Eine Einladung zum
Klassentreffen. Ich versuchte mich zu erinnern, doch es gelang mir nicht. Wer,
verdammt noch mal, lud mich da zu einem Klassentreffen ein? Mein Gedächtnis versagte kläglich.
Es war jetzt achtundzwanzig Jahre her, dass ich die Schule beendet hatte und
fast genau so lange war es her, dass mir jemand aus der alten Klasse begegnet
war.
Ja genau, Klassentreffen… Scheiß
drauf!
Die zerknüllte Einladung landete
im Papierkorb.
Ich stand auf dem Gehweg am Zaun
und sah eine Gruppe Menschen in einem Garten, die sich angeregt unterhielten.
Ich hätte mich zu ihnen gesellen, an den Gesprächen teilhaben sollen, doch noch
zögerte ich.
Ich hätte zwei, drei Schritte
rückwärts gehen und wieder verschwinden können, noch bevor mich jemand
bemerkte. Ich weiß, daß es besser gewesen wäre wieder zu gehen. Doch warum ging
ich nicht? Diese Leute im Garten waren mir eigentlich fremd. Das letzte Mal war
ich einigen von ihnen vor zu vielen Jahren begegnet. In all der inzwischen
vergangenen Zeit hatte ich kaum mal an einen von ihnen gedacht. Und nun stand ich hier, ohne
eigentlich zu wissen, warum?
Ein paar Meter entfernt stand
zwischen Gehsteig und Zaun ein ausladender Holunderbusch. Genau der Sichtschutz,
den ich brauchte.
Ich stellte mich an den Rand
dieses Busches, gerade so dicht um vor den Blicken der Menschen dort drüben im
Garten wenigstens halbwegs verborgen zu sein, aber nicht nah genug um bei
eventueller Entdeckung als versteckt gelten zu können.
Verdammt, ich brauchte jetzt eine
Zigarette, also zog ich mir ein Rillo aus der linken Brusttasche meiner
Motorradjacke, stecke sie mir zwischen die Lippen und ließ das Zippo
aufschnappen. Als das Rillo endlich glimmte, nahm ich einen tiefen Zug, dann sah
ich wieder zu den Leuten hinüber.
Zwei Hollywoodschaukeln, zwei
Biergartentische und ein großer Grill, auf dem irgendetwas friedlich vor sich
hin brutzelte. Etwa dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig Menschen standen,
zum Teil in kleinen Gruppen und redeten auf einander ein. Also was hinderte
mich daran, zwischen ihnen zu stehen und auch einige Weisheiten aus meinem
Leben von mir zu geben? Ganz einfach, sie waren mir fremd.
Ich versuchte noch immer
verkrampft, mir relevante Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu zotteln, als ich
von links auf mich zu kommende Schritte, die plötzlich stoppten und dann
heftiges Rascheln im Holunderbusch hinter mir hörte.
»Hallo, willst Du nicht langsam
zu uns kommen? Nur noch Harald und Du, dann sind wir komplett«.
Ich richtete mich langsam auf,
trat halbwegs lässig mein Rillo aus und drehte mich um. Vor mir stand eine
blonde, schlanke Frau, die mich offen anlächelte.
»Oder willst Du hier warten bis
der Bus kommt«?
Ich machte keinerlei Anstalten
mich zu bewegen, stand nur da und starrte sie dämlich an. Ich kramte wie wild
in den spärlichen Abbildern meiner frühesten Vergangenheit, aber da war nichts.
So sehr ich mich auch bemühte, ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wer diese
Frau war.
Sie sah mir weiter in die Augen
und bemerkte mein Dilemma. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie sagte »Ich
bin Gudrun, Gudrun Fischer! Na, dämmert es jetzt«?
Nein, nichts dämmerte und sie sah
für einen Moment enttäuscht aus.
»Tag Gudrun«, erwiderte ich,
»aber ich fürchte, so weit reichen meine Erinnerungen nicht. Es tut mir leid,
doch ich kann weder mit Deinem Namen, noch mit Deinem Äußeren irgendetwas
anfangen«.
In ihrem Gesicht waren ihre
Gedanken zu lesen. Entweder der Typ ist dumm oder er hat einen etwas seltsamen
Sinn für Humor.
Sie schüttelte ihren Kopf und fragte mich, »An wen erinnerst Du
Dich denn noch aus der alten Klasse? Immerhin gingen wir zehn Jahre lang
zusammen zur Schule, waren Nachbarn, verbrachten viel Zeit mit einander…
Was
weißt Du von all dem noch«?
Bevor ich antwortete, ging ich
langsam auf sie zu. Sie wich zurück, so daß wir aus dem Busch traten und auf
dem Gehweg standen.
»Gudrun, es ist fast dreißig
Jahre her. In all diesen Jahren bin ich kaum jemanden von Euch begegnet. Ihr
seid Personen aus einem völlig anderen Leben und wenn ich ehrlich bin, aus
einem Leben, an das ich mich nur ungern erinnere. Ich habe inzwischen viel von
damals verdrängt. Und wie es aussieht, recht erfolgreich«.
Gudrun sah mich leicht verstört
an. »Gut, Du hast mit Früher abgeschlossen, lässt die Vergangenheit ruhen, das
verstehe ich noch halbwegs… Aber warum gehst Du dann zu einem Klassentreffen«?
»Bin ich ja nicht«, gab ich
zurück.
»Wie viele Klassentreffen hattet Ihr seit damals«?
»Etliche über die Jahre«.
»Bin ich je auf einem dieser
Treffen aufgekreuzt«?
Gudrun schüttelte den Kopf. »Aber
warum bist Du dann heute hier«?
»Keine Ahnung. Neugierde
vielleicht«?
»Dann komm mit zu uns in den
Garten und dann werden wir sehen«.
Ich zündete mir ein neues Rillo
an, sog den ersten Zug tief ein und antwortete leise.»Nein, ich werde einfach wieder
verschwinden. Zwei Straßen weiter steht meine Guzzi und im Koffer habe ich
Badezeug. Ich werde an den See fahren, Baden und auf gute Erinnerungen hoffen.
Dann werde ich wieder nach Hause fahren und das Leben geht weiter. So einfach
ist das«.
Sie griff nach meinem Arm und
sagte heftig »Willst Du denn gar nicht wissen, was aus den früheren Freunden
geworden ist«?
»Ach Gudrun, so gut scheinst Du
Dich aber auch nicht zu erinnern«.
Sie sah mich fragend an.
»Na
damals gab es Euch und es gab mich. Nennenswerte Freundschaften kamen da nicht
wirklich auf. Verdammt, die Meisten von Euch konnte ich nicht einmal leiden.
Und der Rest? Was immer da war ist auf der Strecke verreckt. Manche blieben
hier, andere zogen weg, so wie ich, aber die Meisten lebten all die Jahre in
einem Umkreis von vielleicht fünfzig Kilometern«.
Sie sah mich fragend an und ich
redete mich gerade in Rage.
»Wann hast Du das letzte Mal den
„dringenden“ Wunsch verspürt, mich zu besuchen oder mich auch nur anzurufen?
Kennst Du überhaupt meine Adresse, meine Telefonnummer«?
Jetzt war ihr Blick traurig.
Scheiße, das hatte ich nicht gewollt. Ich selbstgerechtes Arschloch kreuzte
hier auf und versaute einer Gudrun aus meiner Vergangenheit den Tag. Einer
Gudrun, an die ich mich nicht einmal erinnerte.
»Entschuldige bitte, sagte ich,
das war so nicht geplant und war auch keineswegs an Dich gerichtet. All das
trifft ja auch auf mich zu, sogar noch viel mehr. Nicht nur, daß ich nicht weiß
wo Du wohnst oder Deine Telefonnummer kenne, ich habe Dich sogar völlig vergessen«!
Ich holte tief Luft und redete
weiter. »Das ist es, was mir eigentlich zu denken gibt. Ich selbst habe alle
Verbindungen abreißen lassen. Inzwischen finde ich, daß es so in Ordnung ist.
Mein Leben heute ist erträglich, mein Leben damals ist inzwischen egal«.
Gudrun erwiderte, »Glaubst Du
diesen ganzen Müll, den Du hier von Dir gibst, wirklich«?
»Ach Quatsch, ich höre mich nur
gerne reden. Lass uns zu den anderen gehen und uns ein wenig Zeit vertrödeln«.
Gudrun grinste, zwinkerte mir zu,
drehte sich dann um und begann den Weg am Zaun zurück zu gehen. Mit einem Wink
ihres Arms deutete sie mir, ihr zu folgen.
Ich sah noch einmal in den Garten
zu diesen gealterten Gestalten aus meiner Vergangenheit. Sie gingen mich nichts
an, keiner von ihnen.
Klassentreffen, ja klar… Was
hatte ich doch manchmal für bescheuerte Ideen.
Ich zog den Verschluss meiner
Jacke zu, drehte mich um und machte mich auf den Weg zum Motorrad. Ich ging
weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen, obwohl ich Gudruns Blick in meinem
Rücken spürte.
Nein, ich würde mich nie wieder umdrehen, nicht die nächsten
dreißig Jahre.
Mir wurde klar, daß ich nie
vorgehabt hatte, zu diesem Treffen zu gehen. Ich wollte von Anfang an zum See.
Warum hätte ich sonst das Badezeug mitnehmen sollen? Warum?
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2008.
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