Alexander Grimm

Die Fotozurechtrüttler

„ . . . zwei von den Grünen, zwei von den Gelben mit blauen Punkten, drei von den Rosagestreiften und noch zwei von denen im silbernen Papier.“

Der Bonbonverkäufer war gerade dabei, das Tütchen zu verschließen, in das er die von mir gewählten Leckereien gefüllt hatte, da sagte ich, dass ich anstatt der zwei Gelben lieber nochmals drei von den Rosagestreiften hätte; und dann noch zwei von den kleinen Cremefarbenen aus dem obersten Schächtelchen. Eigentlich hatte ich noch Lust auf die Weißen mit der Honigfüllung, aber der Verkäufer fiel mir barsch ins Wort: „Nun reicht`s aber, man wird ja sonst nie fertig!“

So ging das jedes Mal, und das, obwohl ich zu den Stammgästen zählte. Zugegeben, ich war kein einfacher Gast, genau wie meine Freunde, die hier ebenfalls regelmäßig verkehrten. Es war selten, dass wir uns auf Anhieb entscheiden konnten. Aber dieses riesige Sortiment an köstlichen Bonbons machte es einem auch nicht leicht. Außerdem lockte uns der Verkäufer mit immer mehr Schächtelchen, angefüllt mit immer bunteren und feineren Bonbons; er durfte sich über unsere Unentschlossenheit also nicht beschweren. Zudem erschien uns seine Sorge, nicht fertig zu werden, eher unbegründet. So viel Betrieb herrschte nun wahrlich nicht in seinem Laden, dass er fürchten musste, nicht pünktlich Feierabend machen zu können.

Im Grunde genommen gab es eine ganze Reihe von Menschen, die ihm in diesem Punkt ähnelten. Beispielsweise der Busfahrer, der uns jeden Morgen zur Schule brachte. Wehe, wenn wir für das Zücken unserer Monatskarten mal eine Sekunde länger benötigten, wie er das gerne gehabt hätte. Dann ging beinahe die Welt unter. Mittwochs und freitags war eine ältere Dame in den Bus gestiegen. Anfangs hatte sie dem Busfahrer einen guten Morgen gewünscht und eine kurze Bemerkung über das Wetter gemacht, dass heute ein wundervoll sonniger Tag werden würde oder dergleichen.

„Nun suchen sie sich doch bitte einen Platz! Ich muss schließlich weiter, um den Fahrplan einzuhalten.“

Seitdem sagte die ältere Dame nichts mehr. Sie stieg schnell ein, nahm Platz und fragte sich wahrscheinlich genauso wie wir, was denn der wahre Grund dafür sei, immer so schnell fertig werden zu müssen – ein paar freundliche Worte hatten bestimmt noch keinen Fahrplan durcheinandergebracht.

Dann gab es noch den Eismann in dem kleinen Café hinterm Theater. Bei ihm war nie viel los. Lediglich ein paar alte Männer saßen an den kleinen Tischchen, tranken Kaffee, plauderten miteinander oder guckten einfach vor sich hin. Ein lauschiges Plätzchen, unberührt von den Touristenscharen, die sich fast das ganze Jahr über in der Stadt tummelten. Touristen zählten übrigens auch zu den Menschen, die ständig den Eindruck vermittelten, schnell mit irgendetwas fertig werden zu müssen – und das, obwohl sie doch Urlaub hatten. Auch bei ihnen drängte sich mir die Frage auf, warum sie so handelten. Und: was machten sie danach? Was machten sie, wenn sie fertig geworden waren? Es musste etwas ungeheuer Wichtiges sein, was sie dann erwartete. Warum sonst drängte uns der Eismann regelmäßig, wenn wir bei ihm was kaufen wollten? – „Kommt Kinder, ich hab` meine Zeit doch nicht gestohlen!“

Wahrscheinlich wussten auch die alten kaffeetrinkenden Männer keine Antwort darauf. Sonst hätten sie nicht immer mit den Köpfen geschüttelt, wenn sie Zeuge dieser Ungeduld wurden.

 

Ich hatte den Laden des Bonbonverkäufers verlassen, nahm mir eines von den kleinen Cremefarbenen aus dem Tütchen und machte mich auf den Weg zum Spielplatz. Als mich mein bester Freund kommen sah, stürzte er mir sofort entgegen. Er habe das Rätsel, warum so viele Leute keine Zeit hatten, gelöst, behauptete er aufgeregt. Und er begann zu erzählen, wie er gestern Abend auf dem Heimweg eine sehr interessante Entdeckung gemacht habe. Sein Weg führte hinter dem Haus des Bonbonverkäufers vorbei, und dort hatte ihn mein Freund in einer Kammer sitzen sehen. Der Mann hatte etwas in den Händen gehalten, ein kleines Stück Papier vielleicht, und es wie wild gerüttelt. Mein Freund war zum Fenster der Kammer geschlichen und hatte vorsichtig hineingespäht, um unentdeckt zu bleiben. Der ganze Oberkörper des Mannes war in Bewegung gewesen, so dass selbst seine grauen Haare gezittert hatten; sein Blick war hochkonzentriert gewesen. Und dann hatte mein Freund erkennen können, was der Mann in seinen Händen gehalten hatte: es war ein Foto gewesen. Der Bonbonverkäufer hatte nun innegehalten, das gerüttelte Foto betrachtet, es beiseite gelegt, aus einer kleinen Kiste ein anderes genommen und es sofort auf die gleiche Weise bearbeitet.

„Na, was sagst du jetzt? Das ist die Lösung, dazu brauchen sie also immer so viel Zeit!“, rief mein Freund voller Begeisterung, nachdem er mir alles berichtet hatte. Ich war allerdings skeptisch.

„Aber erinnert dich das nicht an den letzten Sommer“, fragte er mich darauf, „als wir eure Urlaubsfotos anschauten? Da gab es ein Bild, das war arg verwackelt.“

Ich erinnerte mich. Mein Vater war etwas hektisch gewesen, als er auf den Auslöser gedrückt hatte, deshalb konnte man auf dem Foto nicht allzu viel erkennen. Mein Freund und ich hatten uns einen Spaß daraus gemacht, zu versuchen, es wieder zurechtzurütteln. Wir hatten bald aufgegeben. Wer mit dieser Methode erfolgreich sein wollte, würde in der Tat viel Zeit aufwenden müssen.

 

Als ich am nächsten Tag wieder auf dem Weg zum Spielplatz war, entdeckte ich einen Mann, der vor einer Garage damit beschäftigt war, seinen Wagen zu polieren. Mit Autos kannte ich mich noch nie aus, doch dieses war ein besonderes, das fiel selbst mir auf. Davon gab es nicht mehr viele, in alten Filmen sah man zuweilen noch Autos dieser Art. Ein echtes Schmuckstück. Ich konnte nicht anders, als staunend davor zu stehen, mit ganz großen Augen.

„Sie haben aber ein schönes Auto!“

Der Mann sah mich nur kurz an und fuhr mit seiner Arbeit fort. Er war sicherlich sehr stolz auf sein Auto, das konnte ich verstehen. Ich fragte nach dem Alter des Wagens und erhielt eine knappe Antwort. Dann schaute ich dem Mann eine Weile zu. Ich verfolgte, wie er mit einem feinen Tuch über das Blech fuhr und es mehr und mehr zum Glänzen brachte. Ich hätte von dem Mann gerne mehr erfahren, glaubte aber, dass er lieber seine Ruhe haben wollte. Gerade setzte ich an, ihm noch einen schönen Tag zu wünschen, da kam er mir zuvor: „Nun halt mich nicht länger auf! Such deine Freunde; du siehst doch, dass ich keine Zeit habe!“

Ziemlich betrübt ging ich weiter. Wahrscheinlich hatte mein Freund mit seiner Theorie doch recht, dachte ich. Es musste schließlich einen Grund geben, dass ein Mensch selbst keine Zeit hat, sich einen schönen Tag wünschen zu lassen.

„Aber die alten Männer im Café, warum haben die soviel Zeit?“, fragte ich meinen Freund auf dem Spielplatz.

„Die haben ihre Fotos schon alle zurechtgerüttelt“, antwortete er überzeugt.

„Und der Bonbonverkäufer, der Busfahrer, der Eismann, die Touristen in der Stadt und all die anderen sind eben noch nicht so weit“, folgerte ich daraus, „und deshalb müssen sie sich mit ihren anderen Tätigkeiten ständig beeilen, um danach weiter ihre Fotos zurechtrütteln zu können.“

„Genau“, sagte mein Freund, „denn was könnten sie alle sonst für einen Grund haben, immer so schnell fertig werden zu müssen?“    

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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