Susanne Fletemeyer

Hannover City Linie 10

Rums! Die Türen klappen zu. Ein Ruck, und die Bahn fährt an.
Der zugestiegene Mann schwankt noch einen Augenblick, bevor er sich auf den einzigen freien Sitz fallen lässt.
Die Frau am Fenster schwatzt ununterbrochen. Ihre Hand liegt vertraut auf dem Knie ihres Mannes gegenüber, als sie sich lachend dem Kind neben sich zuwendet. Das kleine Mädchen streicht sich die blonden Haare aus der Stirn und bündelt die dicken Strähnen mit beiden Händen am Hinderkopf. Sein Blick ist abwesend, es scheint das Geplauder der Erwachsenen nicht wirklich wahrzunehmen. Der Zugestiegene hebt einen schwarzen Kasten und legt ihn behutsam auf seine Knie. Es ist ein alter Geigenkasten, an vielen Stellen blankgescheuert. Das Kind schaut neugierig, erst auf den Kasten, dann auf die langen, kräftigen Finger des Fremden, die zärtlich über die rostigen Scharniere streicheln. „Er hält die Geige als wäre sie das kostbarste Ding in seinem Leben“, denke ich, als ich die Szene beobachte. Der Mann zieht mich in seinen Bann. Ich sitze auf der anderen Seite des Ganges und kann ihm direkt ins Gesicht sehen. Seine Züge sind markant, fast knochig. Blaue Augen, seltsam hell und durchdringend, beherrschen das Gesicht. Darunter der weich geschwungene Mund wirkt eher weiblich. Er hält den Nacken leicht gesenkt und hat die Arme dicht an den Körper gepresst, als wollte er möglichst wenig Raum einnehmen. Ich schätze er ist so groß wie ich – etwa 1,75 – aber im Sitzen wirkt er klein und mager. Er trägt eine graue Daunenjacke, deren weiße Wattierung durch den fadenscheinigen Stoff schimmert, und eine schwarze Anzughose, zu dünn für diese Jahreszeit. Seine ordentlich nebeneinander gestellten Füße stecken in schwarzen Cowboystiefeln. Die Stiefel überraschen mich, passen sie doch gar nicht zum Rest seiner Erscheinung.
Eine Welle der Traurigkeit geht von dem Mann aus und schwappt zu mir herüber. Es ist, als würde gleich ein leises Wimmern aus dem Kasten auf seinen Knien quellen, in tiefstem Moll. Fast kann ich es schon hören.
Der Blick des Mannes schweift die Frau gegenüber, wandert weiter zu dem Mädchen und bleibt an ihren großen Augen hängen. Für den Bruchteil einer Sekunde scheint sich die Düsternis zu heben und ein Sonnenstrahl streift sein Gesicht. Das Mädchen und der Mann sehen einander unverwandt an. Er schaut von unten mit schüchtern zuckenden Mundwinkeln, beugt sich unmerklich dem Kind entgegen, als wollte er ihm ein Geheimnis zuflüstern, ja es scheint, als bewege er schon die Lippen – doch dann ist es plötzlich vorbei, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Der Mann sinkt in sich zusammen und wendet sich ab. Verlegen wischt er sich mit dem Ärmel über ´s Gesicht, erhebt sich abrupt und greift nach der Rückenlehne, als sich die Bahn in die Kurve legt und kurz darauf hält. Steintor. Die Türen öffnen sich, der Mann springt polternd aus der Bahn. Ich sehe, wie er kurz auf der Straße zögert, den Geigenkasten mit beiden Armen an die Brust gepresst, bevor er sich entschlossen der Fußgängerzone zuwendet.

„Das ist einer von diesen Pennern, die sich immer vor die Kaufhäuser stellen“, sagt der Mann laut und deutet mit dem Kinn nach draußen. „Erst gestern hab´ ich den Kerl gesehen. Stand bei Karstadt am Eingang mit seiner Fiedel!“ Die Frau lacht schrill. Das Kind schaut stumm aus dem Fenster. Ein Ruck, und wir fahren weiter.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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