Joachim Nagel

Der Lappen

Er legte seinen Kopf auf das Kissen, nachdem er es sorgfältig einmal in der Mitte in Längsrichtung geknickt hatte, so dass es höher wurde und weicher. Manchmal schlug er noch zusätzlich eine Ecke zur Mitte hin um, damit sein Kopf noch etwas höher zu liegen kam. Nur so konnte er, wenn überhaupt, einschlafen.
Nun sank sein Haupt in diese weiche Stütze aus Kunstfaserflocken, dies stand auf dem Aufnäher, als er dieses Kissen vor einiger Zeit bekam. Allerdings war er selbst beim Kauf nicht dabei gewesen und auch den Aufnäher hatte er nie gesehen, solche Dinge erledigte immer seine Frau, aber sie hatte es ihm mitgeteilt, also gab es für ihn auch keinen Zweifel daran, das es sich um Kunstfaserflocken handelte. Zuerst jedoch ärgerte er sich darüber, hätte er doch viel lieber ein Daunenkissen, wie das alte, bekommen, denn das ließ sich viel besser knicken und zusammendrücken und behielt diese Form viel länger, so, wie er es zum einschlafen brauchte. Auch der Zeitpunkt des Kaufes erschien ihm allzu früh, war doch das alte Kissen aus seiner Sicht noch völlig in Ordnung und es erschien ihm nicht nötig, es durch ein neues zu ersetzen. Aber, und hier gab es für ihn keinen Grund darüber zu streiten, bewertete seine Frau die alte Bettwäsche als zu alt und sie rieche schon etwas. Er selbst hatte einen schlechten Geruch nie bemerken können. Außerdem war die neue Garnitur ein besonders günstiges Angebot des Wäschehauses und man nimmt heute keine Daunen mehr, wegen der Gänse und sie sei viel besser für Allergiker geeignet, obwohl in seinem Haushalt niemand auf irgendetwas je allergisch reagierte.
In den ersten Tagen mit dem Neuen Kissen konnte er sich zwar jeden Abend aufs neue über dessen Unbeugsamkeit ärgern, bis er sich dann doch, nach ein paar Wochen schlaflosen hin- und her Werfens und vergeblichen Knautsch- und Drückversuchen, ein anderes Liegeverhalten angewöhnt und andere Knickvarianten erdacht hatte, sein neues Kissen hinnahm. So, wie es ihm seine Frau ja auch schon prophezeit hatte. Die alte Daunenstütze war vergessen und die halbe Stunde länger dauernde Einschlafprozedur störte ihn nicht mehr.
Herbert H. legte also nun seinen Kopf in die endlich weicher werdenden Kunstfaserflocken und schloss die Augen. Seine Frau wollte erst noch, den ihn langweilenden Krimi, bis zu dessen, ihm gleichgültigen, Ende verfolgen und dann auch zu Bett gehen. Vielleicht schlief er dann ja schon, aber er rechnete nicht besonders fest damit.
Aus dem benachbarten Wohnzimmer konnte Herbert, nachdem er selbst keine Geräusche mehr machte, leise Fernsehtöne wahrnehmen und sich einreden, das diese heute daran Schuld waren, nicht einschlafen zu können. Er drehte sich auf die andere Seite, nicht ohne vorher die andere Ecke seines Kissens heruntergeknickt zu haben, und verfluchte für einen ganz kleinen Augenblick seine Frau. Noch mehrere male ging dies heute Nacht, er drehte sich hin und her, zog mal diese und mal jene Ecke des Kissens unter seinen Kopf und schlief ein, noch ehe seine Frau den Mörder des Krimis kannte.
Herbert bemerkte nichts von ihrem zu Bett gehen und war auch nicht von den, auch ihn bewegenden, sich in die Richtige Schlafposition bringenden, Verdrehungen seiner Frau, aus seinem Tiefschlaf zu holen. Sicherlich träumte er einen von seinen, als Traum wahrgenommenen, aber nicht zu erinnernden, Träumen, die er immer träumte. Jeden morgen wusste er, dass er geträumt hatte, aber konnte dessen Inhalt nicht erinnern.
An diesem nächsten morgen war jedoch etwas ganz anders, als sonst. Zum einen konnte er den Wecker nur wie gedämpft hören und zum anderen nicht sehen. Alles blieb dunkel, auch, nachdem Herbert die Augen geöffnet hatte. Als er dann den Kopf in die Richtung bringen wollte, aus der er das dumpfe Piepen vernahm, konnte er es nicht, denn er hatte plötzlich keinen Hals mehr und auch keinen Kopf. Die Hände waren verschwunden, mit denen er sich die, wie er aus seiner plötzlichen Blindheit schloss, Decke vom Gesicht ziehen wollte und auch Beine hatte er nicht mehr, die ihm strampelnd das Licht wiederbringen sollten. Also schrie er, das heißt, er wollte es, aber den Mund, mit dem er dies tun wollte war ebenso nicht mehr vorhanden, wie alles andere, was er an sich kannte, auch nicht. Verzweifelt versuchte Herbert irgend etwas zu tun, sich in irgendeiner Form zu bewegen, umdrehen, sich hinsetzen, den Rücken aufbäumen, etwas an seiner Lage zu verändern, zu atmen. Nichts ging mehr. Er blieb im Dunkeln und konnte nichts. Doch, halt, er konnte den Wecker hören, der immer noch summte und ganz seitlich von ihm, nur ganz schwach, sah er etwas, was wie hell wirkte, also Licht, vielleicht konnte er ja noch sehen oder schon wieder sehen, was eben grade auch nicht möglich war. Das macht ihm Hoffnung, vielleicht ist es ja nur so ein blöder Krampf, wohl wegen des beschissenen neuen Kissens, weil er damit ja wirklich immer noch nicht entspannend schlafen konnte. Ja, ein Krampf, munterte es ihn nun auf, und der geht gleich wieder weg, Krämpfe hat man immer mal wieder und immer sind sie besonders unangenehm, aber sie verschwinden auch immer wieder. Der Wecker summte und Herbert wartete auf das Ende seines Krampfes. Er versuchte, um der Verspannung schneller zu entkommen, sich völlig ruhig auszustrecken und, wie er es einmal in einer Zeitschrift gelesen hatte, Wärme in alle seine Glieder zu schicken und tief und ruhig ein und aus zu atmen. Atmen ging nicht und die Wärme gelangte nirgendwohin, da es nach wie vor nichts an ihm gab, wohin er sie hätte senden sollen.
Der Wecker summte. Der helle Fleck blieb, wo er war. Der Krampf wollte nicht enden, wenn es denn einer war, zweifelte er nun, da er ja auch keine Schmerzen verspürte und das hatte man doch bei schlimmen Krämpfen sonst jedes Mal, er konnte sich an einige Wadenkrämpfe erinnern und die hatten höllisch weh getan, dieser nicht.
Nach ein paar Minuten bemerkte Herbert, das er sich doch irgendwie bewegen könne musste, denn er konnte das Helle mal ganz links von sich, kaum wahrnehmbar, erkennen und mal etwas weniger links und dann aber etwas deutlicher sehen. Also, gucken kann ich, registrierte er freudig, aber ich habe keine Augen, die ich fühlbar bewegen kann, realisierte er enttäuscht.
Der Summton wurde nach und nach leiser und klang etwas gequält, als ein neues Geräusch an sein....... Ohr? Drang. Ich habe doch keine Ohren, entgegnete er sich selbst um sich zurechtzuweisen. Aber er hörte etwas laut und deutlich, was er schon lange kannte, die nahenden Schritte seiner Frau, ein leises, aber doch schweres Dumpfen ihrer Füße, die ein nicht zu verachtendes, seit mehreren Jahren bestehendes Übergewicht tragen mussten, in seine Richtung, das Schleifen der Schlafzimmertür und dann ein Patsch, welches den Wecker verstummen ließ. Herbert riss seinen Mund so weit er konnte, nicht auf, denn den gab es ebenso wenig, wie Lungen oder Stimmbänder, noch einen Hals oder einen Körper, der irgendetwas von, was? , umgab. Herbert hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, aus nichts mehr zu bestehen, aber dieses Nicht konnte sehen und hören. Bin ich tot? , dachte er, oft hatte er schon davon gelesen, dass man als entschwindende Seele ständig über dem eigenen Körper schweben solle, wenn man gestorben ist und das man dann auch noch alles sehen könne, was mit einem geschah, aber von über sich schweben und sich selber sehen zu können schien er sehr weit entfernt zu sein, auch bemerkte er jetzt, das er noch irgendwie körperlich vorhanden sein musste, denn etwas drückte ihn, lag auf ihm und aufgrund des Wissens des Ortes, Schlafzimmer, und der Nähe des Weckers, schloss er, das es seine Bettdecke sein musste, die auf ihm lag.
Seine Frau rief nach ihm und tapste dabei im Schlafzimmer umher, öffnete sogar den Kleiderschrank und prüfte, ob das Fenster geschlossen war. Dann verschwand sie in die anderen Räume ihrer Wohnung um rufend nach ihm zu suchen. Herbert begann zornig zu werden, unter seiner drückenden Decke, welche er in keiner Weise bewegen konnte, und normalerweise müsste jetzt Hitze in ihm hochsteigen und der emporschießende Blutdruck Röte in das Gesicht treiben. Nichts stieg jedoch hoch und einen wahrzunehmenden Blutdruck gab es nicht, auch keine Fäuste zum ballen oder Schläfen, die anschwollen. Der Druck der Decke jedoch wurde heftiger und unangenehmer, genauso, wie das Gefühl des Eingesperrt seins und der völligen Hilflosigkeit. Der Zorn wich und schaffte Raum für eine weinerliche Traurigkeit, aber Herbert rechnete nicht mit Tränen, wie auch ohne Augen und ohne Kopf und ohne Körper. Nur der verdammte Druck der blöden neuen Decke, die ihm seine, an den total falschen Plätzen, nach ihm suchende Frau, nur um irgendwelchen Gänsen das Leben zu retten, aufgezwungen hatte, dieser Druck wurde unerträglich.
Dann endlich nahten sich ihre Schritte wieder seinem Bett und seiner eingepressten Lage. Sie musste jetzt direkt neben ihm stehen und war auf einmal ganz still. Herrgott, schau unter die Decke, du blinde Nuss, dachte Herbert noch, als es plötzlich Blitzhell wurde und er, von der hochgerissenen Decke im Sog empor geschleudert wurde, ein Stück durch die Luft taumelte, mit dem, was an ihm sehen konnte gegen die Spiegeltür des Kleiderschrankes knallte, den er auch ganz kurz, aber ganz deutlich erkannte und an welchem er herunterrutschte und, völlig zusammengeklappt vor dem Schrank liegen blieb. Dann war Ruhe. Nichts tat ihm weh, was auch. Aber etwas anderes erschreckte ihn und tat sogar mehr weh, als alles, was ihm bis heute Schmerzen bereitete, er hatte beim Flug durchs Schlafzimmer etwas gesehen, in der Spiegeltür sah er es, kurz bevor er dagegen schlug und herunterfiel, er hatte sich selbst gesehen, jedenfalls etwas, das nicht aussah, wie er sonst immer ausgesehen hatte, was er aber dennoch irgendwie kannte und er wusste in dem Moment ganz genau, das er selbst es war, den er sah. Auch jetzt noch konnte Herbert mit einem Teil dessen, was an ihm sehen konnte, sich selber anschauen, er war, wie sonst sein Kissen, in der Mitte zusammengeklappt und er erkannte die eine Hälfte eines Stückes bunten Stoffes, ein Lappen, irgend so ein Tuch mit Fransen.
Nichts von dem, was er vor sich sehen konnte, erinnerte Herbert an sich selbst, er hatte sich so noch niemals wahrgenommen und doch gab es diese wissende Sicherheit, die man hat, wenn man in einen Spiegel schaut, dass man es ist, denn auch hier kann es Überraschungen geben, immer dann, wenn das sichtbare Bild im Spiegel nicht allzu sehr mit dem erwarteten übereinstimmt. Aber was auch immer jeder selbst im Spiegel sieht, es wird immer als man selbst erkannt, auch wenn es uns manchmal allzu fremd erscheint.
Herbert schaute sich an und schaute sich an, denn er konnte sich sowohl von oben herab, also von der Decke des Zimmers zum Teppichboden hin, aber auch aus der Perspektive des Teppichs zur Decke hin gleichzeitig sehen und erkannte ein auf der einen Seite beginnendes Muster gewebter, bunter Linien die sich auf der anderen Seite fortsetzen. Am Rand hatte Herbert Fransen. Ringsumher, vermutete er, denn die erkennbaren Strukturen ließen darauf schließen.
Auch konnte er in dieser Lage Teile des Teppichs sehen, auf dem er zusammengefaltet gelandet war, und auch zur Decke hoch, in geraden Linien am Bett entlang. Aber nichts ließ sich verändern, seine Lage nicht und auch der Blickwinkel blieb, wie er war. So sehr Herbert sich auch anstrengte, er konnte nichts bewegen und das sogar, nachdem er gerade noch geflogen war, was er ja sonst auch nicht konnte. Aber geflogen? Nein, da hatte es keine kraftvollen, schwingenden Bewegungen gegeben, kein Absprung und galanter Flug mit perfekter Landung, nein, der Sog einer ruckartig hochgezogenen Bettdecke hatte ihn durch die Luft geworfen, ohne jeglichen eigenen Willen, einfach nur geschmissen, ein Stück durch die Luft, an den Spiegel und dann plump zu Boden, halb auf sich selbst gefallen und hier lag er noch immer und konnte noch immer nichts! Lag nur da, auf irgendwelchen Wahrnehmungsorganen, welche er wohl zu Hunderten oder tausendfach besitzen mochte, die sehen konnten, und hören, ja hören, dachte Herbert, die Schritte seiner Frau! Und dieses Rauschende knittern des Bettzeuges beim Start des Fluges und der platte Plumps am Spiegel, ja, auch so ein dumpfes Fluff als er gefaltet landete! Und denken, dachte er nun, als er jetzt resümierte, was ihm geblieben war von ehemals zahllosen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Vor Freude darüber, sehen und hören und denken zu können, hätte Herbert am liebsten laut aufgeschrieen, mit beweglichen Armen seine Frau umschlungen und Lippen auf ihre Wange gedrückt, kräftige Muskeln die sie dann durch die ganze Wohnung trugen, wohl in jedes Zimmer, die Wangen angespannt vom Lachen, weit aufgerissene Augen, küssende Lippen, laufende Beine mit beweglichen Füßen und Knien, Hände die hielten, pochendes Herz in der Brust und im Hals und in den Schläfen, Schweiß auf der Haut und Schwindel im Kopf vom immerzu drehen und drehen und drehen.
Herbert nahm etwas neues wahr! Ein Geräusch! Schritte seiner Frau! Sie kam um das Bett herum auf ihn zu! Freude! Sie würde ihn jetzt gleich sehen können müssen! Ihr Leib verdunkelte etwas den Lichteinfall durch das Fenster, es wurde ein wenig dunkeler, fast musste sie bei ihm sein, er wusste es jetzt ganz genau, denn die Dunkelheit nahm zu und damit ihre Nähe! Und dann begann es an einigen seiner “Augen” völlig schwarz zu werden und lautes Schaben ging ruckartig in Taubheit einer Hälfte von sich selbst über. Herberts Frau war auf ihn gelatscht, hatte ihn betreten und stand nun auf ihm.
Er sah dicht bei sich die Sohle ihrer Schuhe, unwirklich vergrößert, wie eine hohe Mauer, aber ganz deutlich, fast wie unter einer Lupe, hochaufragendes Gummi. Und weiter oben eine fleischige Wade, ein Knie, schon etwas undeutlicher und verdunkelte die Ansätze ihrer Schenkel, sie trug einen Rock.
Wieso kein Schmerz? Kein Druck? Immerhin stand seine leicht übergewichtige Frau mit einem Fuß auf ihm und drückte einige seiner Fasern in ihn hinein, wohin auch immer.
Warum sieht sie mich nicht, dachte er wütend ohne Pulsanstieg. Sieh mich doch! Sieh, worauf du stehst! Auf mir, auf Herbert, auf meinen Augen, du stehst auf deinem Mann! Bück dich, oder schau nach unten, sieh mich, schrie es in ihm, sieh den Lappen auf den du getrampelt bist!
Seine Frau bückte sich hinunter, hob das vor ihr liegende Tuch auf und legte es auf ihrer Hand auseinander. Sie schaute zurück zum Bett und dann wieder auf das Tuch, wobei sie es auf und ab schwang, als wolle sie es wiegen, schob dann ihre Augenbrauen zusammen und schüttelte ihren fleischigen Kopf.
Du willst wissen, wo ich bin! Du fragst dich, ob ich schon aus dem Haus und zur Arbeit gegangen bin, weil du doch schon in allen Räumen gewesen bist und alles schon gesehen hast, heute morgen, nur mich nicht! Aber ich bin hier! Auf deiner Hand, ich liege auf deinen Fingern und meine Ecken hängen herunter und meine Fransen schaukeln!
Das Schwingen wurde ruhiger und Herbert sah, wie seine Frau ihren Mund zur Seite hin verlängerte und damit ihre Wangen aufwölbte. Sie lächelt! , schoss es Herbert durch den. die Fasern. Warum lächelt die? Ist es zum lächeln, wenn es mich nicht mehr gibt? Wenn ich ein Tuch bin und schlapp auf deinen Fingern liege? Lächelst du, wenn ich heute Morgen nicht meinen Körper aus dem Bett erhoben habe und nicht meine Lenden kratzend ins Bad gegangen bin, weil ich die Beine nicht mehr hab zum Laufen und nichts zum Kratzen da ist? Geh doch ins Klo und sieh, das der Deckel nicht hochgeklappt ist und mein Schlafanzug dort nicht liegt und das Waschbecken keine Zahnpastaflecken hat, weil ich heute noch nicht aufgestanden bin, denn ich kann heute nicht aufstehen, weil ich auf deiner Pfote liege! Hör auf zu grinsen und geh ins Klo und sieh nach!
Herbert versuchte schon nicht mehr zu rufen und glaubte stattdessen, er solle nun ganz besonders laut denken, was er sonst hätte sagen wollen. Er dachte dies alles so laut er konnte.
Seine Frau verließ mit Herbert auf der Hand das Schlafzimmer und ging ins Bad. Sie schaute auf den Deckel der Toilette, suchend auf den Boden und ins Waschbecken. Wieder schüttelte sie ihren Kopf, aber ihr Lächeln blieb.
Weiter trug sie ihn, hängend auf ihrer fleischigen Hand und wippte ihn mit ihren Bewegungen auf und ab.
Im Wohnzimmer nahm sie eine Vase von der Anrichte und legte Herbert genau auf die Mitte der glatten Fläche, so das zwei seiner Ecken von dem Möbel herunterhingen, eine nach vorn zum Fenster und die andere nach hinten, zur Wand. Dann strich sie Herbert glatt und stellte die Vase zurück, genau auf seine Mitte. Rückwärtsgehend entfernte sie sich ein Stück, stützte sich die Hände auf ihre Hüften und betrachtete ihre neue, hübsche Errungenschaft. Was sie sah, schien ihr zu gefallen, denn mit einem entschlossenen Nicken verließ sie den Raum. Herbert ließ sie allein, platt und glatt gestrichen, mit einer Vase bestellt.
Herbert konnte sie hören, sich bewegen hören im Flur, etwas links und ein Stück hinter ihm musste sie sein, da war der Flur aber Herbert wusste im Moment nicht mehr, wo bei ihm selbst links und rechts oder hinten oder vorne war.
So lag er da und starrte zur Decke aber auch irgendwie nach vorn, zum Fenster und hinten zur Wand und alles gleichzeitig und immerzu. Die Augen, oder mit was auch immer ich sehen kann, ich kann sie nicht schließen, dachte er nun, auch nicht zur Seite bewegen und nicht auf etwas richten, kein schielen oder die Augen rollen. Nichts kann ich mehr, nur hier liegen, wie ich hergelegt wurde, immer das gleiche Bild vor den, Fasern? , mitten drauf eine Vase, genau auf meiner Mitte und nicht mal das kann ich spüren, ich weiß es nur, weil ich es sehe! Die Vase sehe ich und die Decke, das Fenster mit dem blöden Grünzeug, worum ich mich noch nie gekümmert habe und den Tisch, das Sofa, das ich gestern vielleicht zu früh verlassen habe um schlafen zu können, damit ich morgen, also heute, ausgeschlafen bin um meine Arbeit im Büro fröhlich und munter anzutreten. Arbeit? Meine Kollegen! Vielleicht rufen die hier an, weil ich nicht da bin, um zu wissen, wo ich bleibe, weil ich doch sonst immer so pünktlich bin und immer bescheid sage, wenn ich krank bin und zum Arzt gehe. Sie werden anrufen und dann wird sie es wissen, sie wird sich fragen, wo ich bin und nach mir suchen, noch mal genauer schauen und mich hier finden, auf der Anrichte, mit der Vase in der Mitte.
Und dann?
Sie wird zu mir herunterschauen, mit dem blöden Blick, der nichts begreift, gaffen, mit offenem Mund und Fragefalten auf der Stirn, sie wird mich sehen und nicht wissen das ich es bin, dieses Tuch, dieser scheiß Lappen auf ihrer Anrichte und ich kann mich nicht bemerkbar machen, nicht rufen oder winken oder brüllen oder zappeln oder platzen vor Wut oder mit den Füßen trampeln oder Wellen machen oder mit meinen herunterhängenden Ecken schaukeln oder weinen.
Das Telefon klingelte im Flur.
Meine Kollegen! Sie rufen an, hab ich´s doch gewusst, sie vermissen mich und wollen wissen, wo ich bleibe, weil ich nicht angerufen habe, das ich fehlen werde und zum Arzt gehe und sie können meine Arbeit liegen lassen. Ich werde nicht so lange fehlen und hol das schon nach, sie sollen sich keine Sorgen machen, vielleicht ist es ja schon morgen besser und dann bin ich wieder da und alles ist in Ordnung.
Sie spricht mit ihrer Freundin aus dem Nachbareingang. Sie freut sich, sie zu hören und natürlich will sie jetzt auch Einkaufen gehen, ja, sie hat Zeit und wird nicht gestört. Und was sie erzählen muss! , sie hat ein Deckchen bekommen, von Herbert, jaaa, von Herbert, ja, das hat sie auch gewundert. Unter der Decke im Bett! Heute morgen! Herbert war schon weg, weiß auch nicht warum, ist das nicht nett? ! Na dann zieh ich mich mal an und.... was? Ja, doch, den können wir hier bei mir lassen, klar, der ist doch ruhig und kennt die Wohnung und dein Junge hat seine Ruhe, ja, also bis gleich.
Jetzt auch noch die Nachbarin! Und wen wollen sie hier lassen, der sich hier auskennt, damit der Junge seine Ruhe hat? Die Nachbarin! Zum Einkaufen! Und an den Jungen denken die! Damit der seine Ruhe hat! Und wer denkt an mich? An meine Lage? Ich liege hier, flach auf der Anrichte, mit dieser scheiß Vase auf meinem, meinem...., egal, komm jetzt her und finde mich gefälligst! Ich bin kein Geschenk an dich von mir! Ich bin es selbst, ich bin das Geschenk, Herbert bin ich und ich habe die Schnauze voll hier herumzuliegen und nicht mal die Schnauze zu haben und nichts mehr zu können und nichts mehr zu sein.
Ich will jetzt aufhören zu träumen! Ja, das ist es! Manchmal ist es mir doch schon gelungen in schlechten Träumen einfach aufzuwachen, wenn es zu brenzlig wurde oder wenn man fast stirbt, im Traum.
Irgendwann hatte Herbert irgendwo gelesen oder er hatte es von jemandem erzählt bekommen, man könne nie seinen eigenen Tod träumen, man wache immer vorher auf.
Also muss ich jetzt einfach nur stark genug aufwachen wollen, ich muss es mir nur ganz richtig vorstellen und unbedingt wollen und dann werde ich wach, ich werde mich noch eine kleine Weile nicht orientieren können, aber dann werde ich mich strecken, noch im Bett, im Liegen, strecken, bis mir alle Glieder Schmerzen und ich werde die Decke von mir strampeln und den Kopf drehen und mir die Augen reiben, bis sie brennen und kneifen! Ja, ich kneif mich selber, bis es weh tut, bis es blau wird! Ich springe dann aus dem Bett und renne um das Bett herum, durch die ganze Wohnung renne ich und werde laut rufen und brüllen, bis es schallt und meine Ohren dröhnen von meiner eigenen Stimme....
Herbert wurde wach. Er hatte geschlafen! Er hatte wirklich geschlafen und hatte sich gewünscht zu erwachen, es war ihm gelungen! Es war also doch nur ein Traum, einer der Schlechtesten, die er je hatte! Es konnte ja auch nur ein Traum gewesen sein, dieser üble Zustand, man konnte doch nicht so mir nichts dir nichts morgens aufwachen und ein Tuch sein oder ein Stuhl oder etwas anderes, als das man war, als man einschlief!
Über sich und auf ihm, genau in seiner Mitte befand sich ein Schatten, in der Mitte und es war rund. Die Vase! Sie stand noch immer auf ihm, wie vorhin und er lag noch immer auf der Anrichte im Wohnzimmer, wie vorhin und die Ecken hingen herunter und seine Fransen schaukelten, weil das Fenster geöffnet war und es im Zimmer zog. Eine Seite blickte zu Decke, eine Andere hinten zur Wand und eine ins Zimmer, wie vorhin, nur das dort, auf dem Teppich ein Hund saß, ein Boxer, Lester, der Hund der Nachbarin! Herbert hatte wirklich geschlafen, eine ganze Weile sogar, er hatte nicht bemerkt wie die Nachbarin geklingelt, die beiden Frauen sich begrüßt und den Hund abgeladen und dann die Wohnung verlassen hatten!
Er hatte wirklich geträumt und wollte wirklich wach werden, um das zu sein, was er vorher gewesen war, nur das Herbert eben ein Lappen war, der eingeschlafen war und nun wieder als Lappen auf der Anrichte erwachte, mit dem Köter im Zimmer. Nichts war anders, nicht so, wie Herbert es sich gewünscht hatte. Der Lappen hatte geträumt und sich gewünscht als dieser wieder zu erwachen.
Herbert sah den Hund vor sich. Er saß auf dem Teppich vor der Anrichte und legte immer wieder den Kopf von der einen zur anderen Seite und schien Gefallen an den sich im Luftzug bewegenden Fransen von Herbert gefunden zu haben.
Ein lautes Wuff fuhr Herbert in die... Fasern und ließ ihn richtig wach werden. Der Boxer kam, den riesigen Kopf hin und her drehend näher, aus seinen Mundwinkeln rann Speichel und blieb schwingend nach einigen Zentimetern einfach in der Luft hängen.
Die schwarze Nase des Hundes wurde jetzt riesengroß für Herbert, so das er die kleinen Poren auf ihr erkennen konnte und auch die weißen Zähne hinten im geöffneten Maul.
Und dann ging alles ganz schnell. Das Maul schloss sich, einige Zentimeter an Herbert wurden dunkel und dann schien sich die Zimmerdecke zu bewegen und Vase veränderte plötzlich ihre Lage, Herbert sah für Bruchteile von Sekunden die Anrichte von vorn mit den Schubladen, den Boden auf dem der Hund eben noch gesessen hatte, die Decke, das Fenster, Fernseher, Boden, Decke, Hundefell, Sabber, Anrichte, Fenster, Hundeschnauze. Krachend zerschellte die Vase auf dem Boden. Herbert hörte und sah schlotzenden Sabber auf sich und um sich herum und überall, das Zimmer flitzte an ihm vorbei und der Flur und wieder das Wohnzimmer, er flog plötzlich hoch in die Luft um dann wieder in der Schnauze des Boxers zu landen und auf das heftigste geschüttelt zu werden. Alles kreiste um ihn herum und er sich um alles. Flitzte meterweit durchs Zimmer, in irgendwelche Ecken, Hundepfoten sprangen auf ihn, mal glatt, geknickt und gerollt, Sabber saugend und Staub behaftet endete Herbert jedoch immer wieder in der immer stärker tropfenden Hundeschnauze. Minutenlang ging das, durch alle Zimmer und jede Ecke, wieder und wieder, immerzu.
Plötzlich Ende. Herbert lag zusammengeklappt, irgendwo, nass klebend, aufeinander gelegt und konnte nun nichts erkennen. Wo war der Hund? War der Höllenritt vorbei? Erwache ich jetzt vielleicht, dachte Herbert. Bin ich jetzt doch im Bett und es ist noch Nacht und ich kann deshalb nichts erkennen?
Noch einmal klapperte der Schlüssel im Schloss und die Wohnungstür schwang auf, wobei sie Herbert, der vor ihr gelegen hatte, schleifend über den Boden im Flur bis ganz an die Wand schob. Dabei klappte er ein wenig auseinander, so das er, durch einen schleimigen Film wieder etwas erkennen konnte, nachdem die Tür wieder geschlossen war.
Der Boxer befand sich ganz flach zusammengekauert etwa einen Meter von Herbert entfernt, dicht an der Wand des Flures und dazwischen Herberts Frau und die Nachbarin, deren Sohn wohl einige Zeit seine Ruhe gehabt hatte. Herbert lag hell beleuchtet und sah, das die beiden Frauen ihn sehen konnten, er hörte, wie sie anfingen den Hund zornig zu beschimpfen und sie griffen nach dem Tuch um es dem Hund ganz dicht vor die Nase zu halten und begannen diesen im Nacken heftig schüttelten, wie auch Herbert mit eisernem Griff, zusammengeknüllt in einer Hand.
„Böser Hund, du bist ein böser Hund“ unter die Hundenase.
„Was soll ich jetzt mit dem Tuch machen?“ schütteln in der Faust.
„Was für ein unartiger Hund, pfui ist das!“ Hundenase.
„Wenn Herbert das Tuch sieht!“ Faust.
„Was hast du da gemacht!“ Nase.
„Das bekomme ich dich nie wieder sauber!“ Faust.
„Vielleicht kann man es waschen?“
„Den ganzen Staub und Dreck?“
Herbert wurde auseinandergeklappt und von vier Händen gehalten.
„In der Maschine, bei 30 Grad, da kann nichts passieren.“
„Na ja, kaputt scheint es ja nicht zu sein.“
Herbert schwang durch die Luft, ganz nah an die Lampe im Flur.
„Im Wollprogramm wird es wohl gehen.“
„Böser Hund, du bist ein böser, böser Hund!“
Herbert sah plötzlich eine Hand auf sich niedersausen und wollte den Kopf instinktiv zur Seite drehen, was ihm natürlich nicht gelang. Die Hand schlug ihn und wollte dabei den gröbsten Dreck herunterputzen. Herbert spürte davon nichts und es war ihm auch schon egal, Schmerzen hatte er als Lappen nicht, das hatte er schon gemerkt, als der Hund ihn biss, aber etwas anderes begann ihm Sorge zu bereiten, die 30 Grad, das Wollprogramm, die Waschmaschine! Nicht das! Nicht in die Maschine, nicht im Wasser torkelnd und beseift herumgedreht und geschaukelt werden! Hinter der fest geschlossenen Glastür, in der engen Trommel zusammen mit schmutziger Wäsche, ständig wechselndes Oben und Unten, sehen und nicht sehen, mal an der Rückwand, mal gepresst am dicken Glas! Nicht drehen und drehen und hin und her getaucht werden in schaumigem, erstickendem Wasser, vermutlich 60 Grad Buntwäsche und gedreht und getaucht und gedreht....
Dröhnend schlug Herbert auf den Boden, mit dem Ellenbogen zuerst, heftiger Schmerz schoss ihm in die Hand und er schrie laut auf und fluchte, der ganze Arm tat ihm weh und der Knöchel jetzt auch und lautlos gleitend rutschte seine Decke ihm nach und jetzt auf das Kissen mit den Kunstfaserflocken.
Herbert war aus dem Bett gefallen. Auf den Arm. Und auf den Knöchel! Herbert hob ein Bein und ließ es wieder fallen! Es tat weh! Es tat wirklich weh! Er hob eine Hand und schlug sie heftig neben sich auf den Boden, autsch! Er schlug sich auf die Wange und drehte ganz fest an einem Ohr, er kniff sich so fest er konnte in den Oberschenkel und es tat heftig weh!
Herbert begann zu lachen! Ganz laut! So laut er konnte, drehte den Kopf und strampelte mit den Armen und Beinen. Er richtete sich auf und schaute sich um. Sein Bett war da und seine Frau lag darin, friedlich leise schnarchend und draußen begann es hell zu werden und jetzt piepte sogar der Wecker. Aber Herbert ließ ihn piepen. Er war jetzt richtig wach.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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