Andreas Rüdig

Das Opferlamm

Das Opferlamm

 

Gaby war das perfekte Opferlamm. Zuhause half sie Mann und Sohn bei allen Schwierigkeiten. Liebeskummer? Schulprobleme? Nervender Chef? Alles kein Problem! Gaby half. Ihre Gutmütigkeit lebte sich aber erst auf ihrer Arbeit so richtig aus. Gaby arbeitet in der Personalabteilung, was ihr auch sichtlich Freude machte. Hier konnte sie ihren Kollegen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ganz besonders hatte es ihr aber die Aus- und Fortbildung angetan. Dort hatte sie es überwiegend mit jungen Menschen zu tun, die früh von der Schule kamen und voller Tatendrang ins Berufsleben starteten. Gaby war 40, fühlte sich aber wesentlich jünger.

Besonders einer der Lehrlinge hatte es ihr angetan. Nicht, daß Gaby in ihn verliebt wäre; es war eher kollegiale Verbundenheit und Sympathie. Er war ein gutaussehender junger Mann, neugierig, voller Wissensdurst, fleißig, strebsam, intelligent. Sein Hobby? Die Literatur, genauer gesagt das Verfassen eigener Texte. „Sag mal, Willibald, Du hast so viele Texte geschrieben. Warum veröffentlichst Du Deine Texte denn nicht?“ Was führ Gaby belangloses Gespräch im Plauderton war, sollte bald ungeahnte Konsequenzen für sie haben. Über die Veröffentlichung seiner Texte hatte Willibald nämlich noch nie nachgedacht. Welche Literaturmagazine und –zeitschriften gab es überhaupt? Wie kommen die eigentlich an ihre Autoren? Willibald war ratlos. „Sag mal, Gaby, wo kann ich eigentlich meine Texte veröffentlichen?“ Diese Frage war Willibald erste Reaktion. Er stellte damit die Frage, die Gaby auch nicht beantworten konnte. Doch als gutmütiges Opferlamm wollte sie die Antwort auch nicht schuldig bleiben. Also nahm Gaby die Frage in ihrem Herzen mit nach Hause.

Sie schaltete abends, nach dem Abendessen, den Hausaufgaben mit dem Sohn und ein paar Zärtlichkeiten mit ihrem Mann den Computer an und begann zu suchen. 347 Literaturmagazine und 229 Literaturzeitschriften zeigte der Computer an. Doch Gaby hatte Glück. Ein Teil der Titel war nicht mehr auf dem Markt vertreten. Sie waren nur noch mit Archiv anzusehen. Gaby sah sich die übrigen Titel alle an.

Mit heftigen Schmerzen im Genick, Schultern und Rücken wachte Gaby auf. Da war sie doch tatsächlich vor dem Computer eingeschlafen. Sie hatte für Willibald nachgesehen, in welchen Literaturzeitschriften er seine Texte veröffentlichen könne. 27 Titel kamen dafür in Fragen. Gaby druckte Namen und Anschrift aus. Dann kümmerte sie sich wieder um ihre Familie – Mann und Sohn warteten schon ungeduldig auf Frühstück, Pausenbrote und den Abschiedskuß.

An diesen Tag kam Gaby zu spät zur Arbeit. Die lange Arbeit in der Nacht hatte dazu geführt, daß sie einige Zeit auf Lockerungsübungen verwenden mußte. Zum Glück war es die Zeit zwischen den Jahren. Da hatten viele Kollegen Urlaub; Gaby hatte nicht viel zu tun. Also konnte sie Willibald suchen und ihm die Liste geben. Doch einen Erfolg konnte Gaby damit nicht verzeichnen. Willibald war immer noch ratlos. Wie sollte er es nur schaffen, seine Texte in den Computer einzugeben, auszudrucken und an 27 Adressen zu verschicken? In absehbarer Zeit stand keine wichtige Prüfung an. Zeit hätte er also, sich an die Arbeit zu machen. Willibald empfand diese Arbeit aber als lästig. „Gaby!“ Mit Dackelblick und unterwürfigem Ton wandte Willibald sich an seine Kollegin. „Könntest DU mir vielleicht helfen?“ Wie alle gutmütigen Menschen konnte Gaby nicht „Nein!“ sagen. Sie erklärte sich also bereit, etwa 80 eng beschrieben Seiten in den Computer einzugeben und für den Versand vorzubereiten. Zum Glück war Weihnachten vorbei. An Sylvester / Neujahr stand ein verlängertes Wochenende an. Die Einkäufe für die kurze Sylvesterfeier waren getätigt. Also würde Gaby genug Zeit haben, um Willibald diesen Gefallen zu tun.

Als Gaby im neuen Jahr wieder zur Arbeit kam, war sie stinkesauer. Wie hatte Willibald nur so schamlos ihre Opferlammhaltung ausnutzen können. 20 Stunden hatte sie am Computer gesessen. Tippen, Schreibfehler korrigieren, drucken, eintüten, Briefumschlag beschriften, frankieren. Das war ihre Feiertags- und Wochenendbeschäftigung gewesen. Ihre Familie hatte für einen Arbeitskollegen leiden müssen! „Gaby, Du bist ein Schatz.“ Als Willibald diesen Satz sagte, war aller Zorn verraucht. „Gaby, ich möchte mich mit dieser Rose bei Dir bedanken für die viele Arbeit. Dank Dir bin ich heute ein bekannter Autor. 21 Zeitungen haben Texte von mir veröffentlicht. Ich beabsichtige, mich als Schriftsteller selbständig zu machen. Willst Du nicht meine Sekretärin werden?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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