Andreas Rüdig

Liebessucht

„ Sag mal, Xaver, du... »

 

Als mein Chef mich so anredet und der Schalk in seinen Augen überdeutlich hertritt, scwante mir böses. Was wollte er von mir?

 

„Du, Xaver, du flirtest doch gerne, oder?“

 

Richtig. Das ist ja kein Verbrechen. Zumindest nicht in unserer Redaktion. Der Umgang ist locker. Und so ein Flirt kann doch sehr phantasieanregeld sein.

 

„Ich hätte da einen Auftrag für dich.“

 

Nämlich? Was soll ich tun? Welches langweilige Thema soll ich bearbeiten?

 

„Bei uns gibt es jetzt auch eine Sexsüchtigen-Selbsthilfegruppe. Die erste Sitzung fand gestern abend statt.“

 

Wow! Was für ein Thema! Und was habe ich damit zu tun?

 

„Du flirtest gerne. Du hast eine Freundin, auch wenn du verheiratet bist. Du kennst dich mit Liebensdingen also bestens aus. Das nächste Treffen ist nächste Woche Mittwoch. Abends um 18.30 Uhr in der „Müller`s Mühle“. Da wirst du hingehen und hinterher einen Artikel darüber schreiben.“

 

Meine Güte, nur weil ich von der Damenwelt angetan bin und mir deren Herzen zufligen, muß ich mich um jeden Liebesschund kümmern.

 

Die Sex- und Liebessüchtigen sehen Sex als Droge an. Wie bei einer stofflichen Sucht zeigten sich bei der prozeßgebundenen Sex- und Liebessucht bestimmte gemeinsame Merkmale:

à Dosissteigerung (z. B. Frequenzsteigerung)

à Kontrollverlust (kein langfristiger willentlicher Verzicht ist mehr möglich)

à Wirkungsverlust (Nachlassen der euphorisierenden Wirkung – oft der Grund für Dosissteigerung)

à Entzugserscheinungen (z. B. Zittern, depressive Verstimmung, emotionale Instabilität bei Verzicht auf das süchtige Verhalten)

 

Anders als bei Alkohol ist bei der Sex- und Liebessucht nicht sofort klar, womit ein Betroffener eigentlich aufhören muß, um abstinent zu sein. In der Sex- und Liebessucht bekommen für den Betroffenen bestimmte Verhaltens- und Denkmuster den Charakter einer Droge. Jedes Opfer definiert für sich, welche Verhaltensmuster süchtig sind und welche nicht. Diese Muster können beispielsweise in den Bereichen Sexualität (Masturbation, Besuch von Prostituierten, Internet- oder Telefonssex, Voyeurismus), Beziehung (eine Beziehung nach der anderen eingehen, in zerstörerischen Beziehungen verweilen, Abhängigkeit von einer Person) oder Phantasien (ständiges Phantasieren über Beziehung und / oder Sex) oder in der zwanghaften Vermeidung von Sexualität und Beziehung verstehen.

Obwohl diese tatsächlichen Muster der einzelnen Betroffenen so verschieden sein können, ist die Wirkung der Sucht und der Prozeß des Abstinent-Werdens sehr ähnlich.

 

Es ist schon sehr interessant, was ich da im Internet über die Liebessucht zu lesen bekomme. Die erste Gruppe von Anonymen Sexsüchtigen traf sich wohl 1976 in der amerikanischen Stadt Boston. Es sind genesende Alkoholiker, die sich dort zusammentun. Sie sehen Gemeinsamkeiten zwischen der stoffgebundenen Sucht anch Alkohol bzw. anderen Drogen und der nichtstofflichen Sucht nach Liebe und Sexualität. Man schreibt das Jahr 1984, als die erste deutsche Selbsthilfegruppe in Deutschland zusammenkommt. Heute soll es schätzungsweise 60 lokale Kreis im deutschsprachigen Raum geben.

 

Hallo. Ich bin der Christobald. Ich bin euer Gruppenleiter. Ich möchte euch helfen. Wir möchten heute über euro romantischen Phantasien sprechen. Oder auch die zerstörerischen Phantasien, unter denen ihr leidet. Erzählt mir alles darüber, ehrlich und ungeschminkt. Nennt aber bitte nicht eure wirklichen Namen. Ihr wißt: Spiritualität ist ein wichtiger Bestandteil des Genesungsprozesses. Hinterher werde ich euch erklären, wir ihr diese Spiritualität in euer Leben einbringen könnt.

 

Hallo Leute. Ich weiß: Wir sollen eigentlich keine Namen benutzen, wenn wir über uns selsbt reden. Daher nutze ich jetzt einen anderen Vornamen. Ich heiße Sigisbert. Meine Phantasie ist schweinisch. Wie sich so auf der Couch liege, beginnen meine Gedanken zu schweifen. Angelika, meine Kollegin im Büro, kommt mir in den Sinn. Sie ist eine scharfe Braut. Blondes Haar, tolle Brüste, lange Beine, wollüstige Schenkel, ein einladendes Becken – sie hat alles, was ein Mann sich so wünscht. Ich würde sie gerne näher kennenlernen. Doch ich traue mich nicht; ich bin zu schüchtern dafür. Also öffne ich meine Hose und beobachte, wie meine Männlichkeit wächst und wächst. Dann greife ich zu dem bereitliegenden Stoffteil und rubbele bis zur Eruption...

 

Danke, Sigisbert, das reicht. Bist du sicher, daß du hier richtig bist

 

Ja, natürlich. Wieso denn nicht?

 

Du brauchst doch nur einen Partyservice, der einen romantischen Abend mir dir organisiert. Dann wird Angelika über dich herfallen. Also bitte. Ich bin nicht hergekommen, um mir den Liebeskummer anderer Leute anzuhören. Ich möchte diese harten Sachen erfhren, unter denen ihr wirklich leidet, Kastrationsphantasien, Steckengebliebene Geschlechtsorgane, Badewannen voller Körpersäfte und Bettücher, die in euch eindringen.

 

(Duisburger Generalanzeiger, 1. April 2019)

 

Einen völlig unerwarteten Verlauf nahm die gestrige Gruppensitzung des örtlichen Clubs der Geschlechtsverkehrssüchtigen. Christobald fungierte als Sitzungsleiter. Offensichtlich war dies eine schlechte Wahl. Denn: Je mehr er die Schilderungen der anderen Teilnehmer hörte, desto mehr erregte er sich selbst. Aber nicht im sexuellen, sondern im geistigen Sinne. Offensichtlich war ihm seine eigene Sexsucht auf die Nerven gegangen. Als er dann die teilweise banalen Geschichten der anderen Teilnehmer hörte, braucht der angestaute Zorn aus ihm heraus. Zuerst gab es wüste Beschimpfungen. Dann Beleidigungen. Die verbalen Attacken steigerten sich zur Raserei. Erst als Christobald ein Metzgerbeil zog und sich entmannen wollte, merkten die anwesenden Personen, daß nicht sie, sondern Christobald das Ziel seiner Raserei war. Der herbeigerufene Notarzt – ein Urologe übrigens – stellte Christobald erst einmal ruhig. Sein Christobald ein fleischfabrenes Ganzkörperkostüm trägt, scheint er seine Männlichkeit jedenfalls nicht weiter zu beachten.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andreas Rüdig).
Der Beitrag wurde von Andreas Rüdig auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Andreas Rüdig als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schriftliche Kunstwerke von Manuela Dechsheimer



Mein erstes Buch ist endlich fertig.
Alle die mich schon kennen können sich endlich auf neue Gedichte von mir freuen und ein paar alte wieder finden.
In diesem Buch hab ich von allem etwas reingepackt, damit es euch auch ja nicht langweilt :)

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Humor" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Andreas Rüdig

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eine Bank in Schwierigkeiten von Andreas Rüdig (Sonstige)
Das Schaf (Karlis Aufsatz aus meinem ersten Buch von Margit Kvarda (Humor)
Erinnerungen an 1944 (Zweiter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen