Fatima Wendt

Endlich daheim

Gutmütig betrachtete Walter den kleinen Jungen dabei, wie dieser sich auf der hohen Leiter reckte und streckte, um sich einen der prallen grünen Äpfel zu schnappen. Es trennten ihn nur noch wenige Zentimeter von seinem Glück, endlich in diesen saftigen Apfel zu beißen. „Soll ich dir nicht doch helfen, Marlon?“ fragte Walter ihn nach einiger Zeit. während er die vergeblichen Mühen des Junges beobachtete. Der kühle Herbstwind zerrte an Walters Regenjacke und drückte sie an seinen hageren Körper. Fahrig fuhr er sich mit der Hand durch sein graues, immer noch dichtes Haar, um es wieder zu ordnen. Dem Jungen musste doch auch langsam kalt werden, schließlich trieb er sich schon den ganzen Tag in der Gegend herum.
Marlon wandte sich vorsichtig zu ihm um, wobei seine kleinen Hände sich an der Leiter festklammerten, und warf ihm einen ernsten Blick zu. „Nein danke, ich schaffe das schon.“ Dann wandte er sich wieder aufmerksam dem bunten Baum zu und versuchte weiter sein Glück. Walter betrachtete ihn lächelnd. Er und seine Frau Trude nahmen schon seit einigen Jahren in den Ferien Kinder aus dem nahegelegenen Heim bei sich auf und spielten Ersatzgroßeltern. Doch keines war ihm bisher so schnell ans Herz gewachsen wie der kleine Junge, der nun vor ihm fast schon im dem Apfelbaum verschwand. Voller Zuneigung betrachtete er den schmächtigen Sechsjährigen, der immer noch darum kämpften endlich einen Apfel vom Baum zu pflücken. Er war nicht mehr ganz so blass wie am Anfang und in seinem schmalen Gesicht mit den leuchtend grünen Augen, welche immer frech funkelten, hatten sich mittlerweile eine ganze Menge Sommersprossen ausgebreitet. Die kurzen schwarzen Haare standen in alle Himmeslrichtungen ab, da er schon den ganzen Tag auf der Apfelplantage herumbetobt war. Trude hatte es nicht lassen können und war gestern mit ihm neue Anziehsachen einkaufen gewesen, welche er auch gleich heute angezogen hatte. Auf den Knien der schwarzen Latzhose hatten sich bereits nasse Grasflecken gebildet und auch der grüne Wollpulli sah schon recht mitgenommen aus. Aber das war nun mal bei Kindern so.
Walter und Trude hatten von Anfang an gewusst, dass Marlon etwas besonderes war und er hoffte, dass Emily, seine Tochter, es auch noch rechtzeitig bemerken würde. Obwohl Marlon wie all die anderen Kinder schon einiges schlimmes erlebt hatte, war er ein aufgeschlossenes Kerlchen, das mit jedem, ob Tier oder Mensch, Freundschaft schloss. Er war weder verschlossen, noch ängstlich oder traurig, im Gegenteil, er schien sich seinem Schicksal gefügt zu haben und es für okay befunden. Das hatte das ältere Ehepaar bei noch keinem anderen der Ferienkinder gesehen. Walter sehnte sich selbst nach Enkelkindern, aber leider konnte Emily selbst kein bekommen. Er hatte gesehen, wie sie in den letzten Tagen aufgeblüht war, wie viel sie mit dem kleinen Jungen gemacht hatte. Sonst war Emily Kindern gegenüber eher zurückhalten, wahrscheinlich aus Angst davor, dass sie sich zu sehr an sie gewöhnen konnte. Aber bei Marlon war es ganz anders, mit ihm schien sie sich wohl zu fühlen.
Als sich plötzlich eine warme Hand auf seine Schulter legte, zuckte er vor Schreck leicht zusammen. Seine Tochter lachte über diese Reaktion leise. „Hi Dad, ich habe dich und Marlon schon überall gesucht. Mum hat Essen fertig.“ Walter wandte sich zu ihr und war, wie jedes Mal wenn er sie anblickte, stolz auf sie. Emily hatte ein hübsches Gesicht, kluge blaue Augen und ihre langen braunen Haare waren zu einem eleganten Knoten zusammengebunden. Sie trug eines ihrer schwarzen Kostüme, die sie stets immer geschäftlich wirken ließen. „Hallo Emily.“ Er lächelte sie warm an. „Ich denke, ich sollte mit Marlon reden. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“ Es lag ein neues, zufriedenes Glitzern in ihren Augen und sie strahlte eine Ruhe aus, die Walter noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Ein freudiges Gefühl überkam ihn. Hatte sie sich etwa dafür entschieden? Er hatte es so sehr gehofft, war aber nicht sicher, ob sie sich letztendlich dazu durchringen würde. Schließlich bedeutete es eine entscheidende Änderung in ihrem Leben. Unbewusst seufzte er laut auf. „Na dann lasse ich euch beiden mal allein.“ Er stapfte mit großen Schritten in Richtung Haus zu seiner Frau. Ob sie wohl schon die Entscheidung von Emily kannte?
Emily trat an die Leiter heran und sah zu Marlon hoch, welcher endlich seinen langersehnten Apfel in der Hand hielt. Sie räusperte sich vernehmlich, da ihr plötzlich ein riesiger Kloß im Hals zu stecken schien. „Marlon, ich würde dich gerne etwas fragen.“ Der Junge kletterte die Leiter hinab und sah dann neugierig zu ihr auf. „Ja?“ Emily hockte sich vor ihm hin und sah ihn ernst an. Hoffentlich würde er es auch wollen, was sie ihm nun vorschlug. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus. „Ich wollte nur wissen,...na ja...also ich wollte nur wissen, ob du vielleicht hier bleiben möchtest?“ Marlon riss seine grünen Augen weit auf und blickte sie ungläubig an. „Hier bleiben?“ flüsterte er verblüfft. In seinen kleinen Händen begann er unruhig den Apfel hin und her zu drehen und starrte sie weiterhin an. Er schien es nicht glauben zu können, was sie ihm gerade vorgeschlagen hatte. Emily konnte es selbst nicht glauben. „Marlon, ich mag dich wirklich sehr gerne und würde dir gerne ein schönes zu Hause bieten. Wenn du möchtest, musst du nicht mehr ins Heim zurück. Was würdest du davon halten?“ Sie nahm seine Hände in ihre und drückte sie leicht. Er schien zu überlegen, schien abzuwägen, ob sie es wirklich ernst meinte. Als er wieder in die Augen blickte, konnte sie sehen, wie sich langsam Hoffnung darin ausbreitete. „Ich würde schon gerne, wenn ich darf. Mir gefällt es hier sehr gut.“ Gab er flüsternd zu. Sie drückte seine Hände noch einmal und stand dann lächelnd auf. „Ich denke, dann werde ich nachher einmal mit der Dame vom Jugendamt telefonieren. Und nun gehen wir zu meinen Eltern und sagen es ihnen. Sie werden sich bestimmt riesig freuen.“ Emily konnte nicht mehr aufhören zu strahlen. Er hatte wirklich ja gesagt, sie konnte es kaum glauben. Sie hatte endlich ein Kind! Er tastete vorsichtig nach ihrer linken Hand, in der rechten hielt er noch immer den grünen Apfel. „Darf ich es ihnen sagen?“ er grinste sie frech von untern an und biss dann geräuschvoll in den saftigen Apfel. „Klar, wenn du magst.“ Langsam gingen sie die breite Hofeinfahrt Richtung Haus entlang. Beide konnte es kaum abwarten die Neuigkeit mitzuteilen. Emily spürte den warmen Druck der kleinen Hand in ihrer und wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Fatima Wendt).
Der Beitrag wurde von Fatima Wendt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Fatima Wendt als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Schrei der Nachtigall von Anna Elisabeth Hahne



Das Buch handelt von einer einmaligen Liebe, die nicht gelebt werden kann, in der Kinder den ersten Platz einnehmen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Alltag" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Fatima Wendt

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Odyssee am Quartalsanfang von Karin Ernst (Alltag)
Aufsatz vom Karli über verschiedene Tiere von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen