Marlene Wolfback

Nachtflug

„Ich möchte in zehn Jahren nicht mehr von irgend welchen siebzehnjährigen Mädchen auf meinem Rücksitz singen“, sagte Sean, blickte etwas verträumt in den nachtgetränkten Garten seines Freundes und legte seine Klampfe zur Seite. Daniel, der Freund, stand auf und nahm sich ein neues Bier aus dem Kasten auf dem Sean Platz genommen hatte. Ohne ein Kommentar. Nachdem der Kronkorken mithilfe eines Feuerzeuges laut ploppend in den Nachthimmel flog, wurde es wieder still. Sean schüttelte den Kopf und nahm noch einen Zug von dem Joint. Für dieses Shit war sein letztes Geld draufgegangen.
„Hast du denn keinen Traum?“, begann Sean, leise und unsicher. Er hatte das Gefühl es interessierte sich in der Runde alter Bekannter keiner für seinen Traum vom Ruhm. Dachdecker, Maurer, Lagerarbeiter und zwischen ihnen so ein Freigeist.
„Gibt es nichts was du erreichen möchtest, war’s das jetzt?“, hakte Sean nach und sah Daniel an. Dieser blickte zu Boden und nahm anschließend einen Schluck aus der Flasche wobei er an Sean vorbei sah, fast durch ihn durch starrte.
„Soll ich mein Leben mit Träumen verschwenden wie du?“ Daniel spuckte diese Worte geradezu in das Feuer, das in ihrer Mitte loderte. Daraufhin stand Sean auf, wartete bis das Schwindelgefühl nachließ und verließ die Runde. Er erleichterte seine Blase auf dem Blumenbeet dass Daniels Mutter am vergangenen Wochenende erst bearbeitet hatte, weil einige Pflanzen vertrocknet zu sein schienen.
Daniel saß immer noch in der Runde und guckte die verbliebenen Männer selbsterklärend an. Er meinte Sean käme zurück, doch dieser trat an die Runde heran, guckte auf die Uhr, winkte ab und verließ mit einem Bier in der einen und seiner Gitarre in der anderen etwas torkelnd den Schrebergarten.
Sean versuchte mit seinem Feuerzeug die Reihe von Rädern an dem Maschendrahtzaun zu beleuchten. Es gelang ihm nicht wirklich, also griff er einfach in die Vollen. Die ersten beiden Räder lösten sich nicht vom Zaun, sie waren angeschlossen. Das Dritte löste sich und war tatsächlich Seans. Zumindest seit vorgestern. Er schaltete gebückt und unbeholfen den Dynamo ein, wobei die Gitarre, die er auf dem Rücken trug, über seine Schulter rutschte und das Fahrrad schlug. Als er aufstieg kippte Sean mit dem Rad zur Seite und konnte sich gerade noch so fangen. Er stieß heftig gegen die Mittelstange und knurrte in die Nacht. Nach einigen Sekunden hatte er sich gefangen und setzte das Fahrrad in Bewegung. Es klapperte und das Licht flackerte. Aber einem „geschenkten“ Gaul schaute man nicht ins Maul.

Als er die Gartensparte verlassen hatte trug ihn der holprige Feldweg noch einige hundert Meter, dann sah er ein Stromhäuschen , bremste scharf, sprang ab und ließ das Rad gegen die graffitibesprühte Mauer fallen. Sean ging weiter von der Straße weg hinter den kleinen Bau. Er befand sich in einem dunklen Schatten und niemand konnte ihn hier sehen. Er kramte mit einer Hand in der Hosentasche auf Kniehöhe, holte etwas heraus und trat den Rasen platt um Platz zu haben um sein Besteck zu nutzen. In dem Löffel machte er das Pulver flüssig, mit der Spritze zog er die Flüssigkeit auf, der Gummi band seinen Arm ab und dann stach er die Kanüle in seine Vene. Es dauerte drei Sekunden bis er diese monumentale Erleichterung verspürte und an der Mauer herunterrutschte ins Gras. Er starrte eine kleine Ewigkeit in die Dunkelheit und spürte wie ein Kribbeln in ihm die vergessen Träume wieder aufweckte. Eine Erregung durchfuhr ihn. Er packte zusammen und schob sein Rad auf den Weg. Es war hell und die Großstadt schien ihn zu rufen. Er antwortete indem er ihr mit kräftigen Tritten entgegen fuhr. Hier komme ich!

Sean durchquerte dunkle Wege, irgendwann säumten Straßenlaternen diese, irgendwann durchbrach er die Einsamkeit und Autos wohnten seiner Reise bei. U-Bahn-Stationen ließen erkennen dass die Vorstadt hinter ihm lag, Sean spürte den Rausch der Großstadt. Der Schmerz in seiner Brust war vergessen. Er hastete. Sein Tempo war enorm. Rote Ampeln kannte er nicht, die Autos hupten und Sean empfand dies als den Song, den er genau in diesem Moment hören wollte. Alles war bunt, schnell, laut und er beherrschte dieses Chaos. Lichtblitze erhellten das Schwarz der Nacht, er wusste nicht woher sie kamen, doch bei jedem zwang er sich tief einzuatmen um danach japsend ein Kribbeln im Kopf zu verspüren. Sean flog eine Ewigkeit durch die Finsternis. Als er auf der Hauptstraße war, fuhr er gefährlich nah am Seitenstreifen, streifte fast ein parkendes Auto und einer Kreuzung kurz vorm Ziel blieb er einfach stehen, während einer der Nachtbusse vorbei fuhr. Er schmiss sein Fahrrad auf die Straße, drehte sich im Kreis und als wäre sein Leben ein Foto mit hoher Belichtungszeit, kamen ihm die vorbeifahrenden Fahrzeuge vor wie Sternschnuppen. Sean war glücklich, huschte zwischen ein paar Autos vorbei auf den Gehweg, schlug gegen die Wand des überirdischen U-Bahn-Treppenhauses, die unter die Metropole führte und als er um die Mauer herum getanzt war las er die beleuchteten Reklametafeln. Von weitem drang Hupen an sein Ohr. Autos streiften um ein Haar das Fahrrad dass Sean unachtsam liegen lassen hatte. Es war ihm egal. Bahnhof Zoo, sein zweites zu Hause. Vom Bahnhof Zoo in die Welt. Er stand auf der Sprungschanze. Er musste nur springen.

Sean betrachtete die große Uhr und kehrte um, immernoch heftig atmend. Er ging zurück in Richtung Kreuzung, nahm diesmal den Fußgängerüberweg und ging unter der Überdachung in Richtung einer Treppe. Ein asiatisches Restaurant, ein Souvenir-Laden, ein Erotik-Shop. Die Schaufensterpuppe am Eckschaufenster trug alberne Lackchaps und aufgeklebte Puscheln auf den Erhebungen der Brüste. Sean bog in die Straße ein, ging ein paar Meter bis er fast den nächsten Erotikshop erreichte und ließ sich, seine Gitarre auf den Knien, an der Bushaltestelle nieder. Er wartete. Sein Atem wurde wieder gleichmäßig und ruhig. Autos rauschten vorbei. Ein Bus hielt, der Busfahrer blickte Sean an und dieser verlor sich in dessen Augen. Nach einiger Zeit schüttelte der Busfahrer verärgert den Kopf und fuhr davon. Sean würde nicht Bus fahren, vielleicht nie wieder. Als sich ein schwarzer BMW näherte, stand Sean auf. Der letzte den er gesehen hatte rauschte vorbei, ohne dass auch nur jemand aus dem Fenster schaute. Dieser hatte jedoch getönte Scheiben und hielt an. Vor Sean öffnete sich die Tür, der Fahrer, er trug eine geschwärzte große Brille, hatte sich über den Beifahrersitz gelehnt und über den Brillenrand hinweg zwinkerte er Sean zu. Dieser legte seine Gitarre auf den Rücksitz und stieg ein. Die Begrüßung erfolgt herzlich per Wangenkuss.

„Na Kleiner wie geht’s?“ sagte der Fahrer und setzte sein Fahrzeug in Bewegung. Das Navigationsgerät verriet, dass nur noch wenige Kilometer zu fahren waren.
„Bitte wenden“ verlangte die elektronische Stimme und der Fahrer gehorchte. Als er zurück auf die große Kreuzung rollte und Seans Fahrrad weitläufig umfuhr, legte er seine Hand auf dessen Schenkel.
„Sehr gut“, sagte Sean.
„Du riechst nach Bier“, kommentierte der Fahrer etwas verärgert. Sean schluckte.
„Nur eins, beim Warten, wirklich.“
„Ich hab dich auch lang genug in der Kälte sitzen gelassen, das gebe ich zu“, vorerst schien der Mann hinter der dunklen Brille besänftigt. Er schaute immer wieder zu Sean und ab und an trafen sich ihre Blicke. Als er in ein Parkhaus fuhr, genoss sein Beifahrer die hellen Leuchten entlang des Weges, musterte die Nobelkarossen, die in den Parklücken standen und begann sich wohl zu fühlen. Dieses Umfeld war es was er wollte.
Als sie ausstiegen machte der Fahrer eine Geste: Sean könnte die Gitarre im Auto lassen doch dieser ließ sich nicht beirren und nahm sie trotzdem an sich. Er würde heute wieder spielen und Schallplatten betrachten, würde erfahren was es neues gab bei dem großen Label und würde wieder einmal versuchen ein Vorsingen zu bekommen. Wieder einmal. Aber Sean machte das nichts aus. Er würde auf Knien betteln. Er würde alles tun. Wirklich alles?

Der Fahrer betätigte die Fernbedienung und die Alarmanlage signalisierte mit einem Aufflackern der Scheinwerfer und mit einem schrillen Piepen, dass sie nun scharf war. Sean zuckte zusammen. Sein Begleiter legte den Arm um Sean und führte ihn aus der Garage. An der Treppe angekommen setzte er sich ab und lief drei Stufen hinter Sean. Auf der dritten Etage holte er wieder auf, packte in Seans Po und grinste ihn an. Mit seiner Karte öffnete er die Tür zum Fahrstuhl und fuhr in das Appartement im vorletzten Stock des noblen Wohn- und Geschäftshauses mit den riesigen Fensterfronten. Als die Lichter angingen, blinkten die goldenen Schallplatten an der Wand. Sean ging den breiten Flur entlang, blickte nach links, nach rechts und seine Augen leuchteten. Das wollte er auch. Er malte sich seinen Namen aus, goldverziert auf schwarzem Grund. Gerahmt. 500'000 verkaufte Exemplare. Er wollte das! Er würde alles tun! Nur ob er sich das verzeihen würde, das wusste Sean nicht. Wieder einmal verwarf er die Frage, die in seinem Kopf kreiste, als er seinen prominenten Freier in dessen Wohnräume begleitete.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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