Sabine Rogge

Die kleine Seele

Es war einmal eine ganz kleine Seele, so klein und hauchzart wie die Frühlingsluft am Morgen.
Unberührt und frisch. Zerbrechlich wie die erste Rosenknospe.
Eine kleine Seele, so wunderschön und einzigartig in allem. Nichts ähnlicheres gab es auf der ganzen Welt.
Kleine Seelen muss man schützen und hüten. Kleine Seelen werden gern gestohlen.
Die Seele sah das erste Mal das Leben, ganz hell und bunt, gelblich und rot, viel blau und grün und sie sah all das um sich herum und es war erstaunlich. Sie sah andere Seelen und alle waren erstaunlich und anders, jede auf ihre Weise. Und sie lachte und fühlte sich leicht wie eine Feder, denn Seelen sind leicht, fliegen und sind schwerelos.
Kleine Seelen müssen lachen und singen und tanzen und die Welt kennenlernen und das Leben und die Sonne, denn kleine Seelen tanzen im Licht des Lebens und schnuppern den Duft der Freude.
Wenn es Nachts dunkel wird und kalt, schlafen die kleinen Seelen friedlich und träumen vom Tag, vom Licht und vom Tanz. Die kleine Seele lachte und manchmal stand sie Nachts heimlich am Fenster und zählte die Sterne, denn die Sterne waren ihre Freunde. Manchmal sangen die Sterne Lieder, die so schön waren, dass die kleine Seele fast weinen musste, denn die Sterne waren so weit weg und sie hätte sie so gern, wenigsten einen der Sterne in ihren kleine zarten Händen gehalten. Doch Sterne zerbrechen, wenn man sie vom Himmel pflückt uund das wusste die kleine Seele, deswegen stand sie ganz ruhig da und beobachtete die vielen Sterne.
Manchmal war sie viel zu lange wach, denn ein jeder Stern sah anders aus, kein Stern ist dem anderen gleich, manche Sterne lachen und manche weinen sogar und manche funkeln so hell, dass es fast blenden könnte, wenn sie nicht so weit weg wären.
In diesen Nächten fühlte sich die kleine Seele geborgen unter den Sternen, die ihr freundlich zustrahlten.
Sie und alle Seelen, sie waren alle vereint und es war warm und freundlich, das Leben.
Und dann passierte etwas seltsames, ganz geschwind wurde der kleinen Seele der Boden unter den Füßen weggerissen. Es ging schnell, oder doch ganz langsam?
Die kleine Seele hatte keine Erinnerung mehr, aber es ist alles anders, irgendwie ist sie schwerer geworden und irgendwie hat sich die Sonne vertseckt, die kleine Seele sucht, aber sie findet nichts. Sie wandelt des Nachts umher und die Sterne funkeln nicht mehr, dicke Wolken hängen davor und die kleine Seele fühlt sich einsam, keine Seele ist mehr da, nur Fäuste, immermehr Fäuste.
Die kleine Seele hat ein seltsames Gefühl, als müsste sie rennen, aber sie ist gefesselt, als müsste sie sich verstecken, aber alle Verstecke sind besetzt von grauen Monstern, als müsste sie sterben, aber selbst der Tod zieht sich vor ihr zurück. Die kleine Seele hat etwas, dass man Angst nennt.
Sie sieht kein grün mehr und kein gelb und weder hell noch dunkel, sie steht im Schatten auf der Suche nach der Sonne. Sie sucht nach der Frische des Lebens, aber alles ist grau und verwest, krank und tot, die Blumen sind zurückgewichen und das einst frische grüne Gras wich dem Beton. Die Seele will trinken und findet kein reines Wasser, sie will essen und doch kann sie nicht. Sie steht vor der Fülle des Lebens und kann nicht danach greifen, sie ist gefesselt. Sie möchte rufen und schreien, sie möchte all ihre Freunde versammeln, aber sie sind gewichen, sie möchte die Sterne anflehen aber ihre Schreie bleiben stumm. Sie ist gefesselt an einem Baum, er ist morsch und tot, sie wird gepeitscht und zerdrückt von der Wirklichkeit. 
Die kleine Seele fängt an zu zerbrechen, ganz langsam, erst in 2 Stücke und dann wird sie immer kleiner und stiller, sie ist gefangen in einem kleinen Käfig. Sie sitzt dort, ganz klein hat sie sich gemacht, sie kauert in der Ecke in ihrem kleinen weißen Hemdchen. Es ist feucht von den vielen Tränen, manchmal auch rot, weil sie Blut weint und manchmal ist es schwarz vom Schmutz. 
Ihr wurde all ihre Realität genommen, nur noch einen Fetzen trägt sie an sich und sie friert, obwohl sie in der Hölle sitzt. Wer hat die kleine Seele gefangen? Wer hat sie geschunden und wer hat sie erdrückt? Wer hat ihre zarte kleine Stimme genommen und ihre zerbrechlichen Hände gebunden? Wer hat ihr den Glanz aus den Augen geraubt und sie Sterne versteckt? Wer hat ihre Freunde belogen und ihr das Licht geraubt? Wer hat ihre Tränen genommen und wer hat sie so beschmutzt?
Die kleine Seele will sterben, denn sie ist allein und einsam und sie hat Angst im Dunkeln, denn sie kann nur in der Sonne leben. Sie ist zerbrochen und zerrissen, blutig, nass und kalt.
Sie freut sich wenn er sie holen kommt und wartet jeden Tag darauf. Bis jetzt hat er sich nicht gezeigt, aber sie weiß das er sie holt, denn ohne Sonne und Farben und Sterne und Freunde kann sie nicht leben...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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