Andreas Rüdig

Der Alien

Krach! Bumm!
 
Bingbingbing.
 
Kreisch.
 
Der Lärm ist einfach unerträglich. Seit Tagen plagt er mich nun schon. Der Lärm findet nur in meinem Kopf statt. Nur ich höre ihn, nur mich plagt er, sonst niemanden. Der Lärm ist nicht zum Aushalten.
 
Ganz egal, wo ich bin und wie spät es ist, ich höre Lärm. Zuerst war es ganz leise und penetrant anhaltend. Da gab ich noch nichts drum. Doch der Lärm steigerte sich, ganz allmählich, fast nicht spürbar, bis zu seiner jetzigen Lautstärke. Es ist nicht zum Aushalten.
 
Der Lärm nimmt sogar schon körperliche Dimensionen an. Meine Ohren schmerzen, mein Schädel, der explodiert. An Schlaft ist kaum noch zu denken. Nachts wandere ich unruhig durch meine Wohnung. In der Stille der Wohnung spüre ich den Lärm nur noch überdeutlicher. Was soll ich nur tun? Wie kann ich diesen unerträglichen Kracht nur loswerden?
 
"Was haben Sie? Krach und Lärm in ihrem Kopf? Also hören sie mal: Organisch sind Sie gesund."
Es ist mein Hausarzt, der so spricht. Ich ging zu ihm, als die Geräusche in mir unterträglich wurden. Er nahm viel Geld für unnütze Untersuchungen; er konnte keine Quelle des Lärms entdecken!
"Sind Sie sicher, daß Sie sich diesen Lärm nicht einfach nur einbilden?" Natürlich bilde ich ihn mir nicht ein. Dafür reicht meine Phantasie dann doch nicht. Was also tun? Psychopharmaka? Wieso Psychopharmaka? Ich bin doch nicht psychisch krank! Es ist doch nur dieser Lärm, der mich in den Wahnsinn treibt.
 
Yoga. Autogenes Training. Kopfstand. Wassertreten. Blütenduft-Aromatherapie. Fußreflexzonenmassage. Akupunktur. Es ist fast nichts, was ich nicht schon an alternativer Medizin ausprobierte. Nun werde ich doch zu einem Psychologen gehen.
 
Ich bin nicht von dieser Welt. Das konnte der Seelenklempner richtig feststellen. Als vor 175 Jahren ein Meteorit auf die Erde stürzte, waren die Grundlagen meiner Existenz in diesem Meteoriten gefanden. Was anfangs nach lebloser Materie aussah, sollte durch das Zusammenspiel von Wind, Wetter, Licht, Temperatur und Gezeiten zu neuem Leben erweckt werden. Doch wie? Wie kann sich Leben in einer lebensfeindlichen Umwelt behaupten? Nun, zunächst in kleinem Maßstab. Nun, zuerst war ich ein Virus, also eines jener kleinen Wesen zwischen Leben und Tod, zwischen toter Materie und semilebendigem Wesen. Ein Grashalm war mein erster Wirt. Jene Ströme von Versorgungsflüssigkeit, Photosynthese, Wachstum, explodierender Lebendigkeit, Niedergang, Überwinterung und Neubeginn waren anfangs sehr verwirrend für mich. Wie kann das alles sein? WIe kann der tote Kohlenstoff eine solche Dynamik auslösen? Es ist mir noch heute ein Rätsel. Und dann kam das Unglück - oder sollte ich sagen "Glück"? Eine jener riesigen landwirtschaftlichen Maschinen kam, mähte uns ab und wir landeten alle in einem großen Stall. Von welchem Tier ich dann verspeist wurde, bekam ich nicht mit. Schließlich war es dunkle Nacht. Mein Gastgras schwamm in einer braunen Brühe, als sich ein riesiger Schlund über uns öffnete und wir darin verschwanden.
 
Ich tauchte in eine neue Welt ein. Kugelförmige, kathodenförmige, plättchenförmige, spiralenförmige, ja sogar kegelförmige und pyramidenförmige Kleinstlebewesen existierten auf einmal um mich herum. Die neue, ungewohnte Umwelt konnte mir nichts anhaben, nach der ultravioletten, brennenden Strahlung des Weltraums, der Reibungshitze beim Eintritt in die Erdatmosphäre, der Kälte des Meteoriten, dem Aufschlag auf die Erde und dem Eintritt in den Kreislauf des Lebens war die Säure des Magens nur ein marginales Problem.
 
Im Gegenteil! Hier zeigt sich die ganze Vielfalt des mikroskopisch kleinen Lebens. Wen also als neuen Wirt aussuchen? Viele Membranen zeigten sich als undurchlässig, so daß ich mich lange Zeit keines neuen Trägerwirts bemächtigen konnte. Doch dann hatte ich Glück. Eine Kugel lag wohl im Sterben. Auf jeden Fall zeigt ihre Membran Risse. Ein Riß war so groß, daß ich in den Organismus eindringen und das Kommando übernehmen konnte. Und wie ich das Kommando übernahm! Ich sollte über das Ziel hinausschießen. Die sterbende Kugel erwachte wieder zu neuem Leben und wurde gesund. Womit ich anfangs noch nicht gerechnet hatte: Die Kugel begann, sich (und mich natürlich auch) unendlich zu teilen. Ganz schnell waren wir so groß, daß wir schon nach kurzer Zeit den ganzen Magen unseres Tieres ausfüllten. Der Magen war schon kurz vor dem Platzen, als uns plötzlich die Peristaltik packte und uns ruckartige nach draußen katapultierte. Nun war ich (oder wir?) wieder dort, wo ich hergekommen war - im Mist.
 
Aber das sollte nur zu meinem Nutzen sein. Irgendwie hatte ich wohl ungewollt das Erbgut der Kugel verändert. Innerhalb kürzester Zeit wuchsen wir zu einem körperlich und geistig gesunden Menschen heran.
 
Warum ich Ihnen das alles erzähle? Mittels Hypnose lies der Psychologe meine Vergangenheit noch einmal vor meinem geistigen Auge erscheinen.
Er erklärte mir auch, warum ich diesen unerträglichen und unerklärlichen Lärm in meinem Kopf höre. Meine Verwandten existieren immer noch in den Weiten des Weltalls. Sie vermissen mich. Sie möchten wissen, wo ich bin, was ich mache, und wann ich wiederkomme.
 
Dieser Psychologe ist ein guter Mensch. Er hat mich in eine Kompressionskammer gesetzt - Sie wissen schon, eine jener Kammern, die den Abstand zwicshen den Atomen aufhebt. Als die Maschine ihre Arbeit beendete, paßte ich genau in einen Fingerhut.
 
Wie gesagt: Dieser Psychologe ist ein guter Mensch. Wir befinden uns gerade in 10.000 Metern Höhe. Mehr schafft der Ballon nicht. Macht aber nichts. Der Psychologe verstreut mich gerade in die Weiten des Raums. Meine Güte, wie ich mich freue, meine Artgenossen wiederzusehen. Sie wundern sich allerdings, wievielmal es mich gibt. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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