Holger Wobst

Klassentreffen

Vor drei Wochen fand ich einen Brief in meiner Post.
Eine Einladung zum Klassentreffen. Ich versuchte mich zu erinnern, doch es gelang mir nicht. Wer, verdammt noch mal, lud mich da zu einem Klassentreffen ein? Mein Gedächtnis versagte kläglich. Es war jetzt achtundzwanzig Jahre her, dass ich die Schule beendet hatte und fast genau so lange war es her, dass mir jemand aus der alten Klasse begegnet war.
Ja genau, Klassentreffen… Scheiß drauf!
Die zerknüllte Einladung landete im Papierkorb.

Ich stand auf dem Gehweg am Zaun und sah eine Gruppe Menschen in einem Garten, die sich angeregt unterhielten. Ich hätte mich zu ihnen gesellen, an den Gesprächen teilhaben sollen, doch noch zögerte ich.
Ich hätte zwei, drei Schritte rückwärts gehen und wieder verschwinden können, noch bevor mich jemand bemerkte. Ich weiß, daß es besser gewesen wäre wieder zu gehen. Doch warum ging ich nicht? Diese Leute im Garten waren mir eigentlich fremd. Das letzte Mal war ich einigen von ihnen vor zu vielen Jahren begegnet. In all der inzwischen vergangenen Zeit hatte ich kaum mal an einen von ihnen gedacht. Und nun stand ich hier, ohne eigentlich zu wissen, warum?

Ein paar Meter entfernt stand zwischen Gehsteig und Zaun ein ausladender Holunderbusch. Genau der Sichtschutz, den ich brauchte.
Ich stellte mich an den Rand dieses Busches, gerade so dicht um vor den Blicken der Menschen dort drüben im Garten wenigstens halbwegs verborgen zu sein, aber nicht nah genug um bei eventueller Entdeckung als versteckt gelten zu können.
Verdammt, ich brauchte jetzt eine Zigarette, also zog ich mir ein Rillo aus der linken Brusttasche meiner Motorradjacke, stecke sie mir zwischen die Lippen und ließ das Zippo aufschnappen. Als das Rillo endlich glimmte, nahm ich einen tiefen Zug, dann sah ich wieder zu den Leuten hinüber.
Zwei Hollywoodschaukeln, zwei Biergartentische und ein großer Grill, auf dem irgendetwas friedlich vor sich hin brutzelte. Etwa dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig Menschen standen, zum Teil in kleinen Gruppen und redeten auf einander ein. Also was hinderte mich daran, zwischen ihnen zu stehen und auch einige Weisheiten aus meinem Leben von mir zu geben? Ganz einfach, sie waren mir fremd.
Ich versuchte noch immer verkrampft, mir relevante Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu zotteln, als ich von links auf mich zu kommende Schritte, die plötzlich stoppten und dann heftiges Rascheln im Holunderbusch hinter mir hörte.
»Hallo, willst Du nicht langsam zu uns kommen? Nur noch Harald und Du, dann sind wir komplett«.
Ich richtete mich langsam auf, trat halbwegs lässig mein Rillo aus und drehte mich um. Vor mir stand eine blonde, schlanke Frau, die mich offen anlächelte.
»Oder willst Du hier warten bis der Bus kommt«?

Ich machte keinerlei Anstalten mich zu bewegen, stand nur da und starrte sie dämlich an. Ich kramte wie wild in den spärlichen Abbildern meiner frühesten Vergangenheit, aber da war nichts. So sehr ich mich auch bemühte, ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wer diese Frau war.
Sie sah mir weiter in die Augen und bemerkte mein Dilemma. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie sagte »Ich bin Gudrun, Gudrun Fischer! Na, dämmert es jetzt«?
Nein, nichts dämmerte und sie sah für einen Moment enttäuscht aus.
»Tag Gudrun«, erwiderte ich, »aber ich fürchte, so weit reichen meine Erinnerungen nicht. Es tut mir leid, doch ich kann weder mit Deinem Namen, noch mit Deinem Äußeren irgendetwas anfangen«.
In ihrem Gesicht waren ihre Gedanken zu lesen. Entweder der Typ ist dumm oder er hat einen etwas seltsamen Sinn für Humor.
Sie schüttelte ihren Kopf und fragte mich, »An wen erinnerst Du Dich denn noch aus der alten Klasse? Immerhin gingen wir zehn Jahre lang zusammen zur Schule, waren Nachbarn, verbrachten viel Zeit mit einander…
Was weißt Du von all dem noch«?
Bevor ich antwortete, ging ich langsam auf sie zu. Sie wich zurück, so daß wir aus dem Busch traten und auf dem Gehweg standen.
»Gudrun, es ist fast dreißig Jahre her. In all diesen Jahren bin ich kaum jemanden von Euch begegnet. Ihr seid Personen aus einem völlig anderen Leben und wenn ich ehrlich bin, aus einem Leben, an das ich mich nur ungern erinnere. Ich habe inzwischen viel von damals verdrängt. Und wie es aussieht, recht erfolgreich«.
Gudrun sah mich leicht verstört an. »Gut, Du hast mit Früher abgeschlossen, lässt die Vergangenheit ruhen, das verstehe ich noch halbwegs… Aber warum gehst Du dann zu einem Klassentreffen«?
»Bin ich ja nicht«, gab ich zurück.
»Wie viele Klassentreffen hattet Ihr seit damals«?
»Etliche über die Jahre«.
»Bin ich je auf einem dieser Treffen aufgekreuzt«?
Gudrun schüttelte den Kopf. »Aber warum bist Du dann heute hier«?
»Keine Ahnung. Neugierde vielleicht«?
»Dann komm mit zu uns in den Garten und dann werden wir sehen«.
Ich zündete mir ein neues Rillo an, sog den ersten Zug tief ein und antwortete leise.»Nein, ich werde einfach wieder verschwinden. Zwei Straßen weiter steht meine Guzzi und im Koffer habe ich Badezeug. Ich werde an den See fahren, Baden und auf gute Erinnerungen hoffen. Dann werde ich wieder nach Hause fahren und das Leben geht weiter. So einfach ist das«.
Sie griff nach meinem Arm und sagte heftig »Willst Du denn gar nicht wissen, was aus den früheren Freunden geworden ist«?
»Ach Gudrun, so gut scheinst Du Dich aber auch nicht zu erinnern«.
Sie sah mich fragend an.
»Na damals gab es Euch und es gab mich. Nennenswerte Freundschaften kamen da nicht wirklich auf. Verdammt, die Meisten von Euch konnte ich nicht einmal leiden. Und der Rest? Was immer da war ist auf der Strecke verreckt. Manche blieben hier, andere zogen weg, so wie ich, aber die Meisten lebten all die Jahre in einem Umkreis von vielleicht fünfzig Kilometern«.
Sie sah mich fragend an und ich redete mich gerade in Rage.
»Wann hast Du das letzte Mal den „dringenden“ Wunsch verspürt, mich zu besuchen oder mich auch nur anzurufen? Kennst Du überhaupt meine Adresse, meine Telefonnummer«?
Jetzt war ihr Blick traurig.
Scheiße, das hatte ich nicht gewollt. Ich selbstgerechtes Arschloch kreuzte hier auf und versaute einer Gudrun aus meiner Vergangenheit den Tag. Einer Gudrun, an die ich mich nicht einmal erinnerte.
»Entschuldige bitte, sagte ich, das war so nicht geplant und war auch keineswegs an Dich gerichtet. All das trifft ja auch auf mich zu, sogar noch viel mehr. Nicht nur, daß ich nicht weiß wo Du wohnst oder Deine Telefonnummer kenne, ich habe Dich sogar  völlig vergessen«!
Ich holte tief Luft und redete weiter. »Das ist es, was mir eigentlich zu denken gibt. Ich selbst habe alle Verbindungen abreißen lassen. Inzwischen finde ich, daß es so in Ordnung ist. Mein Leben heute ist erträglich, mein Leben damals ist inzwischen egal«.
Gudrun erwiderte, »Glaubst Du diesen ganzen Müll, den Du hier von Dir gibst, wirklich«?
»Ach Quatsch, ich höre mich nur gerne reden. Lass uns zu den anderen gehen und uns ein wenig Zeit vertrödeln«.
Gudrun grinste, zwinkerte mir zu, drehte sich dann um und begann den Weg am Zaun zurück zu gehen. Mit einem Wink ihres Arms deutete sie mir, ihr zu folgen.
Ich sah noch einmal in den Garten zu diesen gealterten Gestalten aus meiner Vergangenheit. Sie gingen mich nichts an, keiner von ihnen.
Klassentreffen, ja klar… Was hatte ich doch manchmal für bescheuerte Ideen.
Ich zog den Verschluss meiner Jacke zu, drehte mich um und machte mich auf den Weg zum Motorrad. Ich ging weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen, obwohl ich Gudruns Blick in meinem Rücken spürte.
Nein, ich würde mich nie wieder umdrehen, nicht die nächsten dreißig Jahre.

Ich war am See, ging Baden, lag im Gras, grinste debil den Wolken hinterher und sah einem alten Mann im Schilf beim Angeln zu. Es war ein wunderbarer Abend.
Mir wurde klar, daß ich nie vorgehabt hatte, zu diesem Treffen zu gehen. Ich wollte von Anfang an zum See. Warum hätte ich sonst das Badezeug mitnehmen sollen? Warum?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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