Carli wohnte in einem großen Museum. Carli war ein Gespenst, erst etwa dreihundert Jahre alt und leider überaus ängstlich. Deshalb schwebte er nachts während seiner einsamen Streifzüge durchs Haus stets möglichst rasch an den riesigen Giraffen, den mächtigen Löwen, den putzigen Mäusen und den dicken Elefanten vorbei.
Und die winzigen Flöhe, vor denen sogar er sich nicht gefürchtet hätte, konnte er derweil nirgends entdecken. Die hatten nämlich selber Angst und hielten sich versteckt.
„Hui, seufz, wäre ich doch schon tausend Jahre alt. Dann wäre ich erwachsen und bestimmt viel mutiger als jetzt!“
Noch nicht einmal bei seiner Mama konnte er sich Unterstützung holen. Mama Spuki hatte gegen eines der wichtigsten Geistergesetze verstoßen und sich tatsächlich mit einem Menschen angefreundet. Zur Strafe dafür hatte das oberste Gespenstergericht sie in eine Burg in einem weit entfernten Land verbannt. In der erschreckte sie nun bereits seit einigen tausend Jahren in dauernd wechselnder, gruselig anzusehender Gestalt und mit hohlem Stöhnen sowie dröhnendem Kettenrasseln die Besucher und riss hämisch grinsend den schwarzen Burgspinnen ihre mühevoll gesponnenen Netze kaputt.
Eines Nachts während der Geisterstunde schlurfte Carli wieder einmal in den hohen Saal mit den Tieren. Aber, anstatt auf ihren Sockeln zu stehen, spazierten jene munter herum. Vor lauter Panik verschlug es dem kleinen Gespenst sogar sein schüchternes ´Buhuuuh!`. Schnell versteckte sich Carli hinter einer mächtigen Säule.
Die Tiere tuschelten miteinander:
„Alle kichern nur, wenn er auftaucht!“, meinte eine Giraffe.
„Carli ist viel zu lieb. Wie soll das bloß später werden?“, versetzte die andere. “Ein Gespenst, vor dem sich kein Mensch fürchtet, ist doch kein richtiges Gespenst!“
„Und soo ängstlich ... !“, brummte ein Löwe besorgt und schüttelte den gewaltigen Kopf.
„Wenn er uns sieht, huscht er jedes mal von dannen!“, trompetete ein Elefant bekümmert.
„Guckt er uns an, wird er noch bleicher als er ohnehin schon ist!“, fiepte eine winzige Maus.
Sie hatten großes Mitleid mit Carli, beschlossen, ihm zu helfen und baten den weisen Uhu ´Lexi`, dem hinter der Säule vor sich hin bibbernden Gespensterkind zu sagen, dass sie alle ihm nichts Böses wollten, sondern es nur gut mit ihm meinten. Lexi war nämlich das einzige Tier, vor dem Carli keine Angst hatte, Der Uhu machte ja auch nie Krach, sondern blieb immer leise und gelassen.
„Wir haben tolle Tipps für Dich, wie Du ein richtig mutiges Gespenst werden kannst!“, verriet Lexi.
„Wiiee d...denn?“, schlotterte Carli.
„Komm` mal mit zu den Anderen!“
Nach kurzem Zögern klammerte sich Carli mit der Hand an Lexis Flügel fest und ließ sich von ihm in die hintere Ecke des Raumes ziehen, in der sich die Giraffen, die Elefanten, die Löwen und auch die Mäuse in einer Runde aufgestellt hatten.
„Da bist du ja!“, begrüßten sie ihn alle freundlich.
Scheu guckte Carli die Giraffen an, ganz langsam von unten nach ganz oben.
„Wie groß Ihr seid!“
„Du kannst genauso groß sein. Du musst es nur wollen!“, lachten sie. „Versuch` es mal!“
„Ach, wär` es schön!“
Carli kniff fest die Augen zusammen. Im selben Moment begann er zu wachsen, bis er schließlich den Giraffen in die Augen sehen konnte, ohne wie bislang immer, seinen Kopf weit in den Nacken legen zu müssen.
„Na, wie gefällt Dir das?“, fragten sie.
„Jetzt wird niemand mehr über mich lachen!“, antwortete Carli stolz.
Irgendwie fühlte er sich schon nicht mehr ganz so ängstlich.
Und dann wünschte er sich:
„Ich möchte so dick sein wie ein Elefant!“
Prompt stand dort ein gewaltiges Gespenst mit riesigen Elefantenohren und einem Bauch, so dick wie ein aufgeblasener Heißluftballon. Die winzigen Mäuse zu seinen Füßen duckten sich ein wenig:
„Oh je ... !“
„Haben die etwa sogar ein wenig Angst vor mir?“, staunte Carli und hatte die eigene schon fast vergessen.
Die Löwen brummten:
„Carli, jetzt musst du es nur noch lernen, so laut zu brüllen wie wir!“
Der erste Brüllversuch klang eher wie ein leises Weinen. Der zweite gelang schon besser und beim dritten fingen all die mächtigen, großen Tiere und erst recht die Winzig.-Tiere an zu zittern, weil es sich so schrecklich anhörte.
Carli mochte gar nicht mehr damit aufhören. Sein Kreischen dröhnte nur so durch das ganze Museum.
Kerzengerade stand er dort. Seine Augen strahlten. Plötzlich rief er:
„Passt mal auf!“
Blitze zuckten, es donnerte und in dem grellen Licht sahen die Tiere Carli, diesmal mit einer entsetzlichen Fratze mit glühenden Kohlen als Augen und einen Mund mit spitzen Zähnen, so lang wie Dolche.
In der einen Hand hielt Carli eine wuchtige Kette mit einer Eisenkugel an deren unteren Ende. Die war an seinem einen Fußgelenk befestigt und bollerte bei jedem Schritt mit einem Wahnsinnsgetöse über den Boden. In der anderen Hand hielt er eine verrostete Mistgabel, die er wieder und wieder drohend in die Luft streckte.
„Du bist aber mutig!“, staunten die Mäuse.
„Furchterregend siehst du aus!“, bewunderten ihn seine neuen Freunde. „Du bist wirklich das schrecklichste Gespenst, dem wir je begegnet sind!"
Carli war glücklich.