Klaus-D. Heid

Die letzte Jahreszeit

Längst hatte ich es aufgegeben, die Blätter in meinem Garten zusammenzuharken. Der Herbst hatte lange genug bewiesen, dass er mehr Ausdauer als ich besaß. So saß ich nun auf meinem bequemen Schaukelstuhl und sah dem bunten Treiben der hin- und herflatternden Blätter zu, die im Wind des Herbstes tanzten. Durch die Sprossenfenster verfolgte ich den Flug eines einzelnen Blattes, das eben noch kraftlos an einem Zweig des Baumes hing und nun zu einem Teil des in vielen Farben schimmernden Teppichs wurde, unter dem der regennasse Boden verschwand.

Kahl sahen die Bäume aus...

Obwohl ein paar Sonnenstrahlen durch das nackte Geäst fielen, überkam mich doch eine traurige, sehnsüchtige Stimmung. Schon bald würde sich der Schnee wie eine kalte Decke über den farbenprächtigen Teppich legen. Bald würde der Frost den jetzt noch weichen Boden in eine harte Platte aus unnachgiebigem Erdreich verwandeln. Nur noch wenige Wochen – und der Winter begrub auch die letzten Zeugen der vorangegangenen Jahreszeit unter sich.

Wieder ging ein Jahr seinem Ende entgegen. Wieder erinnerte mich der Herbst daran, dass auch ich mich meinem Ende näherte. Vielleicht noch ein, zwei Jahre? Ob ich diese Zeit noch bekam? Oder war dies der letzte Herbst, den ich gleichzeitig bewundern und verfluchen durfte? War es mir noch vergönnt, den Winter zu erleben? Durfte ich noch am Erwachen des neuen Jahres teilhaben? Durfte ich...?

Es war schön, in der wohligen Wärme des Hauses zu sitzen, während draußen der Nordwind sein trauriges Lied sang. Die Melancholie meines langen Lebens ließ sich vom Wind treiben und flog in die vielen Jahre, die hinter mir lagen. Schöne Jahre. Harte Jahre. Lachen und Weinen. Alle Jahreszeiten meines Lebens umschwirrten mich und trugen mich fort in eine Welt, die ganz langsam von mir Abschied nehmen wollte. Wie dieses Blatt, dem ich beim Fallen zusah, fiel auch ich schon bald in einen ewigen Schlaf. Wie der Schnee, der bald die Blätter und sich begrub, bedeckte mich schon bald die Erde. Es war ein ewiger Kreislauf, in dem ich nichts war, als ein Blatt.

Durch das sanfte gleichmäßige Wippen meines Schaukelstuhles musste ich eingeschlafen sein. Ich kann mich nicht erinnern, wovon ich träumte. Oder träumte ich noch immer? Wie sonst war es möglich, dass meine Augen etwas sahen, das unmöglich die Realität sein konnte?

Ich sah Bäume, an denen kein Blatt zu fehlen schien. Ich sah die Sonne, die mit aller Kraft das dichte Blätterwerk zu durchdringen suchte. Ich hörte sogar die Vögel aufgeregt zwitschern, die sich in den Ästen versteckten oder jubilierend umherflogen. Alles leuchtete in den Farben des Sommers. Das Grün des Rasens sah frisch und gesund aus. Ein ganz leichter, bestimmt warmer Sommerwind, ließ die Grashalme tanzen, als würden sie mit ihrem Tanz für die schönste Jahreszeit danken wollen.

Meine Melancholie war verschwunden. Heiterkeit überkam mich und ließ mich still lächeln. Mir war ein Wunsch erfüllt worden. Was machte es schon, dass ich tot war? Mein Leben lag hinter mir – und ein neues, anderes und unglaublich schönes Leben hatte begonnen.

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