Silvia Pree

Der alte Mann

Werner Kautner saß in seinem Stammlokal.
Auf dem Tisch vor ihm sein Bier.
Das Glas war noch etwa halbvoll.
Werner starrte vor sich hin.
Er hatte noch die Worte seiner Frau in den Ohren.
Miriam war außer sich gewesen.
Vor Wut.
Aber auch vor Enttäuschung.
Wird das jetzt so weitergehen?
Nie mehr Urlaub?
Nie mehr wegfahren?
Der alte Mann!
Er wird uns alles kaputt machen!
Das geht doch nicht!
Du musst mit ihm reden.
Verdammt!
Der kann uns doch nicht terrorisieren!

Werner zündete sich eine Zigarette an.
Er verstand Miriam gut.
Nur zu gut.
Sie hatte nur seine eigenen Gedanken wieder gegeben.
Der alte Mann.
Sein Vater.
Alfred Kautner.
Das Inbild des lästigen alten Mannes.
Der seine Familie in Schach hielt.
Dem es Spaß zu machen schien.
Sich die fehlende Aufmerksamkeit auf diese Weise zu holen.
Dabei…
Werner schüttelte den Kopf.
Gut.
Sein Vater war immer schwierig gewesen.
Und eigen.
Aber seit seine Frau verstorben war.
Werners Mutter.
Seither war er nicht mehr auszuhalten gewesen.
Nein.
Schwierig.
Dieser Begriff schmeichelte dem Wesen seines Vaters geradezu.
Unausstehlich.
Das traf schon eher den Punkt.
Weit eher…

Werners Bier war immer noch halb voll.
Er registrierte es gar nicht.
Er hing in dem verrauchten Lokal seinen Gedanken nach…
Der Tod seiner Mutter…
Diese unerkannte Darmkrebserkrankung.
Nichts hatte darauf hingewiesen.
Bis zu dem Darmverschluss.
Ziemlich genau vor einem Jahr.
Nach einer Familienfeier.
Seine Mutter hatte starke Schmerzen bekommen.
Dabei hatte er, Werner, zuerst an etwas eher Harmloses gedacht.
Eine Blinddarmentzündung etwa.
Die Diagnose im Spital war ein Schock gewesen.
Mehr als das.
Ein Faustschlag ins Gesicht.
Darmdurchbruch.
Seine Mutter war nach wenigen Tagen verstorben.
Man hatte gerade ihre schlimmen Schmerzen mildern können.
Nicht mehr.
Und sein Vater.
Er war zusammengebrochen.
Ein seelisches Wrack….

Zahlen bitte!
Das Bier war noch immer halb voll.
Aber Werner hielt es nicht mehr aus.
In dem verrauchten Bierlokal.
Obwohl ihn die Gedanken weiterverfolgten.
Und die Erinnerung…
Die Ehe seiner Eltern…
Gut war sie nicht immer gewesen.
Eher Gewohnheit.
Und seine Mutter.
Ulrike Kautner…
Sie hatte ihren Mann noch bedient.
Regelrecht.
Sie war so erzogen worden.
Wie viele Frauen ihrer Generation.
Und sein Vater forderte das nun von ihnen.
Diesen Komfort…
Von ihm, Werner, und von Miriam.
Aber Miriam hatte sich geweigert.
Warum sollte sie seinen Vater auch bedienen?
Ein wenig Selbständigkeit würde dem alten Mann nicht schaden.
Das hatte er damals gedacht.
Auf keinen Fall.
Aber der…?
Der ließ sich gehen.
Jammerte über dies und das.
Plötzlich hatte er Herzprobleme.
Ohne klare Diagnose.
Und diese Gastritis…
Hatte sein Vater vielleicht einfach nur zu fett gegessen?
Wie auch immer.
Sein Vater blühte ihm Spital regelrecht auf.
Jedes Mal.
Schäkerte mit den Schwestern.
Nahm sogar zu.
Daheim ging das Jammern aber wieder los.
Vater wollte nicht spazieren gehen.
Er wollte nichts im Garten tun.
Oder sich sonst wie bewegen.
Stattdessen lag er im Bett.
Und tat sich selber Leid…

Werner hastete durch die Straßen.
Von weitem sah er das Licht im Haus noch brennen.
Miriam war also noch auf.
Sie hatte auf ihn gewartet…
Letzte Woche waren er und Miriam nach Griechenland geflogen.
Eine Woche.
Der erste Urlaub seit fünf Jahren.
Was hatte sich Miriam nicht darauf gefreut!
Endlich ohne die Kinder!
Nicht mehr zur Hauptsaison…
Am zweiten Tag hatte er, Werner, eine Nachricht erhalten.
An der Rezeption.
Sein älterer Sohn Dieter hatte um Rückruf gebeten.
Dieter war Student.
Und selber auch nur vom Hausarzt verständigt worden.
Opa liegt wieder im Spital.
Anscheinend hat er eine Thrombose…
Im linken Bein!
Sie beide hatten den nächsten Flug nach Hause genommen.
Er, Werner, erinnerte sich genau.
Was ihm durch den Kopf gegangen war.
Er war voller Sorge gewesen.
Im Krankenhaus dann Entwarnung.
Nichts Großartiges.
Die leichte Schwellung hatte nichts zu bedeuten gehabt.
Aber sein Vater.
Der hatte sich wieder wohl gefühlt.
Im Spital.
Wie ein Fisch im Wasser.
Bei den Krankenschwestern.
Und der großartigen Betreuung…
Werner schüttelte den Kopf.
Und alle waren sie so nett zu dem alten Narren.
Dem es offenbar Spaß machte.
Sohn und Schwiegertochter den Urlaub zu versauen…
Von der unnötigen Aufregung gar nicht erst zureden!
Werner sperrte die Haustür auf.
Aber gegen den alten Mann waren sie machtlos.
Sie alle…

Vivienne

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Silvia Pree).
Der Beitrag wurde von Silvia Pree auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Silvia Pree als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Gute Nacht, Doris von Michael Roth



14 Short Stories-inklusive der Schauergeschichte von "Gute Nacht, Doris" erwarten den Leser von Michael Roth.
Er begeister, nimmt den Leser gefangen und entführt ihn in andere Welten. Und immer finden die Geschichten einen überraschenden Abschluß... Lesenswert!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Silvia Pree

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Du wirst dich nie ändern! von Silvia Pree (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Mit seinem Namen leben von Norbert Wittke (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Meine Bergmannsjahre (sechster Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen