Martin Strack

Etwas aufgeben ...

Behutsam ging Tago durch die große Haupthalle und streifte vorsichtig mit den Fingerspitzen über die kalten Glashüllen der Kapseln, die sich zu hunderten in der Halle aufreihten. Jeder Schritt hinterließ ein einsames Echo im Hintergrund der sonst so stummen Halle und als er unter der gläsernen Kuppel stehen blieb kehrte wieder die gewohnte Stille ein. Tago kniete zu Boden und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Kapsel. Er spürte die Kälte die vom Boden aus ging. Wie sich das starre Gefühl durch seinen Körper zog und ihn mit jeder Sekunde die verging, ruhiger werden ließ.
Tago war tief in seinen Gedanken und Erinnerungen versunken, als plötzlich ein kleines Mädchen vor ihm auftauchte und sich schräg gegenüber setzte. Weder reagierte er auf ihr erscheinen, noch war er überrascht, oder neugierig. Er wusste wohl dass er sie sich nur einbildete. Aber trotzdem - oder vielleicht auch gerade deshalb - sprach er mit ihr.
"Wie geht es dir?" – Fragte Tago sie.
"Mir ist etwas kalt." - Antwortete das kleine Mädchen und verschränkte die Arme an ihren Körper. 
Es war tatsächlich sehr kalt in der Halle. Dies lag daran, dass die Station über hundert Meter tief im Ozean lag und dazu noch kaum beheizt wurde. Aber Tago störte sich daran nicht, denn all die Jahre die er hier unten verbrachte, hatten ihn deutlich geprägt.
 
 "Warum bist du hier?" - Fragte das Mädchen verwundert.
Tago hob seinen Kopf und schaute hinauf zu der gläsernen Kuppel die sich über ihm erstreckte. Als er hier anfing konnte er noch die malerische Faszination des Meeres genießen. Doch mit den Jahren setzten sich dünne Schichten Algen auf den Gläsern ab und das Licht drang nur noch schwer durch die Pflanzendecke und hüllte die Hallen in einen dunkel-grünen Schimmer.
Auch wenn es trist und deprimierend wirkte, hatte es für Tago immer noch eine gewisse Magie.
"Man hat manchmal das Gefühl die Zeit würde stehen bleiben." - Antwortete Tago und lächelte.
"Aber es ist nicht so - oder?" - Entgegnete das Mädchen.
"Nein." - Sagte Tago - "Aber der Gedanke ist schön."
Tago atmete tief durch und sah zu dem Mädchen. Sein Lächeln verschwand mit jedem folgenden Gedanken der ihn zurück in die Realität brachte und er sich der Tatsache hingeben musste, dass der Weg den er beschritten hatte, nun endete. Er stand auf und wendete sich der Kapsel zu.
 
Die Glasshülle war von vielen kleinen Wassertropfen bedeckt und so streifte er vorsichtig mit der Hand darüber und es ergab sich ein verschwommener Einblick in die Kapsel.
Er sah das Gesicht einer jungen Frau. Es hatte sich über die Jahre kaum verändert und in der Reflektion des Glases bemerkte er, dass auch er sich nicht verändert hatte.
Tago sah sich in der Halle um. Alle Kapseln waren abgeschaltet und die Lichter im inneren erloschen.
Er fuhr mit seiner Hand über ein Bedienfeld, das sich am Kopfende befand, und schaltete auch die letzte Kapsel der Station ab. Ein leises summen - dann setzte das Licht in der Kapsel aus.
Tago drehte sich wieder um, doch das Mädchen war verschwunden. Und so setzte sich Tago, schloss resigniert die Augen und harrte aus, bis das Ende kam.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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