Eva Güthner

Stille

Jetzt war doch alles ganz schnell gegangen. Vor einer Woche saßen sie noch zusammen im Garten. Sie hatten beide gewusst, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Die Krankheit ihres Mannes war schon weit fortgeschritten, doch sie hatten immer noch gehofft, dass alles besser würde.
 
Sie saß allein am Küchentisch. Die Uhr tickte leise. Vor dem Fenster spielten die Nachbarskinder mit einem Ball. Doch trotz dieser Geräusche herrschte eine Stille im Raum, die sie vorher nicht gekannt hatte.
Vor zwei Stunden hatten sie ihn geholt. Ein junger, freundlicher Mann hatte ihrem Sohn die nächsten Schritte erklärt, sie war nur still daneben gesessen. Weinen konnte sie nicht.
 
In den letzten Tagen war es immer schneller gegangen. Die Bewegungen waren immer langsamer geworden und irgendwann blieben sie ganz aus. Nur das regelmäßige Atmen, das nach und nach immer mehr in ein Röcheln überging, hatte sie wissen lassen, dass er noch bei ihr war.
 
Sie verbrachte fast die ganzen letzten Tage an seinem Bett und redete. Sie sprach über damals, nach dem Ende des Krieges, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Er, ein Soldat, der erst vor kurzem aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Hübsch war er nicht gewesen mit seinem eingefallenen Gesicht und den viel zu großen Kleidern, die um seinen ausgemergelten Leib schlotterten. Sie waren mitten auf der Straße ins Gespräch gekommen. Wie genau, das wusste sie nicht mehr. Liebe auf den ersten Blick war es, zumindest bei ihr, auch nicht gewesen. Erst nach mehreren Treffen hatte sie bemerkt, dass sie sich eine Zukunft mit ihm vorstellen konnte. Ein Jahr später hatten sie dann geheiratet. Groß gefeiert wurde nicht, sie hatten ja kaum was. Sie zogen in eine Wohnung in der Nähe der Kirche. Er war sehr religiös gewesen, im Gegensatz zu ihr. Aber irgendwann hatte sie sich an die allsonntäglichen Kirchgänge gewöhnt. Spaß hatten sie trotz der bescheidenen Verhältnisse, in denen sie lebten, oft gehabt. Er war romantisch gewesen, hatte sie immer wieder mit kleinen Aufmerksamkeiten überrascht und ihr so seine Liebe gezeigt.
 
Sie saß am Bett und redete. Redete über die guten Jahre, die sie miteinander verbracht hatten. Über die schlechten schwieg sie. Erst jetzt, am Küchentisch sitzend, allein in der stillen Wohnung, durchlebte sie noch einmal diese Zeiten, über die nie ein Wort verloren worden waren. Die Geburt des ersten Kindes. Eine Tochter. Dabei hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als einen Sohn. Und sie fühlte sich schuldig, quälte sich lange Zeit mit dem Vorwurf, seine Erwartungen nicht erfüllt zu haben. Zwei Jahre später dann die Erlösung, der lang erwartete männliche Nachwuchs. Der Junge wurde zum Mittelpunkt der Familie, der Liebling des Vaters.. Die Tochter spielte nur eine Nebenrolle.
 
So lebten sie einige Jahre, in ihrem Haus, ganz in der Nähe der Kirche. Sie bemerkte nicht, dass ihre Tochter unglücklich war, sich nicht geliebt fühlte, oder wollte es nicht bemerken. Erst als es zu spät war, ging ihr auf, dass sich ihre Mutterliebe nur auf den Sohn konzentriert hatte. Sie fanden sie morgens auf dem Dachboden, einen Strick um den Hals. Er tobte. Eine Selbstmörderin, und das in seiner Familie. Kein Wort der Trauer kam über seine Lippen. Seine Gedanken wurden beherrscht von der Schande, die seine Tochter über das religiöse Haus gebracht hatte. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, ob sie ihn noch liebte. Er beschimpfte sie, nannte sie eine schlechte Mutter, gab ihr die Schuld am Freitod des Mädchens. Und wieder machte sie sich Vorwürfe, nahm die gesamte Schuld auf sich. Erst viel später, vielleicht erst jetzt, nach seinem Tod, kam ihr die Erkenntnis, dass nicht nur sie die Situation verschuldet hatte.
 
Der Sohn wurde zu seinem gesamten Lebensinhalt. Gespräche mit ihr fanden nur noch sehr selten statt. Erst als der Sohn auszog gelang ihnen eine erneute, langsame Annäherung. Wie früher wurde es nie mehr.
Ein leiser Seufzer entwich ihr. Nein, einfach war es wirklich nicht mit ihm gewesen. Und dennoch, die Liebe zu ihm war vielleicht weniger geworden, aber ganz verloren hatten sie sie nicht. Besonders in den letzten Wochen hatte sie gespürt, dass er sie brauchte. Er hatte sich munter und zuversichtlich gegeben, aber sie hatte die Angst gespürt, die die Krankheit mit sich brachte. Nur manchmal,
abends,
wenn sie im Bett lagen, hatte er für kurze Zeit diese Maske fallen gelassen. Hatte ihre Hand ergriffen und sie gebeten, bei ihm zu bleiben und ihm beizustehen.
 
Die Uhr tickte leise. Vor dem Fenster spielten die Nachbarskinder mit einem Ball. Sonst war alles still. Eine Stille, an die sie sich nun gewöhnen musste. Und ganz langsam rollte eine Träne ihre Wange entlang.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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