Stefan Hein

Ein Mordsproblem

„Ohne Ronaldo hat Milan absolut keine Chance“, insistierte Polizeiobermeister Dieter Hanter und klopfte dabei rhythmisch auf das Armaturenbrett, um seine Worte zu unterstreichen.  
Harald Kimm saß mit eingefrorener Miene hinter dem Steuer und atmete tief durch. Eigentlich fuhr er gerne Streife, aber längere Zeit mit Dieter Hanter in einem Fahrzeug sitzen zu müssen, war nicht immer ein Vergnügen. Obwohl die Männer eng befreundet waren, ließ sich Hanters Rechthaberei oft nur schwer ertragen.
„Das ist nicht dein Ernst, Dieter. Ronaldo ist fett und ausgebrannt, wie Elvis in seiner Endphase. Hast du die WM schon vergessen? Ich finde es gut, dass er nicht antreten darf. Mailand braucht ihn nicht!“ Am liebsten hätte Kimm noch ein grimmiges Basta hinzugefügt, beherrschte sich aber.
Hanter verzichtete auf eine Erwiderung.
Fußball und Eishockey – das waren die großen Leidenschaften der beiden Beamten. Stundenlang konnten sie sich darüber austauschen, doch nicht selten kam es dabei zu Meinungsverschiedenheiten. Zum Glück neigte sich der trübe Tag endlich dem Ende entgegen. Auf den trockensten April seit Beginn der Wetteraufzeichnung war der nasseste Mai gefolgt und schlug aller Welt aufs Gemüt.
Der Einsatzwagen glitt gemächlich über eine wenig befahrene Landstraße, als Kimm das Schweigen brach. „Was ist denn da vorn los?“
Er deutete auf einen alten Passat, der etwa 150 Meter voraus in verräterischen Schlangenlinien fuhr.
„Sieht ganz nach Kundschaft aus!“ Hanter schüttelte verständnislos den Kopf. Selbst hier auf dem platten Lande musste man zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Betrunkenen rechnen.
Kimm lenkte das Polizeifahrzeug dicht an den Passat heran und aktivierte den Anhaltesignalgeber. Auf dem Dach des Einsatzwagens leuchteten nun abwechselnd die Worte STOP und POLIZEI in Spiegelschrift auf, sodass der Fahrer des Passats sie im Rückspiegel lesen konnte – sofern er denn hineinblickte.
Doch der Wagen fuhr mit ungedrosseltem Tempo weiter und nutzte dabei dank großzügiger Schlenker die gesamte Breite der rechten Fahrbahn aus. Den Dienstvorschriften gehorchend, schaltete Kimm nun ein auffälliges rotes Blinklicht ein – immer noch ohne Erfolg.
„Hat der keine Augen im Kopf? Dann wird es Zeit für den Weckruf.“ Kimm löste die Yelp-Sirene aus. Es ertönte ein schrilles Signal, dessen Tonhöhe sich in schneller Abfolge erhöhte und verringerte. Hanter, der diesen an US-Polizeisirenen erinnernden Sound liebte, grinste zufrieden wie ein kleiner Junge.
Einsatz in Manhattan. Die Großstadtcops schlagen wieder zu.
Endlich wurde der Passat langsamer und hielt am Straßenrand. Kimm parkte den Einsatzwagen unmittelbar dahinter. Erst, nachdem sich die Tür des Passats geöffnet hatte und ein blasser junger Mann zögerlich ins Freie getreten war, stiegen auch Kimm und Hanter aus. Als der Bursche die beiden uniformierten Polizisten auf sich zukommen sah, riss er panisch die Arme in die Höhe, als müsse er durch sofortige Kapitulation einer Erschießung zuvorkommen.
„Ich bin unbewaffnet“, erklärte er mit schriller Stimme, noch ehe die Beamten irgendetwas sagen konnten.
Mit einer beruhigenden Geste trat Kimm dicht an ihn heran. „Nun bleiben Sie mal ganz entspannt. Wir führen nur eine Verkehrskontrolle durch. Dürften wir bitte Ihren Führerschein sehen?“ Der Mann fingerte nervös in der Innentasche seiner Lederjacke herum, und Kimm legte reflexartig die Hand an seine Dienstwaffe. Es war offenkundig, dass mit diesem sonderbaren Kerl etwas nicht stimmte.
Seine mickrige Gestalt verlor sich in der viel zu großen Jacke. Sein Haar fiel in wirren Strähnen nach vorn, und es war schwer zu beurteilen, ob diese Frisur auf mangelnder Pflege beruhte oder auf dem großzügigen Einsatz eines besonders klebrigen Styling-Gels. Er atmete schnell und unregelmäßig, zeigte alle Symptome einer Hyperventilation. Was Kimm jedoch wirklich beunruhigte, war der Blick des Burschen. Zwar ließ sich nur schwer erkennen, ob seine Pupillen vergrößert waren, sie bewegten sich aber derart hektisch hin und her, dass dies kaum mit Nervosität zu erklären war. Dieser Mann stand unter Drogen, befand Kimm. Oder unter schwerem Schock.
Kimm nahm die Papiere des Burschen entgegen, während Hanter um den Passat herumschlich und durch die Fenster sah.
Der Führerschein verriet Name und Geburtsdatum des Passatfahrers.
Heiko Sabelfeld. 24 Jahre alt.
„Herr Sabelfeld, haben Sie Alkohol getrunken?“
Der Angesprochene riss die Augen weit auf, als ob ihn diese Frage zutiefst erschütterte. „Nein“, erklärte er schließlich und schüttelte wild den Kopf. Sein hervorstehender Adamsapfel hüpfte auf und ab, seine Zunge schnellte hervor und benetzte die schmalen Lippen, während seine Pupillen weiterhin bestrebt waren, in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Kimm beschloss, nicht länger in dieses Gesicht zu schauen, in dem sich sämtliche Bestandteile in unkontrollierter Bewegung befanden.
„Sind Sie damit einverstanden, dass wir einen Alkoholtest durchführen?“
„Bleibt mir etwas anderes übrig?“
„Sie haben das Recht, einen Schnelltest vor Ort zu verweigern. Allerdings können wir Sie dann zur Blutentnahme mitnehmen.“
„Ich habe nichts getrunken, wirklich. Von mir aus holen Sie Ihr Messgerät.“
Er hob die Arme mit nach vorn gerichteten Handflächen an. Diesmal wollte er sich offenbar nicht ergeben, sondern mit großer Geste seine Unschuld zum Ausdruck bringen. Dabei klaffte seine Jacke auseinander und gab den Blick auf ein verschwitztes weißes T-Shirt frei.
Nackt sehe ich noch besser aus, stand in roter Schrift auf seiner schmächtigen Brust.
Witzig, witzig, dachte Kimm, verzichtete aber darauf, sich das Bürschlein unbekleidet vorzustellen. Was ihn irritierte, waren die vielen rotbraunen Flecken, die unterhalb des Schriftzugs zu erkennen waren. Sahen sie nicht ganz wie Blut aus? Kimm hoffte, dass die Flecken lediglich aufgedruckt waren, aber sie ergaben in Kombination mit dem Spruch keinerlei Sinn. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Hanter hatte mittlerweile die Inspektion des Wagens beendet und war neben seinen Kollegen getreten. „Harald, kommst du bitte mal mit? Die TÜV-Plakette dürfte dich interessieren.“ An Sabelfeld gewandt, fügte er hinzu: „Sie bleiben bitte hier stehen.“
Er führte Kimm zur Rückseite des Passats und ging in die Hocke. „Hier. Der TÜV ist überfällig“, sagte er laut. Kimm sah auf die Plakette. Die nächste Hauptuntersuchung war erst in zwei Monaten an der Reihe. Er warf seinem Kollegen einen irritierten Blick zu.
Hanter legte den Zeigefinger an die Lippen. Dann deutete er stumm auf Verunreinigungen an der Stoßstange.
Kimm war sofort klar, worum es sich handelte. Feine Schmierstreifen geronnenen Blutes, das jemand sehr nachlässig wegzuwischen versucht hatte.
Hanter deutete auf den Kofferraum.
Kimm nickte alarmiert.
Sie hatten ein Problem. Ein Riesenproblem!
Dann zuckten die Polizisten zusammen, als eine hysterische Stimme unmittelbar neben ihnen erklärte: „Ich wollte es nicht tun“. Sofort richteten sich die Beamten auf und zogen wie in einer perfekt einstudierten Choreografie gleichzeitig ihre Dienstpistolen.
Doch Sabelfeld wirkte nicht so, als ob von ihm irgendeine Gefahr ausging. Erneut hob er kapitulierend die Arme. Seine Gesichtszüge gerieten jetzt vollends außer Kontrolle, sein Kinn begann zu zittern, und schließlich traten ihm Tränen in die Augen. Seine weiteren Ausführungen wurden von einem lauten Schluchzen begleitet.„Sie ... sie wollte mich verlassen. Hatte einen neuen Freund. Wollte zu ihm ziehen. Das konnte ich doch nicht zulassen. Dann ... dann kam es über mich. Ich ...“
Hanter schob seine Waffe zurück ins Gürtelholster und hob mahnend die Hände. „Keine Ahnung, was Sie da erzählen, aber Sie sollten ohne einen Anwalt besser schweigen.“
„Wozu? Es hat doch alles keinen Sinn mehr. Ich weiß sowieso nicht, was ich jetzt mit der Leiche anstellen soll. Nehmen Sie mich bitte fest.“
Kimm tauschte einen kurzen Blick mit Hanter. Dann schüttelte er den Kopf. „Es gibt hier keine Leiche. Sie sind offenbar sehr verwirrt.“
„Ach ja? Dann schauen Sie doch mal im Kofferraum nach. Aber ich warne Sie, das ist kein schöner Anblick. Die Klinge des Tranchiermessers war wirklich scharf.“
„Wir werden den Kofferraum nicht öffnen“, erklärte Kimm entschlossen, und Hanter nickte zustimmend. „Ohne Durchsuchungsbefehl rühren wir Ihr Fahrzeug nicht an.“
Für einige Augenblicke vergaß Sabelfeld das Schluchzen und starrte die Polizisten ungläubig an. „Durchsuchungsbefehl?“
„Allerdings“, bestätigte Hanter, „ohne richterliche Genehmigung läuft da gar nichts.“
„Und wenn ich den Kofferraum selbst öffne?“
Kimm, der seine Dienstwaffe noch immer in der Rechten hielt, richtete den kurzen Lauf direkt auf den jungen Mann. „Sie rühren sich nicht vom Fleck. Wenn Sie Polizisten zu unerlaubten Maßnahmen verleiten wollen, sind Sie bei uns an der falschen Adresse!“
Nun reckte Sabelfeld seine Hände so hoch empor, als wollte er eine der schmutzgrauen Wolken vom Himmel pflücken. Die ersten Tropfen eines nahenden Regengusses platschten auf seine Lederjacke.
„Müssen Sie mir denn keine Handschellen anlegen?“, fragte er schließlich verblüfft.
„Erklären Sie uns bitte nicht, wie wir unseren Job zu erledigen haben“, raunzte Hanter und ging zur Vorderseite des Passats.
„Was seid Ihr bloß für merkwürdige Bullen?“
Kimms Ton wurde scharf. „Das Duzen eines Polizisten und die wenig schmeichelhafte Bezeichnung als Bulle sind Beleidigungen, für die eine Geldstrafe fällig ist. Also hüten Sie lieber Ihre Zunge.“
„Ihre Reifen haben kaum noch Profil“, rief Hanter ungehalten, nachdem er neben dem rechten Kotflügel des Passats in die Hocke gegangen war.
Traurig schüttelte Kimm den Kopf. „Das ist schlimm. Morgen lassen Sie bitte sofort die Reifen wechseln. Haben Sie verstanden?“
Als Sabelfeld nicht sofort reagierte, machte der Beamte eine auffordernde Bewegung mit seiner Waffe.
„Verstanden“, beeilte sich der junge Mann zu sagen.
Kimm nickte zufrieden. „Fahren Sie jetzt vorsichtig nach Hause. Aber bitte nicht in Schlangenlinien!“
Sabelfeld stieg genauso zögerlich wieder ein, wie er zuvor ausgestiegen war. Dann gab er Gas.
Hanter warf einen nervösen Blick auf die Uhr. „Jetzt aber los!“
  
 
Kurz darauf stürmten die Ordnungshüter die Treppe zur Wohnung eines Kollegen hinauf. In Rekordzeit hatten sie geduscht und sich umgezogen. Der Fernseher lief auf voller Lautstärke, und die Geräusche der Live-Übertragung drangen gedämpft bis in den Flur hinaus. Die anderen Männer saßen sicher bereits ihm Wohnzimmer und brachten sich mit Bier und Knabbergebäck in Stimmung. In drei Minuten war Anstoß.
„Ich bleibe dabei, Liverpool wird Mailand vernichten“, stichelte Hanter. Kimm, dessen Sympathien auf Seiten der Italiener lagen, reagierte gelassen. „Jeder, der auch nur einen Hauch Ahnung von Fußball hat, weiß, dass der AC Mailand triumphieren wird! Die Champions League ist im Prinzip schon entschieden.“
Vor der Wohnungstür hielt Kimm einen Moment inne. „Sag mal, haben wir wirklich richtig gehandelt?“, fragte er leise.
Hanter verdrehte die Augen. “Mann, das fragst du jetzt zum hundertsten Mal. Wir konnten den Kerl unmöglich festhalten. Es hätte Ewigkeiten gedauert, bis die Jungs von der Mordkommission angerückt wären. Dann die mühsame Aufnahme des Falls, die vielen Fragen. Wahrscheinlich wäre der ganze Abend im Eimer gewesen, zumindest aber die erste Halbzeit!“
Kimm nickte, dann klingelte er.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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