Jana lief die Einkaufsstraße entlang und hetzte in den Spielwarenladen. In allerletzter Sekunde riss sie die letzte Carrerabahn an sich und atmete erleichtert auf. Der 23. Dezember, der letzte Arbeitstag, Chaos in der Stadt und das allerletzte Weihnachtsgeschenk. Jetzt war alles ganz einfach. Sie schleppte die Taschen zu ihrem Auto, brachte alle Sachen sorgsam in ihrem Kleiderschrank unter und fuhr zu John, um ihren Sohn abzuholen.
„Mama! Endlich bist du da! Wir wollten doch heute Abend noch was ganz wichtiges machen!“ Jana umarmte ihren Sohn und strubbelte ihm durch das kurze blonde Haar. „Wie wars denn bei Papa?“ „Gut. Können wir jetzt fahren?“ John steckte den Kopf aus dem Schlafzimmer. „Bleibts bei morgen Nachmittag?“ „Ja, sei um vier Uhr da. Bis morgen!“ Jana half Daniel in die Jacke und dann saßen die beiden im Auto und fuhren nach Hause.
Es war das erste Weihnachten, was Jana und John getrennt voneinander verbrachten. Alles war noch ganz frisch, aber Jana war befreit, entspannt und glücklich wie lange nicht mehr. All der Stress, den sie all die Jahre ohnehin alleine auf sich genommen hatte, machte ihr nichts mehr aus. Sie und Daniel, die kleine unzerstörbare Einheit. Heute abend wollten sie gemeinsam Weihnachtsbaumanhänger für die Familie bemalen. „Was hast du bei Papa heute gemacht?“ „Ach, ich hab gespielt und Papa hat am Computer gesessen. Das wars. Können wir noch was kochen?“ „Hast du nichts Warmes gegessen?“ „Nein!“ Jana seufzte. „Klar, ich mach Rührei, okay?“ „Auja!“
Als Daniel dann im Bett war, machte Jana leise Musik an, öffnete eine Flasche Wein und machte sich daran, den Weihnachtsbaum zu schmücken und die letzten Geschenke zu verpacken. Es war ein unheimlich gemütlicher Abend. Das Telefon klingelte und voller Vorfreude nahm Jana den Hörer ab. „Hallo?“ „Hier ist Ben! Guten Abend!“ „Hallo Ben, schön, dass du anrufst!“ Ein wohliger Schauer lief ihr beim Klang seiner Stimme über den Rücken. „Wie geht’s dir?“ „Gut! Ich habe den Baum geschmückt und Geschenke verpackt und jetzt sitze ich hier und genieße ein Glas Wein und deine Stimme! Und dir? Wie geht’s dir?“ „Wenn ich dich höre, gut!“ „Oh. Hast du Ärger?“ „Ärger nicht direkt.“ „Sabine?“ „Ja.“ Jana schluckte einmal unhörbar. Sie hatte Ben erst vor wenigen Tagen in einer Bar ganz in der Nähe kennengelernt. Nach John wollte sie alles in aller Ruhe angehen und war auf das Herzklopfen nicht vorbereitet gewesen. Ben war sieben Jahre älter als Jana, lebte von seiner Frau getrennt und hatte, wie Jana, einen kleinen Sohn. Jana hatte nicht damit gerechnet, dass Ben sich melden würde, als sie ihm am Ende eines schönen Abends ihre Handynummer gab, aber das Telefon klingelte schon am nächsten Abend und die beiden setzten ihr Kennenlernen fort. „Wie verbringt ihr den Tag? Zusammen?“ „Ja, Sabine meint, es würde Felix nur unnötig aufregen. Also werde ich gleich hinfahren, auf der Couch übernachten und morgen einen unvorhersehbaren heiligen Abend mit Felix und Sabine verbringen. Wie wird es bei euch aussehen?“ „John kommt um vier. Und dann werden wir sehen. Geht ihr in die Kirche?“ „Ich denke schon. Den Schein wahren war immer ihr oberstes Gebot!“ Jana lachte. „Hey, mach sie nicht so schlecht! Du hast sie mal geliebt und immerhin spielst du mit!“ Ben schwieg. „Ich fürchte, du hast Recht. Ich sollte jetzt wirklich nicht anfangen, unfair zu werden. Es ist nur… ach Jana, ich würde den Tag unheimlich gerne mit dir verbringen.“ Sie lächelte. „Ich wäre auch gern mit dir zusammen. Aber ich finde, wir sind unseren Kindern einen schönen heiligen Abend schuldig.“ „Ja, das sind wir wohl! Ich denke an dich, Jana!“ „Ich denke auch an dich!“ Jana kuschelte sich auf die Couch und versank in dem vorweihnachtlichen Liebesfilm, der wie jedes Jahr im Fernsehen gezeigt wurde und ging relativ zeitig schlafen. Daniel würde sicherlich früh aufstehen und ein verschlossenes Wohnzimmer nur schwer akzeptieren können…
Es waren trotz des nicht einfachen Hintergrundes schöne Weihnachtstage geworden. Daniel freute sich über die vielen Geschenke, das Aufeinandertreffen mit John gelang ohne größere Probleme und Jana genoss ihren Urlaub. Sie unternahm viel mit Daniel, die beiden verbrachten aber auch gemütliche Abende zu Hause, spielten, puzzelten, bastelten. Dienstage und Donnerstage waren nun die Tage, an denen John seinen Sohn hatte. Jedesmal brachte Jana Daniel mit einem schlechten Gefühl zu John. Gerade, als sie wieder in ihrer Wohnung ankam, klingelte das Handy. „Hallo Prinzessin!“ „Ben! Wie schön, dich zu hören!“ „Oh, dir geht’s nicht gut, oder?“ „Ich habe Daniel gerade zu seinem Vater gebracht. Irgendwas führt er im Schilde, ich kann dir nicht sagen was!“ „Du brauchst dringend Ablenkung!“ „Soll das heißen…“ „Ich habe den Nachmittag frei genommen. Hast du Lust auf einen Spaziergang?“ „Wahnsinnig gerne!“ Jana fuhr zum verabredeten Ort und wartete ungeduldig auf Ben. Das war nach unzähligen Telefonaten ihr zweites Treffen und Jana hatte Herzklopfen. Zögernd umarmten sie sich zur Begrüßung und starteten ihren Spaziergang. „Fehlt eigentlich nur noch Schnee…“ „Stimmt. Was hältst du ganz spontan von einem Wochenende in Südtirol?“ „Du bist verrückt Ben!“ „Mag sein! Ist das schlimm? Sind wir irgendjemandem Rechenschaft schuldig?“ „Nein, sind wir nicht. Hey, ich fang gleich an, mich zu freuen!“ „Komm schon, sag ja! Wir nehmen die Kinder mit, die kennen sich ja nun von der Schule und wir fahren einfach. Morgen abend. Dann sind wir Donnerstag früh da.“ „Ob ich das mit John hinkriege… bestimmt. Okay, abgemacht!“ Er zog sie in seine Arme und Jana drückte ihn ganz fest an sich. „Ach Ben, das wird herrlich!“
Ohne zu überlegen fuhr Jana nach Hause und fing an, eine große Tasche für sich und Daniel zu packen. Pünktlich um halb sieben machte sie sich auf den Weg zu John, um ihn abzuholen. „Hallo Mama!“ Daniel rannte ihr schon in Jacke, Mütze und Handschuhen entgegen. „Hallo mein Schatz! Wars schön?“ „Geht so.“ „Ist Papa da?“ „Ja, der telefoniert.“ Jana klopfte an die Schlafzimmertür und öffnete sie. Das altvertraute Bild, das sich ihr bot, machte sie furchtbar wütend. Sie nahm ihm das Telefon aus der Hand und legte einfach auf. „Hallo John.“ „Hey.“ Wie sieht Dein Dienstplan den Rest der Woche aus?“ „Achso, das habe ich noch gar nicht gesagt, ich kann Daniel am Donnerstag nicht nehmen, ich muss das ganze Wochenende arbeiten.“ „Gut, dann weiß ich Bescheid, meld dich, wenn du wieder da bist.“ Jana und Daniel machten sich auf den Heimweg. „Hey Großer, was hältst du von einem Ferienabschluss im Schnee?“ „Haha Mama, hier liegt doch keiner…“ „Aber ich würde gerne mit dir wegfahren. Vier Tage in den Schnee. Mit Leon.“ „Mit Leon? Aus meiner Schule?“ Daniel wurde ganz aufgeregt als er hörte, dass er tatsächlich in den Schnee fahren würde. „Mama, das ist ja Wahnsinn! Morgen schon?“ „Ja, morgen schon. Ich habe schon unsere Sachen gepackt und morgen Abend geht es los, damit wir Donnerstag schon dort sind.“ „Nehmen wir den Schlitten mit?“ „Nein, wir werden uns dort einen leihen.“ „Aber wo wohnen wir?“ „Das weiß ich noch nicht so genau. Aber das wird Leons Papa regeln.“ „Fährt der auch mit?“ „Ja, ich kann ja nicht die ganze Strecke alleine Auto fahren, oder?“ „Stimmt. Außerdem passt der dann auf dich auf, wenn ich mit Leon Schlitten fahre!“ „Genau.“
Daniel war den ganzen nächsten Tag aufgeregt und sprang ständig um Jana herum. Um fünf Uhr klingelte es endlich und Ben stand mit Leon vor der Tür. „Hallo Leon, das ist ja wohl der Hammer, oder?“ Daniel nahm seinen Freund mit in sein Zimmer und Jana umarmte Ben. „Daniel ist total aufgeregt!“ „Frag mal, wie es Leon geht!“ Ben verstaute die Taschen im Kofferraum und dann ging es los. Die Jungs spielten auf der Rückbank Quartett, Ben und Jana unterhielten sich und langsam wurde es dunkel. Als beide Jungs beinahe einschliefen, machten sie eine kurze Pause, um eine Kleinigkeit zu essen und sich noch mal die Beine zu vertreten. „Soll ich dich mal ablösen, mit dem Fahren?“ „Nein, brauchst du nicht. Noch reicht es mir, wenn du mich unterhältst. Aber ich komme eventuelle darauf zurück.“ Ben streckte sich und lächelte Jana an. „Wie schön, dass das geklappt hat. Vier Tage nur tun und lassen, was wir wollen!“ „Ich freu mich auch. Ich kanns noch gar nicht richtig glauben.“
Die Fahrt war recht angenehm und verging erstaunlich schnell. Und als die Jungs früh am nächsten Morgen die Augen aufschlugen, war tatsächlich alles weiß und der Jubel groß. „Können wir anhalten? Nur einmal raus in den Schnee?“ „Wir sind jetzt gleich da. In ein paar Minuten könnt ihr euch in die weiße Pracht werfen.“ „Wo schlafen wir eigentlich?“ „In einem kleinen Chalet. Ich habe auf die schnelle nichts anderes auftreiben können. Aber es sah sehr gemütlich aus.“ Über die Schlafsituation hatte Jana sich vorher noch keine Gedanken gemacht und sie erschrak ein wenig. Eine kleine Berghütte, Schneeromantik, was hatte sie eigentlich alles eingepackt? Sie war verzaubert, als sie im Morgengrauen das kleine Häuschen mit dem rauchenden Schornstein sah. „Das einzige, was du noch auftreiben konntest?“ Sie sah Bens verschmitztes Lächeln und ihr Bauch war plötzlich voller Schmetterlinge. Schnell wurde das Auto ausgeräumt und die Jungs belagerten ihr Zimmer. Jana suchte die Schneeanzüge und schon waren die Jungs verschwunden. Ben saß auf dem Sofa und streckte sich. Die Nacht steckte ihm in den Knochen und immer wieder fielen ihm die Augen zu. Jana massierte ihm den Nacken. „Du bist selbst Schuld. Warum hast du nicht mich zwischendurch mal fahren lassen?“ Sie strich ihm liebevoll über die Wange und strafte ihre strengen Worte Lügen. Es kam kein Protest von Ben, er war eingenickt. Jana deckte ihn vorsichtig zu und gesellte sich zu den spielenden Jungs nach draußen.
Die drei waren in eine fröhliche Schneeballschlacht vertieft, als Ben sich dazu gesellte, und zu viert verbrachten sie einen wunderschönen Tag. Erst als die Jungs abends völlig erledigt im Bett lagen, hatten Ben und Jana Zeit, sich mit einem Glas Wein vor den Kamin zu setzen und mal durchzuatmen. „Und, was sagst du?“ „Ich bin total glücklich. Es war die richtige Entscheidung, diese kleine Flucht anzutreten!“ „Finde ich auch. Aber wie du schon sagst, es ist nur eine kleine Flucht. Am Montag geht der Alltag wieder los, mit Rosenkrieg, Arbeit und wenig Romantik…“ „Können wir darüber reden, wenn es so weit ist?“ Ben sah sie an. Wie sehr faszinierte Jana ihn. Sie wirkte unverwundbar, und hatte doch einen so weichen Kern. Sie war das Gegenteil seiner Frau und das erschreckte ihn, war er doch mit Sabine auch mal glücklich gewesen. Vielleicht nur, weil er bis dahin nicht gefunden hatte, was er wirklich suchte. „Woran denkst du?“ „Ich glaube, ich habe einfach noch einen kleinen Jetlag.“ Sie sahen ins Feuer und schwiegen. Ben nahm Janas Hand in seine, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog sie an sich. „Das alles hier kommt mir so unwirklich vor. Ich sehe dich gerade zum dritten Mal und ich habe das Gefühl, dich schon ewig zu kennen, du scheinst mir so vertraut, ich weiß gar nicht wie mir geschieht.“ Genau das gleiche empfand auch Ben und er war dankbar, dass sie es in Worte fasste. Langsam und sehr zärtlich küssten sie sich zum ersten Mal. Jana erlebte das erste Mal in ihrem Leben den Himmel auf Erden, als Ben sie sanft und zärtlich in eine nie gekannte Welt entführte.
Die vier Tage im Schnee vergingen viel zu schnell und als Ben und Jana sich voneinander verabschiedeten, wussten beide, dass ihre Zweisamkeit hier wieder anders aussehen würde. Ben musste die Scheidung hinter sich bringen, Jana die sorgerechtlichen Dinge klären. Er küsste sie immer wieder, hielt sie ganz fest. „Ich denke an dich, Prinzessin. Ich ruf dich an.“ „Ich denke auch an dich! Danke, für die wunderschöne Zeit.“
Und so fand Jana sich im tristen Alltag wieder, wo John sich nicht um seinen Sohn bemühte, sie die Organisation des Familienlebens wieder in die Hand nehmen musste und nebenbei auch noch ihren Job erledigte. Trotz all dieser Dinge schwebte sie im siebten Himmel, wusste sie doch, dass es Ben ebenso ging und er genauso an sie dachte. Sie trafen sich, wann immer es ging, planten, unternahmen viel mit den Kindern, bis plötzlich, acht Wochen später, Ben sich nicht mehr meldete. Jana sprach ihm auf die Mailbox, schickte SMS, aber es kam nichts zurück. Sie machte sich erst furchtbare Sorgen, zog sich dann aber zurück.
Erst zwei Wochen später stand er abends unverhofft vor ihrer Tür. Unrasiert, vollkommen müde und erschöpft. „Mein Gott Ben, was ist denn passiert?“ Sie nahm ihn in die Arme und hielt ihn einfach nur fest. „Ben! Lieber, lieber Ben!“ Er saß einfach auf Janas Sofa und starrte ins Leere. „Sabine ist tot.“ „Was?“ Jana war wirklich geschockt. „Aber wie…“ „Es war ein Autounfall. Sabine hatte was getrunken, das hat sie sonst nie gemacht. Ich weiß nicht warum an diesem Abend. Leon war mit im Auto. Er liegt in der Uniklinik und ist noch nicht wieder zu sich gekommen. Oh Gott, Jana, das ist alles ein Alptraum!“ Ben weinte und Jana saß hilflos daneben und hielt ihn einfach nur fest. „Das ist die Strafe dafür, dass ich mich von Sabine getrennt habe.“ „Ben! So darfst du nicht denken! Das war eure gemeinsame Entscheidung. Sabine war genauso wenig glücklich wie du! Was wird mit Leon? Gibt es eine Prognose?“ „Wir müssen abwarten. Jana, es tut mir so leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich … Jana, ich liebe dich! Ich bin so froh, dass ich jetzt bei dir sein kann!“ Sie hielt Ben einfach in den Armen und tröstete ihn, bis er eingeschlafen war.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2008.
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Fallender Schatten
von Heiger Ostertag
Eine attraktive Lehrerin einer Stuttgarter Waldorfschule wird zum Mordopfer, aus dem Kollegium könnte es jeder gewesen sein! Jeder? Nun, die Dinge liegen vielleicht doch etwas schwieriger. Denn die Ermittlung der Polizei laufen ins Leere, weitere Morde ereignen sich. Erst zum Ende entwirrt eine Eurythmistin das undurchdringliche Dickicht aus Lügen und Gerüchten.
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