Susanne Kischkel

Ein Elch bekommt Weihnachtsbesuch

Herr Hubert, der Elch spaziert auch an diesem Abend wieder ziellos durch die Gegend. Der kalte Wind pfeift ihm um die Ohren. Fröstelnd zieht er sich seinen Mantel enger. Das Wetter zeigt sich wieder von seiner ungemütlichen Seite. Mit seinen gelben Gummistiefeln patscht er durch die Pfützen. Wie jedes Jahr um diese Zeit schaut er sich die Schaufenster mit den vielen erleuchteten und geschmückten Auslagen an und denkt nach. „Nun ist wieder dieses Weihnachten wie jedes Jahr. Weihnachten.“ Viel kann er damit nicht anfangen. Er betrachtet die vielen glitzernden Ketten, Ringe und Girlanden. Auch in diesem Jahr arbeitet er wieder im großen Kaufhaus in der Spielwarenabteilung. Dort steht er dekorativ zusammen mit dem Nikolaus und einem Rauschgoldengel aus Kunststoff auf einem großen Podest, das sich langsam um die eigene Achse dreht. Um diese drei Gestalten herum liegen zahllose weihnachtlich verpackte Kartons. Nur leider alle leer. So leer wie der Begriff Weihnachten für den Herrn Hubert ist. Zu seinen Aufgaben gehört vor allem ein fröhliches Gesicht zu machen, denn es ist ja fröhliche Weihnachtszeit. Dazu sagt der Nikolaus irgendein Weihnachtsgedicht auf und der Rauschgoldengel bimmelt dazu unaufhörlich mit einer großen goldenen Glocke. Damit auch alles noch weihnachtlicher aussieht, soll er auch freundlich mit dem Kopf dazu nicken. Dafür werden sie bezahlt. „Da kaufen die Leute noch mehr!“, so die Meinung des Herrn Fichte. Denn der ist der Chef der Spielzeugabteilung und dazu auch des Herrn Hubert, vom Nikolaus und vom Rauschgoldengel. Fast die ganze Abteilung mag den Herrn Fichte nicht. Herr Hubert mag den Herrn Fichte auch nicht. Denn meistens ist dieser schlecht gelaunt. Peinlich genau achtet er darauf, ob auch ja jeder pünktlich an seinem Arbeitsplatz erscheint. An allen ersichtlichen Stellen hängen Uhren, damit jeder Mitarbeiter die Uhrzeit sehen kann. Denn jeder soll darauf bedacht sein, in möglichst kurzer Zeit noch mehr zu arbeiten. Die Arbeit muss zur vollsten Zufriedenheit des Herrn Fichte erledigt werden. Jeden Abend um Punkt achtzehn Uhr geht dieser mit der Kasse in sein Büro um die Tageseinnahmen zu zählen. Nur zu dieser Tätigkeit scheint sich sein verkrampftes Gesicht ein wenig aufzulockern. Herr Hubert kann sich nicht vorstellen, dass der Herr Fichte freundlich zu seiner Umgebung sein könnte. Er jedenfalls ist jemand, der darauf achtet, dass es auch den anderen gut geht. Im Geschäft kauft er deswegen immer die kaputten Eier, weil er die Arbeit der Hühner würdigen möchte. Er findet, die Arbeit eines Huhns wird nicht genügend gewürdigt, wenn man das Produkt ihrer Mühe wegwirft. Genauso macht er es auch mit der Milch. Er kauft meistens die Milch, wo das Verfallsdatum schon abgelaufen ist. „Wenn die Kuh wüsste, dass ihre gute Milch weggeschüttet wird, würde sie sicherlich sehr traurig sein.“ Manchmal ist ihm ein wenig übel von der ganzen sauren Milch, aber das nimmt der Herr Hubert gerne in Kauf. Er möchte ein guter Elch sein mit guten Taten. Im Gegensatz zu dem Herrn Fichte. Der weiß bestimmt nicht weder Huhn noch Kuh zu würdigen. Jedenfalls würde es ihn sehr glücklich stimmen, wenn er nicht immerzu dem Herrn Fichte über den Weg laufen müsste. So die Meinung des Herrn Hubert.

Zur Weihnachtszeit jedenfalls ist der Herr Fichte wieder mal besonders hektisch und noch mehr auf das abendliche Geldzählen bedacht. Er treibt alle Mitarbeiter noch mehr an und sein Gesichtsausdruck ist dabei noch mürrischer. Die Verkäuferinnen müssen noch mehr Spielzeuge verkaufen, noch schneller sie verpacken und alle sind genervt. Bei seinen Kontrollrundgängen durch die Abteilung bleibt der Herr Fichte natürlich auch an dem Podest stehen. Und dann muss der Herr Hubert noch fröhlicher sein Gesicht verziehen und der Nikolaus muss noch lauter sein Gedicht ausrufen und der Rauschgoldengel muss noch schneller mit der goldenen Glocke bimmeln und noch heftiger mit dem Kopf dazu nicken. Regelmässig klagt der Nikolaus über seine heisere Stimme, der Rauschgoldengel über einen steifen Nacken und dem Herrn Hubert schmerzen die Gesichtsmuskeln vom Mundwinkel-nach-oben-ziehen. „Wegen diesem Weihnachten legen die Leute ein komisches Verhalten an den Tag“, fällt ihm jedes Jahr erneut auf. Bisher hat er nicht herausfinden können, warum die Leute zu dieser Jahreszeit mehr kaufen und schneller laufen als sonst. Weder der Nikolaus, noch der Rauschgoldengel können ihm darauf eine Antwort geben. Die machen auch nur ihren Job.

Von seinem Podest aus in der Spielwarenabteilung hat er viele Informationen aufgeschnappt, die er alle zu seinen gedanklichen Notizen über Weihnachten sortiert hat. Oft schon hat er gehört, dass die Leute für Weihnachten noch das Haus putzen müssten, damit alles schön sauber und ordentlich ist. Oder dass die Leute allerhand hübsche Geschenke für Weihnachten kaufen. Ein älterer Herr sagte mal, er müsse noch eine elegante Herrenarmbanduhr für Weihnachten kaufen und eine adrett gekleidete Dame meinte, sie bräuchte noch einen edlen Wollmantel aus Kaschmir für Weihnachten. Und jemand anderen hörte er nach der modernsten Modelleisenbahn fragen. „Dieser Weihnachten muss sehr glücklich sein, bei all den schönen Geschenken. Was ist das nur für ein besonderer Mensch, dass die Leute Jahr für Jahr soviel für ihn einkaufen? Das muss ein sehr wichtiger und besonderer Mensch sein. Vielleicht ein berühmter Politiker oder sogar ein Schauspieler?“ Aber ganz sicher ist sich der Herr Hubert da nicht, denn es könnte ja auch eine Schlechtwetterfront sein. Zu dieser Erklärung ist er gekommen, als er eine ältere Dame klagen hörte, wie froh sie sei, wenn Weihnachten vorbei ist. Sie würde sich in ihren vier Wänden einschließen und wolle nichts sehen und nichts hören. Aber dazu konnte Herr Hubert sich den ganzen Aufwand mit dem Haus putzen und dem Essen kochen nicht erklären. Von einer kleinen Familie hörte er, sie würden Weihnachten wegfahren. „Wieso wegfahren? Musste man Weihnachten abtransportieren? Und warum? Hatte er wohlmöglich ein Einreiseverbot?“ Dieser Gedanke erschreckt ihn ein wenig. Dieses undefinierbare Ding Weihnachten findet er irgendwie ein wenig verwirrend. Er meint aber, dass es sich bei Weihnachten eher um eine Person handelt und möchte ihn der Höflichkeit halber lieber mit „Herr Weihnachten“ ansprechen. Denn Herr Hubert ist ein Elch mit guten Taten und dazu gehört auch die Höflichkeit. Außerdem meint er, dass die Höflichkeit auch ganz gut an ihm aussieht.

Als der Herr Hubert also in dieser denkwürdigen Jahreszeit mal wieder zur Arbeit geht, überrascht ihn der Nikolaus mit einer Neuigkeit. Denn der Nikolaus hat auch ein wenig nachgedacht wer oder was Weihnachten sein könnte und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Wenn das Haus geputzt ist, das Essen zubereitet ist und die Geschenke alle verpackt sind, dann steht Weihnachten vor der Tür! Diese weltbewegende Schlussfolgerung bringt den Herrn Hubert dazu, diesen Herrn Weihnachten sehr zu bewundern. Denn anscheinend kennt dieser immer den richtigen Zeitpunkt. Und wer kennt den schon? Das würde auch erklären, warum er eine neue Armbanduhr geschenkt bekommt. Zusammen mit dem Nikolaus und dem Rauschgoldengel beobachtet und belauscht er die vielen Leute, die zum Einkaufen in die Spielzeugabteilung kommen. Sie besorgen besinnliche Musik und leckere Schokolade für Weihnachten. Sogar von Tannenbäumen ist die Rede. „Weihnachten hat also auch was mit der Gattung der Nadelbäume zu tun“ und sortiert auch diese Information zu seinen gedanklichen Notizen über den Herrn Weihnachten hinzu.

Dann ist der große Tag gekommen, an dem Herr Weihnachten vor der Türe stehen soll. Der mürrische Herr Fichte ist schlecht gelaunt wie noch nie und lässt das die ganze Spielzeugabteilung wissen. Verdrießlich schleicht er durch die Gänge und will die Mitarbeiter bei einer Nachlässigkeit ertappen. Endlich ist Feierabend und Herr Hubert verabschiedet sich erleichtert von seinen dekorativen Kollegen und geht nach Hause. Auf keinen Fall will er den Herrn Weihnachten verpassen! Er hatte sein Haus schon geputzt, ein leckeres Abendessen zubereitet und wartet dann in seiner Festtagskleidung auf seinen Besuch. Jetzt ist alles fertig, der Herr Weihnachten kann kommen! Aber es geschieht erst mal nichts. Herr Hubert sitzt am gedeckten Tisch und sieht immer wieder abwechselnd zur Uhr und zur Haustür. Die Zeit vergeht. Nach einer langen Zeit ist er ziemlich entäuscht, aber dann klingelt es doch an seiner Haustüre. Gespannt geht er die Türe öffnen. Endlich wird es zu einer Lösung des Rätsels kommen. Aber dass er dann ausgerechnet dem Herrn Fichte gegenübersteht, damit hatt er nun gar nicht gerechnet. „Was will denn der hier! An diesem Abend, an dem alles auf Weihnachten wartet?“, so denkt er. Aber seine Mundwinkel ziehen sich angesichts des Herrn Fichte aus Gewohnheit ganz von selber zu einem fröhlichen Gesicht. Dem Herrn Fichte ist der Augenblick etwas peinlich. Immerhin kennen sie sich nur aus dem Kaufhaus. Seine Ohren, sowie sein Nasenspitze sind von der Kälte ganz gerötet. Herr Hubert bittet ihn herein. Wer weiß, ob Herr Weihnachten heute überhaupt noch zu ihm kommt? Vielleicht ist er noch irgendwo aufgehalten worden. Betreten über sein unerwartetes Erscheinen erklärt Herr Fichte dem Herrn Hubert, dass er den Abend nicht alleine zu Hause verbringen wollte. Er wüsste nicht wohin er gehen könnte, da wäre ihm der Herr Hubert eingefallen. Da er ja seine Arbeit immer so ordentlich macht und auch sonst sehr zuverlässig und freundlich zu sein scheint. Hoffentlich hat er nichts dagegen, dass er hier so unerwartet vor der Türe steht. „Warum nicht, nur hereinspaziert“, sagt Herr Hubert, denkt sich aber das Gegenteil. Seine Gedanken kann der Herr Fichte glücklicherweise nicht sehen. Da der Herr Weihnachten bisher nicht aufgetaucht ist, kann der Herr Fichte an dem festlich gedeckten Tisch Platz nehmen. Er lobt die Sauberkeit in dem Haus und die Gemütlichkeit. Kerzenschein und Lichterketten tauchen den Raum in ein warmes Licht. Herr Hubert serviert das Essen und sein Gast lässt es sich gut schmecken. Von dem guten Essen, der festlichen Stimmung und dem freundlichen Herrn Hubert scheint Herr Fichte mehr und mehr aufzutauen. Nach beendeter Mahlzeit ist er richtig redselig. Er erzählt von seiner Familie, die weit weg wohnt und von seinem Alleinesein. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt, erwartet ihn in seiner Wohnung nur die Einsamkeit. Auch die Wochenenden verbringt er allein. Deswegen ist er froh, wenn er am Montag wieder unter Menschen sein kann. Nur versetzt es ihm immer wieder einen herben Stich, wenn seine Mitarbeiter von ihren Wochenenderlebnissen erzählen. Er hat leider nichts zu erzählen. Die einzige Gesellschaft die er am Wochenende hat, ist die seiner Modelleisenbahn. Aber er traut sich nicht, dass seinen Mitarbeitern zu erzählen. So reden und reden sie, dabei futtert der Herr Fichte die leckere Weihnachtsschokolade und fühlt sich pudelwohl. So vergeht die Zeit. Als es schon sehr spät geworden ist, verabschiedet sich Herr Fichte nicht ohne den schönen und gemütlichen Abend zu loben. Das hat ihm so gut getan, die Geselligkeit. Er erwähnt nochmals die Sauberkeit in dem Haus und das gute Essen. „Normalerweise bin ich in der Weihnachtszeit immer weggefahren. Wenn sich alles auf den schönen Abend freut, kann er die Einsamkeit am wenigsten ertragen. Aber wo solle er alleine denn hin?“ Innerlich alarmiert horcht Herr Hubert auf. Weihnachten wegfahren? Er rattert durch seine gedanklichen Weihnachtsnotizen, dabei fällt sein Blick auf die elegante Herrenarmbanduhr des Herrn Fichte. Dieser zieht sich seinen Kaschmirmantel über. Während Herr Fichte das Haus verlässt, quasselt er noch von dem schönen Abend und dass er so gerne mal wieder kommen möchte. Der Herr Hubert soll doch auch ihn mal besuchen kommen. Viel fröhlicher als er gekommen ist, verlässt Herr Fichte das Haus. Aber das bekommt der Herr Hubert nicht so richtig mit. Bewegungslos steht Herr Hubert da und schaut ihm hinterher, bis er in der Dunkelheit verschwunden ist. Vor seinen Augen wiederholt sich der ganze Abend und ihm geht nach und nach ein Licht auf, bis zum Schluss ein ganzer Kronleuchter brennt. „Auf Wiedersehen, schön dass sie da waren, Herr Fichte! - Fichte!“, murmelt er vor sich hin.. Dann geht er hinein und sitzt noch lange gedankenverloren an seinem Tisch.

 

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