. Paris soll um diese Zeit sehr schön sein“ riet der Zweite Mann.
     Herr Müller zögerte ein wenig. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Herren; Verzeihung, meine Dame“ entschuldigte er sich, nachdem sich hinter dem Stuhl des Chefs ein sehr entrüstetes Räuspern platz gemacht hatte „aber, wie soll ich sagen, solche Veranstaltungen liegen mir nicht besonders. Und wie ich von einer Bekannten hörte, soll Paris eine ziemliche Touristenfalle sein…“
     „Herr Müller, niemand erwartet von Ihnen, dass Sie eine solche Veranstaltung auch besuchen. Es reicht völlig, wenn Sie die Karten kaufen! Und wenn Ihnen Paris nicht gefällt, es gibt ja noch andere Reiseziele. Venedig, zum Beispiel“
     „Aber das hört sich doch alles sehr teuer an. Ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann…“
     „Sie haben rund viertausend Euro auf einem Sparbuch bei der Kreissparkasse und noch einmal gut eintausend Euro auf Ihrem Girokonto. Einen Kredit haben Sie nicht am laufen. Sie sind sogar einer der wenigen Menschen, die noch nie einen Kredit aufgenommen haben“ leierte der zweite Herr. Leider lag er dabei wieder richtig.
     „Herr Müller, wir wollen es noch einmal im Guten versuchen“ sagte der Chef, wobei seine Stimme ein klein wenig gereizt klang. „Also sollten Sie Ihre Lebensweise nicht ändern wollen, können wir auch zu anderen Mitteln greifen. Ihr altes Auto könnte in einen Unfall verwickelt werden“
    „Oder Ihre Wohnung brennt aus“
    „Oder Sie lesen einige unerfreuliche Sachen über sich in der Zeitung“
    „Oder Sie verlieren plötzlich Ihren Job“
    „Und dann verlieren Sie auch Ihre Wohnung. Aber das ist ja alles nicht so schlimm, denn Sie sind ja auch mit wenig zufrieden, oder?“
     Herr Müller hatte sich die Bettdecke ganz über den Kopf gezogen und zitterte am ganzen Leibe.
    „Gönnen Sie sich mal was, nehmen Sie einen Kredit auf, kaufen Sie ein, fangen Sie endlich an zu leben“ drang der dreistimmige Chor durch die Bettdecke hindurch. Und dann war es still. Richard Müller lupfte vorsichtig unter dem Laken hervor. Doch alles war dunkel und alles war ruhig. Die drei Personen waren so still und heimlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Selbst die Türe hatte Herr Müller nicht gehört. Am anderen Morgen fühlte sich Herr Müller wie gerädert. Das ganze war ihm wie ein Alptraum vorgekommen. Nichts desto trotz kaufte er sich noch am selben Tag ein neues Auto. Die drei Herren, soweit man das sagen konnte, sah er nie wieder. Aber wahrscheinlich waren Sie auch sehr beschäftigt. Wer weiß, möglicher Weise kommen sie ja heute Nacht zu Ihnen      
 

Diese Geschichte wurde unter anderem durch die Bäderpolitik der Stadt Essen ermöglichtUwe Keßler, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Autorin, geboren 1960, wohnt im Dreiländereck Nordrhein-Westfalen/Hessen/Rheinland-Pfalz. Erst spät hat sie ihr Talent zum Dichten entdeckt und ihre Gedanken und Erfahrungen zusammengetragen. So entstand eine Gedichtsammlung, an der die Autorin gerne andere Menschen teilhaben lassen möchte, und daher wurde der vorliegende Band zusammengestellt.

Das Leben ist zu kurz, um es mit Nichtigkeiten zu vergeuden oder um sich über die Schlechtigkeit der Welt allzu viele Gedanken zu machen. Wichtig ist, dass man sich selbst nicht vergiften lässt und so lebt, dass man jederzeit in den Spiegel schauen kann.

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