Karl Wiener

Die Stadt der toten Augen

            Lang ist es her, noch vor dem Krieg, in frühen Kindertagen – man übte die Verdunkelung, um sich im Ernstfall vor Fliegerbomben zu verbergen. Das schien ein Spaß. Man saß zuhause, im finstren Raum, und ängstigte sich gegenseitig mit Gruselgeschichten. Mitunter auch ging man hinaus – gedämpftes Licht, und alle Häuser sahen düster drein, die Fenster wie erloschne Augen. Und wenn ein Schein nach draußen drang: Licht aus! – Verdunkelung! – und lautes Pochen an die Scheiben. Doch dann der Ernst - mit Bombenkellern und Sirenen ward uns das Lachen ausgetrieben. Nur wer dies alles überlebte, der fühlt das Glück, als endlich dann das Ende kam, mit Hungern zwar und Frieren. Doch die Augen der Häuser erwachten zu neuem Leben. Nicht immer waren die Fenster erleuchtet, der Strom ward häufig abgeschaltet. Doch nach und nach lernten wir wieder lachen.

             Vergangenes Jahr wollte ich in Holland Urlaub machen, dem Land mit den malerischen Grachten, und hatte den Weg dahin mit Vorbedacht gewählt. In einer Stadt im Weserbergland wollte ich übernachten. Der Reiseführer sagte mir, daß sich ein Zwischenhalt wohl lohne. Beim Namen will ich lieber sie nicht nennen, es könnte sein, daß du dort lebst in dieser Stadt. Es war schon Herbst, und in der frühen Dunkelheit fand ich den Weg zum Gasthof nicht. Die Straßen waren menschenleer, und auch die Häuser standen finster da und stumm, die Fenster tot. In einem Haus entflammte Licht. Ich eilte hin, um nach dem Weg zu fragen. Ein Mann schritt zum Fenster, ich wollte schon rufen in meiner Not, doch ein Rasseln, ein Knall, ihm folgte das Klacken der sich verdichtenden Jalousie. Da ahnte ich: Die leben noch, sie stellen sich nur tot.

              Den Weg zum Gasthof fand ich nicht. Am frühen Morgen verließ ich die Stadt, die mir der Reiseführer empfohlen hatte. Es sei, sagt er, ein malerisches Fachwerkstädtchen. Doch ich fuhr eilends in ein Land, in dem die Menschen noch einander in die Augen schauen.  In ihre kleinen Häuser blickt man durch die Fenster, von vorn hinein und hinten wieder raus. Wenn ich aber an die Stadt der toten Augen denke, dann fällt mir Hermann Hesse ein:

 

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,

jeder ist allein.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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