Wolfgang Lörzer
Lieberwaichs Geschichten vom Augenblick
Lieberwaich kenn' ich seit Jahren,
er ist ein alter Freund von mir.
Ich habe viel von ihm erfahren.
Und einiges erzähl' ich hier.
1. Konventionelle Lüge
Lieberwaich spazierte durch die Innenstadt. Als er die große Buchhandlung sah, beschloss er, sie zu betreten, um dort ein wenig zu stöbern.
Er wollte gerade durch die breite Eingangstür gehen, da stürmte eine junge Frau heraus und lief ihm direkt in die Arme. "Oh, wie hübsch sie ist!" dachte er, während er sich von dem angenehmen Zusammenprall erholte. Die junge Frau sagte verlegen: "Entschuldigen Sie bitte!"
Lieberwaich erwiderte freundlich: "Bitte." Aber während er das sagte, dachte er: "Nein! -
Danke."
2. Selbst ist der Mann
Lieberwaich besuchte seinen Anlageberater auf der Bank. Herr E. wollte wieder einmal eines seiner besonderen Anlageprodukte an den Mann, also auch an Herrn Lieberwaich, bringen. Aber Lieberwaich war nicht zu überzeugen. Da unternahm Herr E. einen letzten Anlauf: "Sie können natürlich auch zu äußerst günstigen Bedingungen das Depot von uns führen lassen. Sie haben sich dann um nichts mehr zu kümmern. Alles übernehmen wir für Sie!" Lieberwaich erschrak. Als die Schrecksekunde schließlich um war, ließ er Herrn E. wissen: "Ich begehe meine Fehler lieber selber, als sie durch andere für mich begehen zu lassen. Zumindest diesen Fehler begehe ich nicht. Vielen Dank."
Daraufhin verabschiedete sich Lieberwaich, wünschte einen schönen Tag und verließ gelassen, ja fast heiter, den hilfsbereiten Anlageberater.
3. Gute Nacht
Lieberwaich hatte sich fest vorgenommen, um 12 Uhr ins Bett zu gehen. Vorher wollte er noch ein paar Gedanken zu Papier bringen. Als er um 2 Uhr auf die Uhr schaute, entschied er: "So, jetzt gehe ich ins Bett. Wie geplant. Nach meiner i n n e r e n Uhr ist es jetzt genau 12." Zufrieden schlief er ein.
4. Das Telefongespräch
Lieberwaich wählte die Nummer einer Freundin. Als sich diese am anderen Ende der Leitung meldete, begrüßte er sie und fragte: "Hast du einen Moment Zeit?" "Ja", antwortete S. und Lieberwaich begann ein Gespräch.
Nach mehr als drei Stunden Gedankenaustausch verabschiedete sich Lieberwaich von der Freundin und legte auf. "Das war jetzt aber ein schöner langer Moment", dachte er und schob lächelnd das Telefon beiseite.
5. Endlich!
Lieberwaich schrieb einen Text über sich selbst. Zu seiner Inspiration hörte er Arien aus "Don Giovanni" und trank ein Gläschen lieblichen Rosé. Nein, es waren drei! Und die wirkten. Schließlich lag ein Text vor ihm, der seinen Vorstellungen entsprach. Er las ihn mehrmals laut, achtete auf den Klang der Worte und griff zärtlich nach dem Blatt: "Jetzt habe ich mich selbst in der Hand. Endlich!"
6. Begegnung
Lieberwaich verließ gerade den Supermarkt. Da kam eine junge Frau auf ihn zu und sprach ihn an. "Herr Lieberwaich, erkennen Sie mich nicht? Ich war einmal Ihre Schülerin. Das ist jetzt vielleicht schon acht, neun Jahre her." Lieberwaich schaute die junge Türkin an. Sie kam ihm bekannt vor, aber er hatte ihren Namen vergessen. "Können Sie mir bitte sagen, wie Sie heißen? Ich kann mich nicht mehr an Ihren Namen erinnern." "Ich heiße Bahar", sagte die junge Frau. "Hat das im Deutschen eine Bedeutung?" fragte Lieberwaich. "Ja", strahlte sie, "es bedeutet Frühling". Dann ließ sich Lieberwaich von Bahar noch erzählen, was sie zur Zeit macht und verabschiedete sich kurz darauf.
Als Lieberwaich nach Hause kam, fiel sein Blick auf das Kalenderblatt und er stellte fest: "Merkwürdig, heute ist Frühlingsanfang, und ich bin dem Frühling persönlich begegnet."
(c) Wolfgang Lörzer / 2006
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.07.2008.
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