Andreas Rüdig
Der Kastrat
Diese Stimme ist einfach nur göttlich, rein und
unschuldig. So gut wie Samuel kann niemand singen. Er ist der beste
männliche Sopran, den ich kenne. Oh, diese Klangfülle, dieses
Tonvolumen und diese Stimmreinheit - wenn Samuel mit dem Singen so
richtig beginnt, geht schnell Glas kaputt. Ich mußte schon so manches
Trinkglas ersetzen. Selbst eine Fensterglasscheibe ging zu Bruch.
Ist
mal eine Frauenstimme nicht besetzt, kann ich Samuel problemlos
einsetzen. Der Maskenbildner hilft mir dann, die entsprechende Kleidung
und Theaterschminke herauszusuchen. Der Mann tut mir richtig leid.
Samuel ist doch reichlich fettleibig und feist. Er hat so was
weibisches an sich, kaum Bartwuchs, weiche Gesichtszüge, ein femininer
Haarschnit - Samuel geht auch nicht zurechtgemacht als Diva durch. Die
Schminke ist nicht das Problem. Der Maskenbildner braucht so unendlich
viel Stoff, um Samuel einzukleiden.
Wie
Samuel es schafft, diese Stimme zu halten und zu pflegen? Ich habe
keine Ahnung. Für mich ist und bleibt Samuel ein Naturtalent.
Kastraten
sind Männer, die zeugungsunfähig sind, weil ihre Hoden entfernt wurden.
Wird ein Hoden im Kindesalter entfernt, kann der Körper keine
Geschlechtshormone bilden. Im Laufe der körperlichen Entwicklung können
daher die sekundären Geschlechtsmerkmale auch nicht entwickelt werden.
Die kindliche Stimmlage bleibt erhalten. Kastrierte Männer neigen zum
Fettansatz, da der Stoffwechsel verändert ist. Die sexuelle Begierde
kann abnehmen, wenn nicht sogar komplett verschwinden. Die Folgen der
Kastration sind von Person zu Person verschieden.
(Samuel)
Da drüben ist Carlotta. Sie ist die hübscheste Frau, die ich je gesehen
habe. Honigblonde Haare, ein hübsches Gesicht, hohe Wangenknochen,
kornblumenblaue Augen, eine schlanke, gerade Nase, ein voller,
sinnlicher Mund - sie entspricht voll und ganz meinem Schönheitsideal.
Ich habe auch schon mitbekommen, wie andere Männer behaupteten, sie
habe wunderbare Brüste, Sex - Appeal und wäre eine Klasse - Braut. Ich
würde sie ja gerne näher kennenlernen, eine Tasse Kaffee mit ihr
trinken, ins Kino und auf die Kirmes oder sonst was unternehmen. Aber
wie Kontakt zu ihr aufnehmen? Wie den ersten, alles entscheidenden
Schritt wagen? Mir fehlen doch die Erfahrungen mit den Frauen. Oh, als
Arbeitskollegen auf der Bühne am Theater kenne ich sie natürlich. Aus
dem Bio-Unterricht weiß ich, daß mir meine Männlichkeit fehlt. Das ist
auch der Grund, warum ich noch nie mit einer Frau intim wurde. Mir
fehlt also jegliche Erfahrung mit Frauen und dem Flirten. Was soll ich
nur machen? Ich werde zur Volkshochschule gehen. Dort gibt es einen
Flirtkurs.
(Carlotta)
Samuel sieht ja richtig süß aus, wenn er so herumdruckst. Ich weiß
zwar, daß ihm als Mann die entscheidenden Körperteile fehlen; das macht
aber nichts, da ich sowieso keine Kinder möchte. Ich werde also die
Initiative ergreifen müssen und ihn fragen, ob er mit mir einen Kaffee
trinken geht ... Doch was macht Kurt denn da?
(kurze Zeit später)
Sag mal, Kurt, was ist mir Dir? Du siehst so blaß aus?
Ach, Hosea - Timotheus, laß mich bitte. Ich hatte gerade das ultimative Schreck- und Schockerlebnis.
Wieso, was ist?
Du weißt: Ich war in die Sängerin der Ann-Kathrin verliebt. Heute
wollte ich ihr diese Liebe gestehen. Also ging ich zu ihr in den
Umkleideraum. Zuerst dachte ich, ich wäre in die falsche Garderobe
getreten. Vor mir stand nämlich ein fast nackter Mann...
... fast nackt?...
...ja,
er hatte nur eine Unterhose an. Der Büstenhalter fehlte. "Hallo Kurt,
was ist? Brennt`s," fragte die altvertraute Stimme. In einem Anfall von
Wahnsinn stürzte ich mich auf die vermeintliche Geliebte. Ich riß ihr
die Unterhosen herunter. Da erst bemerkte ich meinen Irrtum. Alles war
da, nur die Kinderproduktionsanlage fehlte. "Schau nicht so entsetzt,"
sagte der Mann. "Der Hoden fehlt krankheitsbedingt. Ich wußte ja nicht,
daß du... Warum hast du denn nichts gesagt..?"
Vorheriger TitelNächster Titel
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andreas Rüdig).
Der Beitrag wurde von Andreas Rüdig auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2008.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).