Franz Gilg

Am Grat

Daß sie nach und nach alle umkehrten, erfüllte ihn eher mit Stolz statt mit Besorgnis. Manche diskutierten noch über den Sinn eines Rückzugs - sozusagen als Alibifunktion, andere streckten wortlos die Waffen, wieder andere scheiterten an ihrem eigenen Unvermögen und schämten sich. Mit jedem weiteren Schritt fühlte er, ein moderner Kolumbus, sich der gemeinen Masse Gleichgesinnter entrückt und jener elitären Schicht zugehörig, der er schon lange höchste Achtung und Bewunderung zollte. Schließlich galt er vor nicht allzu langer Zeit noch als Neuling dieser Zunft. Aber er brachte, wie er fand, sämtliche Voraussetzungen mit, um in allen Prüfungen bestehen zu können: Jugend, Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer und Mut.

Obwohl er sich bemühte, nicht den festen Riten und Gewohnheiten der anderen zu folgen, sondern einen eigenen Stil zu prägen, war er in seiner Rolle als Lehrling stets gezwungen gewesen, ihnen den einen oder anderen handwerklichen Kniff abzuschauen.

Nach unheilsamen Erfahrungen während seiner kurzen Sturm- und Drangperiode in Eis und Schnee hatte er die Materialschlacht und das lästige Schleppen unmenschlicher Lasten endgültig satt. Er verschrieb sich fortan den Genüssen sportlicher Kletterei in trockeneren, wenngleich auch niedrigeren Gefilden, die ebenso ihre Reize besaßen. Und auf einer reizvollen Unternehmung befand er sich auch heute.

Die übrigen Weggefährten hatte offenbar der Mut verlassen. Wen wundert´s? In keinem der gängigen Führer und Kletterhandbücher fand sich eine Beschreibung dieses versicherten Steigs, der erst vor kurzem angelegt worden war, um besonders verwegenen Abenteurern einen Nervenkitzel der unheimlichen Art zu bereiten.

Früher galt der Grat als Herausforderung für extreme Kletterkünstler und Filigrantechniker unter den sogenannten Freeclimbern. Die Drahtseile erschlossen ihn nun auch gewöhnlichen Menschen, wenngleich viele, die nicht wußten, was hier oben auf sie zukam, vorzeitig kapitulierten. Kraft und Psyche wurden aufs Äußerste gefordert, denn zahllose senkrechte Felsnadeln, die allesamt überklettert werden mußten, erschwerten ein Vorwärtskommen. So mancher großzügig gesteckte Zeitplan erwies sich dabei als Fehlplanung. Nicht zu Unrecht hieß diese Route in Fachkreisen die ``Rasierklinge´´.

Jetzt, nach etwa zwei Dritteln des Weges, dicht vor einer unüberwindbar erscheinenden Passage, umgab ihn, den Übriggebliebenen, plötzlich vollkommene Einsamkeit. Dieses von den Gletschertouren vertraute Gefühl machte ihn immer ein kleinwenig euphorisch, so als habe alles Leben um ihn herum respektvoll Platz gemacht, damit er seine Empfindungen hier oben mit niemandem zu teilen brauchte.

Einzig vom Wettbewerbsstreben geleitet hätte er sich fürwahr als Sieger fühlen und nun ebenfalls zum Rückzug blasen können. Aber es konnte doch sein, daß noch Leute nachfolgten, die weiter kamen, als er - womöglich gar bis ans Ziel. Überdies hinderten ihn nicht nur niedrigen Beweggründe an der Umkehr, sondern vor allem sein ungestillter Entdeckergeist und der Trieb, die eigenen Grenzen zu brechen. Nur so war dieser an sich sinnlose Balanceakt jenseits psychischer Belastbarkeit und Vernunft erklärbar. Der dabei erzielte Lustgewinn versetzte ihn förmlich in einen Rausch, hob ihn in neue Sphären und ließ ihn ein kleinwenig Gott sein.

Ängste und Skrupel, Werkzeuge eines intakten natürlichen Selbsterhaltungstriebs, keimten nur kurz auf, denn sein Prinzip, Begonnenes zuende zu bringen, hatte sich mit den Jahren zu einem lebensbestimmenden Axiom gefestigt. Und mit eben dieser Konsequenz entschied er sich nun für den Weitermarsch ins Ungewisse.

Nur das Drahtseil, fest in den Felsen verankert, wies ihm den Weg. Es verlieh Sicherheit, Schutz, Zuversicht - wie ein Faden, der durchs Labyrinth führte.

Zwei kurze Seilstücke, verbunden mit einem vielfach erprobten Klettergurt, dessen fest verknotete Enden bruch- und sturzfeste Karabiner hielten, die wiederum in abwechselnder Folge durch das Drahtseil glitten, ließen Stürze von maximal vier Metern zu. Und solche würden bei ausreichender Körperbeherrschung zu keinerlei ernsthaften Verletzungen führen. Insofern galt es, jenen etwa 30 Meter hohen, senkrechten Abstieg vom Grat herab in die östliche Wand möglichst ohne Blessuren und in sportlich einwandfreier Manier zu bewältigen.

Der Weiterweg verbarg sich seinen Blicken, doch jenseits dieses unpassierbaren, einem Sägeblatt ähnelnden Gratstücks, jenseits der Ausweichroute mitten hinein in die berüchtigte Wand also, erkannte er eine deutlich ausgetretene Spur, die auf leicht gangbares Gelände schließen ließ.

Eine Mutprobe trennte ihn vom Ziel. Erinnerungen an seine Kindheit wurden wach, als er im Freundeskreis mit ähnlich anmutenden ­wenngleich weniger gefährlichen - Prüfungen um Einfluß und Ehre wetteiferte. Er genoß das beklemmende Schaudern beim Blick hinab in diesen Abgrund, diesen leichten Druck gegen seine Brust, der nicht vom Gurt herrührte. Ein sanfter Wind streichelte ihm über die Wange.

Am Ende des Grats, wo sich ein mächtiger Felsenturm befand, stiegen gewaltige Wolkenballen in die Höhe, was ihn nicht sonderlich beunruhigte. Die Kraft der im Nordosten thronenden Sonnenscheibe würde ihr Spiel wohl immer noch zu bändigen wissen.

Schließlich schnappten die Karabiner zu. Kurz unterhalb des Einstiegs fanden sich noch gute Tritte, die zuversichtlich stimmten. Aber wie zum Hohn endeten diese letzten natürlichen Hilfsmittel schon nach wenigen Metern. Daumenbreite Risse gewährten keinerlei Halt mehr, und auch den Füßen blieben nur die regelmäßig angebrachten Befestigungshaken als Standplätze. Dort konnte er sich wieder erholen, die Muskeln lockern, durchatmen und sich frischen Mut zusprechen. Einzig am Seil nach unten kriechend sehnte er bald das Ende dieser Torturen herbei. Der Schweiß raubte seinen zerschundenen Händen jeden Halt. Die fehlende Reibung erzeugte ein Gleiten, egal wie fest er auch zupackte oder beide Beine um das Seil wand. Er kam sich vor wie auf einer Feuerwehrleiter, doch gottlob verhinderten die Haken den Rutsch ins Bodenlose. Aber die Schmerzen, denen er bei diesen plötzlichen Stops ausgeliefert war, entlockten ihm sogar einige unkontrollierte, verzweifelte Laute, über die er sich zutiefst schämte.

Zitternd und keuchend erreichte er schließlich das ersehnte Stück festen Bodens. Hier, entlang eines schmalen Vorsprungs mitten in der ansonsten fast überhängenden Wand, endete der waghalsige Abstieg. Ein Blick nach oben erfüllte ihn mit Genugtuung. Allerdings - und das war ihm bewußt - er mußte irgendwie wieder hoch zum Grat.

Der Felsvorsprung - wie eine Insel inmitten eines einsamen Ozeans - vermittelte keinerlei großartigen Gefühle von Schutz und Geborgenheit, zumal er nur knapp einen Meter aus der Wand herausragte und sich nur wenige Schritte längs erstreckte. Beiderseits verjüngte er sich sehr schnell und mündete im Nichts.

Wo er auch hinblickte auf seiner Suche nach natürlich geschaffenen Unregelmäßigkeiten dieser ansonsten blank geschliffenen Vertikalfläche, er fand nur einige schmale Felsbänder weit unten in gähnender Tiefe. Oberhalb von sich war das Dach eines Überhangs, nicht breiter als sein Standplatz, was darauf schließen ließ, daß der Fels aus senkrecht aufgeschichteten Platten bestand, von denen hier irgendwann ein großes Stück durch den Frost herausgesprengt worden war.

In sein Staunen über die unzugängliche Welt um sich herum mischte sich langsam leichtes Unbehagen. Immerhin befand er sich nach wie vor auf einem markierten Klettersteig, nicht fernab jeder Zivilisation. Aber der rote Pfeil, welcher den Weiterweg wies, existierte lediglich als Alibifunktion. Er mußte sich eingestehen, daß die Zeichen trogen. Das Drahtseil, wie Schienen, die einen auf festen Bahnen hielten, hatte seinen Blick für die Realität vernebelt und ihn aufs Abstellgleis gelenkt. Ihn beschlich das Gefühl vollkommener Einsamkeit.

Noch außer Atem von den Strapazen, lauschte er gespannt, ob nicht doch irgend jemand seinen Spuren folgte, jemand, dessen Unbekümmertheit ihm wieder frischen Mut eingeflößt hätte. Doch der Tag war schon fortgeschritten und die wenigen, die morgens nach ihm aufgebrochen waren, wanderten wohl schon - lange Schatten werfend ­über die Almwiesen in sicheren Regionen talwärts.

Beim Versuch, die Gehzeit dieses Grats anhand der Landkarte zu bestimmen, mußte man sich zwangsläufig um Stunden verschätzen. Das ständige Auf und Ab über turmhohe Felsnadeln kostete viel Zeit. Auch erfahrene Kletterer, zu denen sich der Übriggebliebene mittlerweile zählte, zollten Tribut. Vorsicht war oberste Pflicht und Hektik konnte fatale Folgen haben. Er war sich dessen natürlich bewußt. In jeder noch so kritischen Situation bemühte er sich also, kühlen Kopf zu bewahren, Entscheidungen genau abzuwägen, Risiken vernünftig abzuschätzen, jeden Handgriff mit Sorgfalt auszuführen und aufmerksam in seinen Körper hineinzuhören, damit ihm nicht das geringste Alarmzeichen entging.

Die Angst war plötzlich gekommen, obwohl er sie eher als Hysterie deutete. Deshalb schloß er kurz die Augen und sprach sich selbst Mut zu. Er wollte ausgiebig Pause machen, den Weiterweg genau studieren und dann die Pflicht zuende bringen. Dies war gewiß die schwierigste Stelle, der Orgasmus eines erregenden Klettererlebnisses, den man bedingungslos über sich ergehen lassen mußte. Jetzt am absoluten Höhepunkt, irgendwo zwischen Himmel und Hölle, konnte er das prickelnde Gefühl von verwegenster Selbsthingabe in vollen Zügen auskosten, seinen Trieb stillen, der ihn immer wieder in Gegenden wie diese zog.

Von neuem Tatendrang gestärkt öffnete er wieder die Augen, bereit, sofort weiter zu gehen. Davon allerdings konnte keine Rede sein. In Richtung des Pfeils endete nicht nur der Felsvorsprung, sondern auch die Drahtseilsicherung. Selbst dort, wo er sich stehend ausgeruht hatte, hätten unbedingt einige Mauerhaken zum Einhängen sein müssen - statt dessen diese Griff- und trittlose, leicht überhängende Mauer, die keine unachtsame Bewegung verzieh. Ein falscher Schritt bedeutete den sicheren Tod.

Und dort, wohin der Pfeil wies, fast wie zum Hohn, ragten nur noch kurze Eisenstäbe aus dem Fels, die man im Abstand von je einem Meter hineingeschlagen hatte. Sie bildeten eine leicht schräg aufwärts führende Reihe und endeten etwa einen Steinwurf weit entfernt in einem Winkel, den man vom Standplatz aus nicht einsehen konnte. Gewiß führte dort eine Verschneidung wieder hoch zum Grat, gewiß befand sich dort auch das so unentbehrliche Drahtseil.

Aber was halfen die Eisenstäbe, wenn die Hände keinen Halt fanden? Ohne Saugnäpfe an den Fingern würde er unweigerlich nach hinten wegkippen- auch ohne Rucksack, auch wenn er sich ganz dicht an die Wand schmiegte und die Haken zwecks Verlagerung des Schwerpunkts nur mit den Zehenspitzen berührte. Selbst die verwegensten Freikletterer wären hier den Gesetzen der Physik unterlegen gewesen.

Wozu ein Weg, wenn er nicht gangbar war? Vielleicht mußte man sich wie ein Affe an den Haken entlang hangeln. Dazu waren sie zu kurz und zu weit voneinander entfernt. Er hätte zusätzliche Haken benötigt, dazu einen Hammer und ein langes Seil. So aber blieb ihm nur die Erkenntnis, in eine Falle getappt zu sein. Die Sicherung, durchwegs neu und ohne Schäden, endete hier scheinbar willkürlich und zwang ihn zur Umkehr. Nun gut, er war weiter gekommen als alle anderen vor ihm. Die früher als er aufgebrochen waren, hatte er bei ihrem Rückmarsch am Grat getroffen. Jetzt wußte er, warum sie umgekehrt waren.

Weshalb hatten sie ihm nichts von dieser Falle erzählt? Hatten sie aus Scham geschwiegen? Oder wollten sie, daß auch er diese leidvolle Erfahrung machte? Wut überkam ihn plötzlich, Wut über soviel Unkameradschaftlichkeit. Was, wenn er nun als ungeschickter Neuling hierher geraten wäre, verdammt, auf Hilfe zu warten?

Er aber konnte es schaffen, aus eigener Kraft wieder hochzusteigen, wenngleich er den Abstieg nur unter Zuhilfenahme der Gravitation bewältigt hatte. Das Drahtseil war ein Strohhalm, an den man sich guten Gewissens klammern konnte, der eine Sicherung ermöglichte und nach jeweils vier Metern einen Haken bot, auf dem man stehen und sich ausruhen konnte. Aber die Strecken zwischen diesen Etappenzielen erforderten gewiß ungeheure Energien für die Arme, denn bekanntlich verweigerte die Wand jegliche Unterstützung, so als betrachte sie die Berührung durch menschliche Wesen als Sakrileg.

Der Übriggebliebene spürte, daß seine Muskeln nach den vorangegangenen Anstrengungen noch schlaff waren. Das Risiko, auf halber Strecke, von Krämpfen paralysiert, aufgeben zu müssen, wollte er so gering wie irgend möglich halten, denn er hatte nur einen Versuch. Verschlissen und der Dunkelheit preisgegeben, würde es gewiß Stunden dauern, bis er in der Lage wäre, einen zweiten Anlauf zu tun. Und nichts lag ihm ferner, als hier auf Hilfe zu warten, bemitleidet zu werden von denen, die von seinem Schicksal erfuhren. Er, ein Verlierer der Berge? Ja, er wollte geduldig sein und erst dann losklettern, wenn er sich wieder absolut fit fühlte. Nicht ein Tropfen Schweiß an den Händen durfte das Seil schmieren.

Tief Luft holend starrte er nach oben, kurz und entschlossen, dann ängstlich auf den Vorsprung, auf dem er stand und der ihm schmäler als vor wenigen Minuten vorkam. Keine Chance, sich mit dem Rucksack umzudrehen. Dieses lästige Ding hielt ihn sogar von der schützenden Wand fern und brachte ihn dem Abgrund ein Stück näher.

Was nun, wenn ihm plötzlich schwindlig wurde? Woran konnte er sich dann festhalten? Er entschied sich, den Karabiner ans Ende des Drahtseils einzuklinken. Zuvor aber entledigte er sich seiner Last, die er vorsichtig gegen die Wand lehnte. Durst überkam ihn, denn ihm fiel ein, daß er schon seit Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte. Was für eine Nachlässigkeit an seinem Körper! Nun, in Eile, Versäumtes auszugleichen, öffnete er hastig den Rucksack und zog die halbvolle Feldflasche heraus. Der Zitronensaft flößte ihm wieder neues Leben ein, und er trank mit gierigen Schlücken. Nur ein letzter Rest als Notration blieb übrig.

Ob er oben im Dunkeln zurechtkommen würde? - fragte er sich. Immerhin, der Grat barg noch andere knifflige Stellen. Doch keine konnte mit diesem Steilstück standhalten. Also wozu die Eile? Zwei Wurstbrote wurden hastig vertilgt, dazu eine halbe Tafel Schokolade. Kraftnahrung oder der Versuch, sich irgendwie zu motivieren? Er kauerte sich auf den Boden, so gut es eben ging und genoß es fast ein bißchen, hier wie ein Fensterputzer an der Fassade eines Wolkenkratzers zu hängen. Wenn ihn nur seine Freunde so sehen könnten! Das Herz wäre ihnen in die Hose gerutscht.

Bei solchen und ähnlichen Gedanken keimte neuer Stolz in ihm auf, begleitet von einer fast anheimelnden inneren Ruhe. Der Wind, am Grat doch manchmal recht lästig pustend und in unberechenbaren Böen an seinem Gleichgewicht rüttelnd, schien hier zu schlummern. Nur sein Pfeifen durch die Zacken des Felskamms verriet, daß er noch aktiv war.

Wolken, die nach oben stoben, vermochten die untergehende Sonne nicht mehr abzudecken. Insofern widmete der Übriggebliebene ihrer Gegenwart wenig Beachtung, obwohl sie - wie er hätte feststellen können - von anderer Form waren als diese federleichten Gebilde, die den Grat seit den Morgenstunden immer wieder umschwirrt hatten - diese über waldreichen Gebieten praktisch aus dem Nichts entstehenden Konglomerate.

Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr einem Gegenstand, der ihm bislang seltsamerweise vollkommen entgangen war, obwohl er doch diese beengte Umgebung bereits ausgiebig erkundet hatte. Es handelte sich um eine kleine, verwitterte Holztafel unterhalb der letzten Drahtseilverankerung, nicht größer als seine Hand und formgerecht in die Felswand eingepaßt. Die Inschrift - mit irgendeinem kleinen Schnitzwerkzeug eingekerbt, lautete:

``Im Gedenken an einen guten Freund´´

Nichts weiter, auch kein Name oder eine Jahreszahl. Nun, der Übriggebliebene, wenngleich etwas verwundert über dieses ungewöhnliche Schild, besaß genug Phantasie, um alle fehlenden Informationen in Gedanken zu ergänzen. Mehr noch, er war dankbar für diese unerwartete Zerstreuung.

Jener ``gute Freund´´ mußte hier gewesen sein. Einer von diesen Abenteurern, die wie er in diese Falle getappt waren? Oder gehörte er sogar zu den Baumeistern des Klettersteigs? War er´s, der die  Bohrhaken in die Wand getrieben hatte, entfesselt von der Vorstellung, eine Art Geisterbahn zu konstruieren, die auch dem hartgesottensten Kletterfreund das Gruseln lehrte? Mag sein, er hatte sich dabei heillos übernommen und seine Arbeit hier abgebrochen. Seine Kameraden schraubten diese Tafel fest, und damit war der Fall erledigt. Basta. Keinem wäre in den Sinn gekommen, diesen Wahnsinnssteig zuende zu bauen... Aber bevor vielleicht ein Unschuldiger verunglimpft wurde, beendete der Übriggebliebene seine Spekulationen.

Es waren zwei Dinge, die ihn jäh aus seinen Gedanken rissen: zum einen die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit, zum anderen erste Regentropfen und ein unangenehm kalter, ja, eisiger Wind. Jetzt, leider zu spät, verfluchte er seine Arglosigkeit. Statt sich möglichst schnell in Sicherheit zu bringen, hatte er gezaudert und Kraft getankt - was gar nicht nötig war, weil doch in der Not ohnehin ungeahnte Kräfte wachsen.

Hätte er sich vor dem Aufbruch am morgen nach dem Wetter erkundigt, ihm wäre manches erspart geblieben. Wütend über sich selbst klopfte er gegen die Stirn. ``Jeder hat´s gewußt, der heute unterwegs war. Nur ich nicht, ich Versager´´, zischte er im Selbstgespräch und erwartete insgeheim von irgendwoher eine Antwort.

Die Lage wurde in der Tat kritisch. Still und heimlich war das Schlechtwetter auf der jenseitigen Bergflanke herangekrochen. Die Wolken, üppig und tiefgrau, stürzten förmlich vom Grat herab und hielten nun auch die Minuten zuvor noch im Abendlicht glühende Wand fest im Griff. Der Nebel beschränkte die Sicht auf wenige Meter. Beinahe hilflos sah der Übriggebliebene dem Treiben zu. Wie ehedem kühl und sachlich seine Lage zu überdenken, gelang ihm nun nicht mehr. Schnell holte er seinen Anorak aus dem Rucksack, aber um ihn anzuziehen, mußte er sich notgedrungen aus seiner Sicherung losbinden. Dabei entglitt ihn der Karabiner und stürzte ins Nichts.

Ein wilder Schrei übertönte kurz das Heulen des Windes, denn durch dieses Mißgeschick hatte sich der Unglückliche selbst um alle Chancen gebracht. Mit dem verbliebenen zweiten Karabiner als Sicherung konnte er den Aufstieg unmöglich wagen. Außerdem war das Drahtseil inzwischen so glitschig geworden, daß man sich auch mit Handschuhen nicht mehr daran festhalten konnte. Der Regen, teils flüssig, teils in Form von kleinen Eisklümpchen, wurde immer stärker. Eine wahre Sintflut brach herab und durchnäßte in Sekundenschnelle alles, was nicht Schutz unter dem Regenanorak fand.

Panik befiel den Übriggebliebenen. Das Gefühl, der Lage nicht mehr gewachsen, allen Ereignissen hilflos ausgeliefert zu sein, steigerte seine Angst ins Unermeßliche. Wimmernd preßte er seinen Körper gegen die Felswand, statt zu versuchen, sich wieder ins Seil einzuklinken. Drei Schritte trennten ihn davon. Aber er schloß die Augen und rührte sich nicht von der Stelle. Nun, vielleicht hätten ihn die Windböen beim Versuch, das Seil zu erreichen, aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht wäre er dann seinem Karabiner gefolgt. Irgendwie war er sich der Geschehnisse noch gar nicht gegenwärtig. Alles erschien ihm so unwirklich, wie ein Traum, eine Vision - trotz der spürbaren Kälte, trotz des Wassers in seinen Schuhen.

Es vergingen gewiß Minuten, bis er die Augen wieder öffnete, Minuten, in denen er sich fortwährend Mut zusprach. Aber was mußte er sehen: Nun war auch sein Rucksack verschwunden, fort auf nimmerwiedersehen - wieder durch seine Schuld, denn er hatte den Rucksack nach Auspacken der Regenjacke recht unsicher angelehnt, statt ihn neben sich flach auf den Boden zu legen. Da der Vorsprung leicht schräg geneigt war, ging der Weg folgerichtig nach unten.

Jetzt schrie der Übriggebliebene. Er schrie wie noch nie in seinem Leben. Aus Verbitterung? Aus Angst? Nein, um Hilfe - absurd und doch eine nur allzu menschliche Reaktion. Er, das letzte Häuflein Leben inmitten einer zerstörerischen Leblosigkeit, stand und starrte auf den leeren Platz, wo einst sein Hab und Gut lag.

Wieder schloß er die Augen zu einer inneren Krisenbesprechung. So prekär die Lage aussah, war sie überhaupt nicht. Gut zwei Dutzend Bergsteiger am Rückzug waren ihm heute begegnet, ihm, dem einzigen, der seine Richtung beharrlich beibehalten hatte. Sie hätten Grund genug, sich jetzt - bei diesem Unwetter - an ihn zu erinnern. In irgendwelchen schützenden Hütten würden sie sitzen, Brotzeit machen, von wohliger Kaminwärme umgeben durch die Fenster nach draußen glotzen und darüber sprechen, wo er jetzt wohl gerade sei. Sollte dann einer zuhören, der diese Falle hier kennt, wird man mit Sicherheit die Bergwacht verständigen.

Aber bis endlich Rettung kam, mußte er noch einige Stunden ausharren, vermutete er. Oder - schärfer gesagt - er mußte versuchen zu überleben.

Gut, der Wind blies schon deutlich schwächer und besaß nicht mehr die Kraft, ihn vom Vorsprung zu werfen. Die Chance war demnach gegeben, sich mit dem letzten Karabiner wieder am Drahtseil zu sichern, um so vor einem Absturz gefeit zu sein, falls er irgendwann einschlief.

Aber an Schlaf durfte der Übriggebliebene unmöglich denken. Unterhalb des Oberkörpers war er klatschnaß. Er würde erfrieren, wenn er sich nicht laufend in Bewegung hielt. Bewegung in dieser beengten Lage? Was blieb ihm übrig, als sich - vorsichtig gebückt - immer wieder die Muskeln zu massieren, dabei die nasse Hose auszuwinden, soweit dies ging, soweit der Regen irgendwann nachließ.

Inzwischen war die Dunkelheit gänzlich hereingebrochen. Die Wolken verschwanden in höhere Regionen und sprenkelten den Berg weiterhin mit Wasser. Oben war es demnach wärmer als hier in 2500 Meter Höhe, wo der Regen zu Eis erstarrte. Wie zum Hohn glättete er den ohnehin schon strukturlosen Fels. Auch der ehedem sichere Vorsprung wurde so zur tödlichen Rutschbahn.

Zu spät erst bemerkte dies der Übriggebliebene, sonst wäre er rechtzeitig zum Drahtseil zurückgetrippelt. Er war viel zu sehr mit sich und seiner nassen Hose beschäftigt, als daß er bemerkt hätte, wie in Sekundenschnelle alles um ihn herum glitschig wurde. Jetzt, die Wand hinter sich befühlend, erkannte er seinen Fehler. Das Eis haftete ziemlich fest am Stein, doch es ließ sich mit dem Karabiner wegschlagen. Mit den Schuhen stand er noch auf festem Grund, förmlich eingemörtelt inmitten dieser Eislaufbahn. Er überlegte, ob er sich den Weg zum Seil nicht stückchenweise freischlagen konnte. Zeit besaß er jetzt im Übermaß und es wäre in der Tat eine lohnende Beschäftigung gewesen. Also ging er in die Hocke und begann mit der Arbeit.

Der anhaltende Regen gestaltete das Unterfangen nicht gerade einfach, denn er mußte es geschickt anstellen, daß die freigemachten Flächen nicht sofort wieder vereisten. Auf diese Weise drang er innerhalb einer Stunde zum Drahtseil vor. Mit einem Schrei voller Genugtuung löste sich seine ganze Spannung. Nach all den Pannen endlich wieder eine gelungene Aktion! Das war mehr als nur ein Motivationsstoß für den schon verzweifelnden Bergsteiger.

Nun hing er also am sicheren Seil und konnte auf Hilfe warten. Jede gewonnene Minute wurde zu einem kostbaren Gewinn, denn sie brachte ihn der Rettung ja ein Stück näher. Insofern zog er sich damit also doch selbst aus der Patsche, wenn - und davon hing alles ab - wenn er diese Nacht schadlos überstand. Andertags würde bestimmt wieder herrliches Wetter sein, die Wand würde abtauen und es den Hilfstrupps ermöglichen, hierher vorzudringen.

Also warten, die frierenden Glieder massieren, mit sich selbst sprechen, beten. Ob Beten einen Sinn hatte? Vielleicht hatte der ``gute Freund´´ auch gebetet, bevor er in den Tod ging. Im Prinzip hing es doch von einem selbst ab, ob man überlebte oder nicht. Man konnte die eigene Kraft durch den Glauben an göttliche Obhut oder auf direktem Wege stärken, indem man an sich selbst glaubte. Letzteres versuchte der Übriggebliebene.

Die Nacht, zum Nichtstun verdammt, scheint nie enden zu wollen. Aber mehr noch schmerzte die Kälte. Sie beutelte den geschundenen Körper, der die nötige Wärme nur schwer selbst produziert, wenn ihm die Reserven ausgehen. Im Rucksack wäre noch etwas zu Essen gewesen, dazu eine warme Ersatzhose. Nutzlos, den Dingen nachzutrauern. Er lebte und er konnte es schaffen - das allein zählte.

Etwa gegen Mitternacht - der Übriggebliebene kämpfte schon verzweifelt gegen das Einschlafen - begann es dann zu schneien: erst dicke wäßrige Flocken, dann feinen Staub, der die Landschaft jetzt in ein eigentümliches Grau versetzte.

``Morgen scheint bestimmt die Sonne´´, murmelte er mit verschlossenen Augen, ``Sie wird den Schnee auffressen.´´ Nur noch sporadisch raffte er sich zu einigen Bewegungen auf. Es fehlte schon an der nötigen Kraft. Still gegen die Wand gelehnt, das Seil als Stütze, ließ sich die Kälte am besten ertragen, weil das Gefühl - und somit auch der Schmerz - dabei vollkommen verschwand. Natürlich kannte er die Gefahr dieser Lethargie; doch was bedeutete jetzt noch Vernunft? Er wollte nur wach bleiben, und das würde ihm schon irgendwie gelingen.

Der Mensch, dem die Gedenktafel galt, sah ihm gewiß zu. Also hieß es Haltung bewahren. ``Üble Sache das!´´ rief er in die Nacht hinein. ``Nicht wahr, Kollege! Aber mich kriegst du nicht klein.´´ Natürlich folgte keine Antwort, obwohl er das Schweigen als solche deutete. ``Hast diese Falle gebaut, weil du zu stolz warst, dir dein Unvermögen einzugestehen, nicht wahr! Auch andere sollen dein Schicksal teilen.´´

Sein Selbstgespräch rappelte ihn wieder auf. Er strampelte wild mit Armen und Beinen, daß er den Halt verlor und für kurze Zeit an seiner Sicherung baumelte. ``Mich kriegst du nicht, das versprech ich dir - und wenn ich die ganze Nacht lang Gymnastik machen muß´´, kreischte er mit sich überschlagender Stimme. Der Haß gegen das personifizierte Unglück verlieh ihm ungeahnte Kräfte.

Bis zum Morgengrauen hielt er sich mit Kniebeugen, Dehn- und Streckübungen warm. Wilde Monologe und Fluchorgien stärkten dabei seine Moral. Noch herrschten Minusgrade, aber die Wolken hatten sich inzwischen verzogen. Kein Schneefall mehr seit etwa drei Stunden, kein Wind. Um ihn herum herrschte eine vollkommene, wohltuende Stille. Er hielt inne in seinen Bewegungen, lauschte, bestaunte die weiß verschneite Szenerie und empfand höchste innere Genugtuung - ein Gefühl, das ihm kein noch so schwer erkämpfter Gipfelsieg vermitteln konnte.

Der Horizont schien wie Feuer zu brennen und kurze Zeit später belohnte ihn, der sich bis zur totalen Erschöpfung verausgabt hatte, ein grandioser Sonnenaufgang für all die erduldeten Qualen.

Nun würde alles gut werden.

Würde es?

Er fragte sich, woher die Bergsteiger kamen, die eilig an ihm vorbei wollten. ``Wenn Sie Pause machen, dann bitte nicht an dieser engen Stelle´´, rügten sie ihn und hangelten sich behende am Seil weiter. Es sah aus, als sei alles ganz einfach.

Trotzdem kehrte er um.

Er kehrte um und gab es für immer auf.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2000. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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