Andreas Rüdig

Pantomime

Stellen Sie ein Ei dar!

 

Ich soll ein Ei darstellen. Meine Güte – wie soll das denn funktionieren? Hmmm – mal überlegen. Wie sieht denn ein Ei aus? Es ist weiß. Es hat eine Schale. Unten ist es dick und wächst dann hinkelsteinmäßig nach oben. Der Kostümverwalter kann mir tatsächlich weiterhelfen. Er hat eine weiße Hose mit sehr, sehr weitem Schlag. Ein weißes, aufgeplustertes Oberhemd, weiße Handschuhe, weiße Gesichtsschminke und eine weiße Kappe komplettieren meine Ausstattung. Sicherheitshalber trage ich noch ein weißes T-Shirt und eine lange weiße Unterhose, auf der ein großer gelber Kreis das Eidotter darstellt. Außerdem leiht mir der Requisitenmeister einen großen Eierlöffel.

 

Die Bühne wird dunkel. Das Licht des Scheinwerfers ist auch mich gerichtet. Tocktock – mit dem Eierlöffel schlage ich gegen meinen Kopf. Die Mütze sitzt schief und deutet so Risse in der Eierschale an. Ich reiße sie mir vom Kopf. Tocktock – ich schlage mir mit dem Eierlöffel auf Hände, Brustkorb und Beine. Dann reiße ich mir Handschuhe, Oberhemd und Hose – quasi als Eierschale – vom Leib.

 

Die drei Juroren applaudieren und nicken beifällig. Ich habe die Aufnahmeprüfung für die Pantomimenschule bestanden.

 

„Nach der Schule von Decroux und der Literatur von Jean Soubeyran, eines Schülers von ihm, funktioniert die Pantomime wie ein Vortrag, der aus Sätzen besteht und durch die Mittel von Spannung und Entspannung, die `die Atmung des Mimen´ sind, die Zuschauer zu begeistern versucht. Diese Sätze wiederum bestehen ebenso wie der gesprochene Vortrag aus Satzzeichen und Satzgliedern, die zueinander in Beziehung stehen müssen, um verständlich zu sein, und haben einen Anfang und ein Ende. Die sogenannten `Tocs´ dienen dazu, einen pantomimischen Satz oder ein Satzelement einzuleiten oder als `Schluß – Toc´ eine Aktion abzuschließen, wobei letztere durch ein Auftreten der Ferse oder der Fußspitzen als sogenannter `Stoß´  auch hörbar sein können. Die zeitweilig auch als Pantomimin aufgetretene Brigitte Soubeyran definiert den Toc so: `Der Toc ist ein Punkt, der innerhalb eines Bewegungsablaufs eine neue Phase einleitet.´ Zusätzlich wird jede Gestik auf das Minimum an Bewegung reduziert und jeder mimische Ausdruck auf das Einfachste, um sie dadurch `klarer´ zu machen.

 

Dies verlangt vom Pantomimen einen hohen körperlichen Trainingsaufwand. Es werden viele gymnastische sogenannte `Separationsübungen´ angewendet, um jeden einzelnen Körperteil (fast könnte man sagen: jeden Muskel) unabhängig voneinander und auch gegenseitig bewegen zu können. Zusätzlich wird während der Ausbildung auf den Gebieten der `Erschaffung der Zeit und des Raumes´, des Umgangs mit fiktiven Gegenständen, der Darstellung von Gemütsbewegungen und der `dramatischen Improvisation´ in Einzel- oder Gruppenimprovisationen sowie der sogenannten `geometrischen Pantomime gearbeitet. Ein letzter, doch nicht minder wichtiger Punkt für den Pantomimen ist die Arbeit mit der `Maske´, die wich überall im Bereich Theater, Film oder Fernsehen nicht ausschließlich als eine aufgesetzte zu verstehen ist. Die Maske hat die Funktion, eine Distanz zwischen dem Mimen und dem Publikum zu verschaffen,“ stellt die Internetplattform Wikipedia die Technik der Pantomime vor.

 

Sag mal, Ottokar, du bist doch Pantomime...

 

Na ja, Oskar, eigentlich lerne ich ja noch....

 

Wie bist du Pantomime geworden?

 

Wie soll ich sagen? Mein Englischlehrer ist Schuld daran. Ich habe Englischunterricht ab der 5. Klasse gehabt. Ich konnte mir damals schon furchtbar schlecht Vokabeln merken. Also habe ich immer mit Händen und Füßen geredet. Meine Englischlehrer behaupten, ich hätte dabei auch immer Fratzen geschnitten. Eines Tages gab mir mein Englischlehrer eine ganz besondere Hausaufgabe auf. Ich sollte mir die englischen Vokabeln, die wir bis dahin gelernt hatten, anschauen und mir einige Hauptwörter auswählen. Dann sollte ich mir überlegen, wie ich das Wort bildlich – pantomimisch darstellen kann. In der folgenden Stunde sollte ich dann meine Ideen vorstellen.

 

Der Vorteil dieses Systems? Auf diese spielerische Weise habe ich die Vokabeln spielerisch gelernt. Und der Unterricht machte auf einmal Spaß. Lehrer und Mitschüler unterschielten sich immer mehr auf Englisch. Am Ende des Schuljahres war kein deutsches Wort mehr im Englischunterricht zu hören.

 

Hat das auch im Latein-Unterricht geklappt?

 

Na klar. Am Ende führten wir den gallischen Krieg von Caesar pantomimisch auf.

 

„Pantomime (griechisch: pantomimos = „Pantomime“; wörtlich “alles nachahmend”) bezeichnet eine Form der darstellenden Kunst, deren Darsteller in den meisten Fällen ohne gesprochenes Wort auskommen und Szenen, Örtlichkeiten und Charaktere hauptsächlich durch Gestik und Mimik verständlich machen. Masken oder Schminkmasken können dabei Verwendung finden.

 

Als Gegenbewegung zum Ursprung der Pantomime aus Tanz und Zirkusartistik, den man noch im Stummfilm erkennt, hat sich eine karge, aufs Wesentliche beschränkte `autonome´ Pantomime als moderne Kunstform entwickelt. Gelegentlich wird diese Pantomime dennoch mit anderen Theaterformen verbunden, zum Beispiel beim schwarzen Theater, seltener auch im Schwarzlichttheater. Ebenso kann die Darbietung eines Clowns pantomimische Elemente enthalten,“ definiert Wikipedia den Begriff „Pantomime“. Dort gibt es auch Ausführungen zur Geschichte dieser Kunstform.

 

„Der römische Pantomimus war eine Art virtuoser Solotanz. Er war weit verbreitet, bis das Christentum alle Formen öffentlicher Aufführungen verbot. Eine Kontinuität des römischen Mimus über das Mittelalter hinweg wird manchmal behauptet, läßt sich aber nicht belegen. Allerdings wurde seit der Neuzeit immer wieder versucht, verschiedenste Theaterformen durch Berufung auf die Antike zu rechtfertigen.

 

Mit der Commedia dell´arte, dem italienischen Stegreiftheater der Renaissance, entstand seit dem 16. Jahrhundert eine neuzeitliche Form der Pantomime, die sich über den Umweg der europäischen Metropole  Paris auf der ganzen westlichen Welt verbreitete. Wenngleich hier Sprache verwendet wurde, hatten nicht nur Masken wie die Figuren des Pagliacchio oder Pedrolino (wird zu Pierrot) oder des Arlecchino (wird zu Harlekin) Einfluß auf die spätere Pantomime.

 

Mit dem Begriff der Pantomime verbunden ist die Vorstellung einer allgemeinen Verständlichkeit über Sprachgrenzen und Standesgrenzen hinweg. In diesem Sinne hatten auch die englischen Wanderschauspieler, die Kontinentaleuropa seit etwa 1600 bereisten, ohne die Sprachen in den von ihnen besuchten Ländern zu beherrschen, Anteil an ihrer Entwicklung. Sie nahmen Einflüsse der Commedia dell´arte auf.

 

Als populäres Gegenstück zum höfischen Ballett wurde im 18. Jahrhundert eine getanzte Form der Commedia dell`arte üblich, die man Pantomime nannte. Überall in Europa gab es Tanzkompanien, die diese sehr musikbetonten Stücke, oft mit vielen Kostümwechseln und Verwandlungen auf der Bühne, präsentierten.

 

Im Pariser Jahrmarktstheater entstand die stumme Pantomime, weil die offiziellen Pariser Theater aus Angst vor der wirtschaftlichen Konkurrenz dieser modischen Spielstätten zeitweise ein Textverbot für sie durchsetzen konnten.

 

In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in einer gehobeneren gesellschaftlichen Sphäre, hatte die Pantomime eine andere Funktion. Sie sollte nach dem Tod des tanzenden Königs Louis XIV 1715 die zunehmende Loslösung von den französischen Hofsitten rechtfertigen, die Tanz und Theater instrumentalisierten. Sie symbolisierte eine Bewegung ohne Benimm-dich-Regeln. Die Befreiung von den regulären Schritten des Gesellschaftstanzes, vom einengenden Korsett des Operngesangs, von den Posen und Deklamationsregeln der tragischen Schauspieler, all das wurde mit Vorliebe Pantomime genannt, die als Vision grenzenloser Freiheit, Wahrheit und Natürlichkeit erschien und sich zunehmend noch auf die Antike abstützen ließ. Von Jean-Baptiste Dubos über Denis Diderot bis Johann Georg Sulzer gibt es zahlreiche Äußerungen in der Richtung, daß die Pantomime den Menschen zur Natur hinführe.

 

Johann Jacob Engel faßte in seinen `Ideen zu einer Mimik´ (1786) manche Tendenzen des Jahrhunderts zusammen. Eine Leitidee war der Glaube daran, daß die wortlosen Künste Gestik und Mimik im Unterschied zur wortreichen und manipulierenden Rhetorik das `Innere der Seele´ unverstellt spiegeln. Dann wären Gestik und Mimik nach damaliger Vorstellung nicht Kunst, sondern Natur. Sie wären nicht machbar, sondern würden unwillkürlich aus dem Innern des begnadeten Künstlers hervorbrechen. Der sprachliche Ausdruck war dagegen eher dem Verdacht der Täuschung und Verstellung ausgesetzt. Diese theoretische Diskussion läßt sich nicht von ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld trennen. Die Pantomime der Jahrmärkte war gerade deshalb in Mode, weil sie `aus der Gosse´ kam und ursprünglich gering geschätzt wurde, so wie es bis heute bei vielen Tänzen oder Musikstilen der Fall ist.

 

In England hingegen war die Glorious Revolution 1688 schon geschehen und die populäre Theaterkunst deshalb weiter fortgeschritten als auch dem Kontinent vor der französischen Revolution 1789, wo sie mit zahlreichen Einschränkungen zu kämpfen hatte. Im Pariser Jahrmarkttheater wurde die Pantomime als Kampf gegen die Privilegien der Hoftheater betrachtet.

 

Das Aufstreben der Pantomime nach der französischen Revolution hat vor allem mit der strengen Theaterzensur zu tun, die Aufführungen ohne Text, also ohne die Gefahr politischer Äußerungen, stark begünstigte. Der Begriff Pantomime wird auch deshalb mit einer subtilen Gesellschaftskritik in Verbindung gebracht.

 

Die populäre Pantomime war noch im 19. Jahrhundert ein Gegenstück zum höfischen Ballett und wurde in Theatern aufgeführt, denen keine solchen gestattet waren, wie dem Theater in der Leopoldstadt Wien. Ein wichtiger `Pantomimenmeister´ war etwa Louis Milon am Pariser Theatre de l`Ambigu-Comique. Von dieser Ballett-Pantomime stammt die sogenannte `englische Pantomime´ her, die eng mit dem Zirkus verwandt war und in Joseph Grimaldi (dem Erfinder des Clowns) einen berühmten Interpreten hatte. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein bildeten `Pantomimen´ das Kernprogramm der Zirkusse, die ähnlich wie die Massenszenen in heutigen Kostüm- oder Historienfilmen aussahen, mit ausgedehnter Handlung, vielen Figuren, je nachdem auch mit exotischen Tieren. Beeindruckende Bilder waren dort wichtiger als Sprache. An Weihnachten wird die komische Variante dieser spektakulären Pantomimen noch heute in vielen englischsprachigen Gebieten der Welt aufgeführt. In den Music Halls seit 185ß erfuhr sie jene kommerzielle Perfektion, die man noch im Stummfilmkomödien bewundern kann.

 

`Lebendige Bilder´, die sich aus dem Posieren für Gemälde oder Fotos entwickelten und die etwa Henriette Hendel-Schütz kultivierte, wurden mitunter auch `Pantomimen´ genannt. Eine enge Verbindung zur weiteren Entwicklung der Pantomime hatte das Turnen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, das damals noch mehr theatralische Elemente enthielt als heute. Der Rhetoriklehrer Francois Delsarte erforschte und lehrte die `natürlichen´ Körperhaltungen, die er für eine Grundlage jeder sprachlichen Äußerung hielt. Noch der moderne Pantomime Jacques Lecoq hat als Turner begonnen und Jean-Gaspard Deburau war ein Meister im Stockkampf. Außerdem gehört das Fechten  seit dieser Zeit zu den Fähigkeiten eines Schauspielers des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie sollten Standespersonen authentisch darstellen und sich selbst in Ehrenhändeln verteidigen können. Später wurde es zwar zur `sinnfreien Leibesübung´, wird aber aus Gründen der Körpererziehung in der Schauspielerausübung bis heute beibehalten.

 

Deburau gilt auch als Erfinder der modernen, feinen und poetischen Pariser Pantomime auf dem Boulevard du Temple, die sich bis heute erhalten hat. Das Melodram zu jener Zeit enthält oft pantomimische Hauptrollen. Auf die Oper übertragen wurde dieses Prinzip in `Die Stumme von Portici´ (1828), in der die stumme Figur sozialkritische Sprengkraft besaß, was sich in der belgischen Revolution von 1830 bestätigte.

 

Artisten-Karrieren wie die von Carl Godlewski zeigen, daß auch nach 1900 die Grenzen zwischen Pantomime, Zirkusakrobatik und Tanz fließend waren, selbst auf höchstem Niveau. Dies erschien manchen Künstlern jedoch unbefriedigend. Die Pantomime des 20. Jahrhunderts, die auf Ètienne Decroux zurückgeht, ist nicht nur von der Kleinkunst der Music Hall und von den Schauspieltechniken im Stummfilm beeinflußt, sondern auch von Reformversuchen des Ballettanzes, die bei Francois Delsarte ihren Anfang nehmen und in den sogenannten Ausdruckstanz von Emil Jaques-Dalcroze oder Rudolf von Laban münden. Dessen Bewegungsexperimente auf dem Monte Veritá fanden weitherum Beachtung. So formte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine Art des Bewegungstheaters, das weder Ballett noch Gesellschaftstanz war,“ erfahre ich dort.

 

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Ganz einfach. Weil ich derzeit großen Ärger mit den Hörgeräteakustikern habe. Ich arbeite nämlich in einem Altenwohnheim. Und bin dort dazu übergegangen, mich pantomimisch mit den Senioren zu unterhalten. Offensichtlich verstehen mich die Damen und Herren sehr gut. Sie gehorchen mir und tun, was ich ihnen sage. Die Begleiterscheinung: Die Senioren brauchen ihre Hörgeräte immer weniger. Das Live-Fernsehen ist für sie spannender.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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