Renate Klein

Immer Ärger mit Harry

Endlich waren sie, die kleine Reisegruppe von ca. 32 Personen, am vereinbarten Reiseziel eingetroffen. Dieser Ort entsprach nun äußerlich den Versprechungen der schriftlichen Anpreisungen, auf die sich alle Teilnehmer seit Wochen eingestellt hatten. Das Gebäude glich zwar auf den ersten Blick einer Bettenburg, es hatte ein riesiges Ausmaß, denn schließlich verfügte es über, wie es in dem Prospekt prophezeit wurde, komfortable Zimmer und Appartements für 750 Gäste. So jedenfalls stand es geschrieben, doch Papier ist geduldig. Die Einzelzimmer, auch die mit Komfort (Balkon, Meerseite, Sat-TV und Minibar), entpuppten sich als winzige Löcher mit Naßzelle. Es gab dort lediglich ein Bett, einen Nachttisch und einen kleinen Einbauschrank, ohne Schubfächer für Wäsche und dergleichen. Auch war dort keinerlei Platz für die Unterbringung des leeren oder noch halbvollen Koffers. Telefon mit Direktwahl dagegen war auf jedem Zimmer vorhanden.

Franziska, die mit ihrem Vetter und seiner Ehefrau, bei diesem Unternehmen dabei war, kam nun in den Genuß dieses Kabuffs, da sie ohne Komfort gebucht hatte. Sie benötigte diese Örtlichkeit nur zum Schlafen, denn sie war hauptsächlich des Meeres wegen hier. Ihr Nachbar, ein älterer Herr dagegen, der Komfort gebucht hatte, mußte mit der gleichen Behausung Vorlieb nehmen, was natürlich für ihn sehr ärgerlich aber nicht zu ändern war.

Das alles rückte in den Hintergrund, als Franziska mit ihrer Verwandtschaft den Strand betrat. Zwar war das Gras wegen Wassermangel überall vertrocknet, dafür konnte man Liegestühle mieten und die vielen Pinien, die auf dem Gelände standen, spendeten genug Schatten, wenn man diesen wollte. Doch dieser war momentan nicht gefragt, denn trotz Ozonloch lag alles in der Sonne und ließ sich braten, so auch die drei. Ulrike, wie die Angetraute Franziskas Vetters Peter hieß, war von Natur aus etwas ängstlich, aber was die Sonne betraf, kannte sie keinerlei Skrupel und Hautkrebs, vor dem in den Medien immer wieder gewarnt wurde, schien ein Fremdwort für sie zu sein. Nicht nur für sie, alles was sich an diesem Strand tummelte, hatte scheinbar die gleiche Auffassung. Viele hatten schon eine mittelbraune Tönung angenommen und von Sonnenbrand war weit und breit nichts zu entdecken.

Aber da gab es noch Harry. Ein äußerst sonderbares, eigensinniges und etwas älteres Exemplar der menschlichen Rasse. Er hatte die Eigenschaft, spurlos aus heiterem Himmel zu verschwinden, und obwohl er ständig unter Beobachtung seiner etwas jüngeren Angetrauten stand, gelang ihm das immer wieder mit Erfolg und der Ärger begann, bevor er unvermittelt nach längerer Zeit ohne jegliche Vorwarnung wieder auftauchte, und sich über die von ihm ausgelöste Unruhe wunderte.

Das alles fing schon morgens beim Frühstück an. Wie in jedem größeren Hotel gab es da ein Frühstücksbüffet und jeder mußte sich selbst bedienen. Wenn fast alle schon fertig waren, trödelte Harry immer noch an demselben herum, unschlüssig, ob er sich nun für Wurst, Käse oder etwas ganz anderes entscheiden sollte. Er nervte schon am frühen Morgen. Schlimm wurde es bei den diversen Busausflügen, die im Preis mit eingeschlossen waren. Bei irgend einer Besichtigung oder Pause war Harry wie so oft, wieder einmal unauffindbar, was dann den ganzen Ablauf dieses Unternehmens verzögerte. Franziska schlug vor, ihm ein Halsband anzulegen, was aber wieder verworfen wurde, weil sein Hals für die normalen Anfertigungen zu dick war.

Alle dachten noch an die vergangene Woche zurück. Da mußte die Reisegruppe nach fünfzehn Stunden Busfahrt, aus orgarnisations technischen Gründen des gebuchten Hotels sich mit einer Unterkunft, angeblich die der gleichen Kategorie, in einem anderen Ort begnügen. Diese lag an einer Hauptstraße am Hafen. Die Insassen der Zimmer nach hinten, mußten sich bis drei Uhr morgens das Geschrei des Personals anhören und morgens das Geklapper der Müllmänner. Zur anderen Seite hin den Krach der Terrasse und der Straße, die abends einem Jahrmarkt glich. An Schlaf konnte nur der denken, der schon halb taub war oder Oropax sein Eigen nennen konnte. Am späten Nachmittag war an ein Nickerchen auch nicht zu denken, denn dann fuhr ein Reklamewagen irgend einer Erotikshow in regelmäßigen Abständen lautstark die Straße entlang, um für sein Unternehmen Reklame zu machen. Es ist kaum zu glauben, mit welchen Methoden sich so manche Unterkünfte für den Touristenverkehr beliebt machen wollen.

Zum Baden schifften fast alle hinüber zur Insel, deren Mittelpunkt ein größeres Hotel war. Man konnte sich dort also den ganzen Tag über aufhalten, ohne einen Schwächeanfall mangels Verpflegung zu bekommen, obwohl alle halbe Stunde vom Festland eine Fähre hin und zurück fuhr. Hotelgäste konnten diesen Transport kostenlos in Anspruch nehmen. Für Harry war dies ein Paradies seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Da er immer wieder, aber nach längerer Zeit, an den Ausgangsort zurück kehrte, schmiß seine Frau nebst Gefolge bald das Handtuch. Die Insel war nicht so groß, um darauf verloren gehen zu können. Es blieb auch nicht aus, daß er irgend welchen Gruppenmitgliedern in die Arme lief, die ihn dann immer wieder wohlbehalten und ohne äußeren Schaden an den Ausgangsort zurück brachten. Von seiner Frau gefragt:
„Wo warst du denn schon wieder, wir wollten doch.“
„Iiiich habe mir doch nur.“
„Was heißt nur. Ich mache mir doch Sorgen.“
„Etwa meinetwegen?“
„Es könnte dir schlecht werden, bei dieser Hitze
„Mir? Mir ist noch nie schlecht geworden.“
„Na, ja.“
Es war sinnlos, sich weiter über Harry aufzuregen.

Seit einiger Zeit beobachtete Franziska den Skyrider, der ständig am Himmel zu sehen war, und sie überlegte hin und her, ob sie das auch einmal wagen sollte. Sie erkundigte sich erst einmal nach dem Preis, den sie dann für angemessen hielt und weihte Peter und Ulrike in ihr Vorhaben ein. Sie sollten nämlich mit auf das Boot, damit Peter Fotos von ihrem Flugabenteuer schießen konnte. Das ganze Unternehmen sollte umgerechnet DM 50,-- für zehn Minuten fliegen kosten, was sie durchaus in Ordnung fand.

Am nächsten Tag sollte diese Aktion gestartet werden, egal was andere dazu sagten. Alle zwanzig Minuten kam das Boot an den Landungssteg, um neue Passagiere für die Flüge an Bord zu nehmen. So warteten die drei geduldig, bis sie an der Reihe waren und das ging ganz schnell. Beim Einsteigen machte Ulrike aber doch einen Rückzieher, sie wollte lieber an Land das Ereignis beobachten. Sie war, wie schon gesagt, von Natur aus ein etwas ängstlicher Typ.

Als Erstes fuhr das Boot mit Franziska und Peter ein Stück aufs Meer hinaus, dann bekam Sie eine Schwimmweste verpaßt und einen Gurt wie die Felsenkletterer ihn trugen, nur etwas breiter, indem sie während des Fluges bequem sitzen konnte. Anschließend mußte sie sich dann vor den aufgeblähten Fallschirm stellen und wurde mit zwei Karabinerhaken, die sie bei der Landung im Wasser öffnen mußte, damit sie den Fallschirm wieder los wurde, festgehakt. Bevor sie aber dies alles richtig begriff, wurde sie schon von dem Schirm langsam nach oben gezogen. Unten betätigte sich Peter als Fotograf, um dieses ganze Abenteuer auf Zelluloid zu bannen.

Es war ein herrliches Gefühl wie sie höher und höher stieg. Franziska kam sich vor wie eine dieser Möwen, die am Himmel kreisten. Sie hatte einen Rundblick über die ganze Halbinsel. Die Menschen und Boote unter ihr waren winzig klein, und dann das unendliche blaue Meer. Sie wünschte sich, dieser Flug würde ewig dauern und nicht nur zehn Minuten. Jedesmal wenn das Boot eine Wende fuhr und im Tempo langsamer wurde, schwebte sie langsam wieder nach unten, bis ihre Füße das Wasser berührten. Sie stellte diese dann wie eine Ente bei der Landung nach vorne und schob das Wasser vor sich her, aber schon ging es wieder steil nach oben. Auf der ehemaligen Wiese entdeckte sie winzig klein dann auch Harry und Co., für die sie aber nicht zu erkennen war. Dann war alles vorbei, das Boot fuhr die letzte Kurve, die sie anschließend noch einmal ganz nach oben katapultierte, um sie anschließend steil nach unten schweben zu lassen. Das Meer hatte sie wieder, tauchte sie bis zur Taille ins Wasser. Franziska öffnete die Haken und schwamm den vielen Seilen des Schirms ausweichend an Bord. Am Steg wurden dann beide aufgeregt von Ulrike in Empfang genommen, die froh war, daß alles gut überstanden war.

Nach diesem Ereignis war Franziska in der Reisegruppe im Wert gestiegen. So etwas traute sich dort keiner zu, obwohl es mit keinerlei Risiko verbunden war, aber trotzdem sollte es seine Folgen haben, wie sich später zeigte.


Harry wurde wieder einmal vermißt und alle trugen es mit Fassung, als sie einen Schrei hörten. Er kam von seiner Frau, die aufgelöst und einer Ohnmacht nahe am Strand stand. Sie hatte gerade noch Harry in dem Skyriderboot entdeckt, bevor es in See stach und dann das Unfaßbare: Harry erhob sich in die Lüfte.

Alle Gruppenmitglieder, die zum Sonnenbaden in ihren Stühlen lagen, stürmten zum Strand, um dieses Ereignis zu bestaunen. Alle sahen dann Harry hinter der Insel verschwinden und nach unten gehen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich am Horizont wieder auftauchte. In so einem Fall können zehn Minuten sehr lang sein. Man sah förmlich, wie sie alle in Gedanken mit flogen. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis Harry endlich wieder festen Boden unter Füßen hatte und alle angrinste. So wie; "euch habe ich es aber gründlich gegeben". Typisch Harry. Seine Frau hatte nun endgültig die Nase voll von seinen Eskapaden und fauchte ihn an:
"Dieses war der letzte gemeinsame Urlaub, ich habe jetzt endgültig genug von deinen Kapriolen".

In diesem Urlaub konnte Harry nichts weiter mehr anstellen, denn am nächsten Tag ging es zurück in Richtung Heimat. Da war aber immer noch die Busfahrt mit den diversen Pausen. Harrys letzte Chancen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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