Oliver Sanders

Auf der falschen Spur

„Du fährst auf der falschen Seite, Idiot“, schreit mir der auf Abfangkurs gegangene Fahrradfahrer entgegen. Ich weiche nach links aus – er zieht ebenfalls rüber – ich weiche nach rechts aus – er geht wieder auf einen frontalen Angriff über. Ich bin noch im Halbschlaf und mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit. Wenn ich meine Wohnung verlasse, muss ich auf die andere Straßenseite, um dann in eine 200 m entfernte Seitenstraße abzubiegen. Sobald die Straße frei ist, überquere ich diese und fahre dann das letzte Stück auf der falschen Seite des Fahrradweges. Wenn man Millimeterpisser ist, könnte man sich darüber aufregen. So wie diese düstere Gestalt vor mir „Falsche Seite – Idiot!“ kreischt er von Selbstjustiz besessen. Seine Augen kann man kaum erkennen, so zusammengekniffen und griesgrämig verzogen ist sein Gesicht. Ich mache in letzter Sekunde ein geschicktes Ausweichmanöver, fahre mit dem Vorderrad sein flackerndes Rücklicht ab und trete ordentlich in meine Pedalen. Langsam verhallt das hysterische Geschrei hinter mir.

Als ich halb durch einen Busch fahre stelle ich fest: ja, du bist wach, es ist kein Traum. Ich bin hellwach und schwanke weiter am Kanal entlang, auf dessen Wasser noch der Frühnebel ruht. Es riecht nach Herbst und schon viele gelbe Blätter liegen auf dem Fahrradweg. Hier und da liegen Kastanien herum, die mich immer wieder an meine Kindheit erinnern, als wir diese noch gesammelt haben und mit ihnen irgendwelche sinnlosen Figürchen bastelten, die von Streichhölzern zusammengehalten wurden. Ich liefere mir ein erbittertes Wettrennen mit einem Kanalkreuzer und komme bald darauf außer Atem bei der Arbeit an.

Es ist fünf nach acht und selbstverständlich ist SIE auch schon da. Ein freundliches „Guten Morgen“ und ein zufrieden lächelndes, warmherziges Gesicht erwarten mich. Welch Insel der Glückseeligkeit. Ich schmeiße meine Jeansjacke über den Bürostuhl, werfe den Rechner an und begebe mich in die Küche, um mir frische Kaffeebohnen zu mahlen... Nein nein, ich mahle sie nicht. Auch wir haben nur konventionelles Kaffeemehl. Über den Tag muss schon ne Kanne Kaffee her. Ich hab auch kein Problem damit, wenn der Kaffee den ganzen Tag über auf der heißen Platte steht, bis er eine sirupähnliche Konsistenz hat. Ich trinke den auch noch nach sieben Stunden dauerheizen. Anders, als andere Kollegen, die dann über Hautausschlag, Sodbrennen oder Hypertonie klagen. Zurück im warmen, gut riechenden Büro (was hat SIE heute denn für einen Duft drauf?) checke ist meine Emails. Zwanzig Stück sind es, schnell beantwortet. So komme ich langsam in den Arbeitstag hinein. Erledige erst die Dinge, welche mir locker von der Hand gehen und dann die wichtigsten Angelegenheiten. Erst zuletzt alles Andere, was völlig ätzend ist, aber gleichzeitig auch relativ unwichtig.

Entzückend ist es – und ich möchte mit keinem Arbeitnehmer der Welt tauschen – wenn SIE Ihren Kopf schräg zur Seite legt und anfängt ein fragendes „Häää?“ dem Flachbildschirm entegenzuraunzen. Lautlos zähle ich „einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... jetze“ – und ich sehe, wie IHR Kopf am Monitor vorbeilugt, um mich dann mit IHREM Blick zu fixieren. Ich muss gestehen: es wirkt. Es ist unmöglich, weiterzuarbeiten, wenn man so fordernd angestarrt wird. Eine psychologische Waffe, der man sich nicht entziehen kann. Die Frage – oder besser die Forderung „du musst mir mal eben helfen“ – ist dann nur noch reine Formsache. Dieses täglich mehrfach stattfindende Ritual werde ich demnächst in einem Einzelbüro bitter vermissen.

Manchmal kommt es bei uns vor, dass Leute etwas bar bezahlen. Wie ist das, wenn ihr etwas bezahlt? Was bekommt ihr da? Richtig, einen Beleg, eine Quittung. Wir haben auch Quittungen, weil manchmal, wie ich sagte, Leute etwas bar bezahlen. Machen wir hin und wieder. SIE auch – SIE schon seit über einem Jahr. Was mich dann im Innersten erschütterte war aber IHRE Frage dazu. Nach über einem Jahr fragt SIE mich: „Was machst Du eigentlich immer mit den Quittungen?“. Ich: ????? Wie jetzt ?????. SIE: Na, ich hefte die immer ab. Ich: ???? WIE JETZT ?????. SIE: Oder bekommt die der Kunde?

Ich kann den restlichen Dialog gar nicht mehr in Worte fassen. Ich hab mir einen säuberlich sortieren Aktenordner mit Quittungen angesehen und hab ihn für gut befunden. Ich sagte: „Okay, das hast Du gut gemacht. Hast ja doch was gelernt hier. Bin stolz auf Dich“.
Da hier sowieso niemand meine Ironie versteht, habe ich es auch dabei belassen. Ist Resignation nicht auch ein Weg in die Glückseligkeit? Ist es das innerliche Lächeln, welches ich nun bei jedem Zahlungsvorgang haben werde nicht wert, einfach mal Fünfe gerade sein zu lassen?

Zufrieden steige ich wieder auf mein Rad, fahre nach Hause. Komme aus meiner Seitenstrasse und überquere die Fahrbahn, um auf der „Wohnungsseite“ weiterzufahren. „Falsche Seite – Idiot! Verpiss dich!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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