Klaus Eylmann

Dieter

Anna war zum Weinen zu Mute, doch es kamen keine Tränen mehr. Am ersten Abend war es anders gewesen. Die Stille des Wohnzimmers hing über ihr, sie hörte das Pochen ihres Blutes und war keines klaren Gedankens fähig. Jeden Abend verdichtete sich das Gefühl der Einsamkeit. Dieter, seit drei Tagen war er nicht mehr gekommen. Anna fasste es nicht, nach allem, was gewesen war. Er hatte sich aus ihrem Leben gestohlen.
Er arbeite in der Autofabrik am Fliessband, hatte er gesagt, sie mache Hamburger bei Burger King, hatte sie erwidert, sei zwar keine Fliessbandarbeit, aber so ähnlich. Anna stellte den Fernseher an und zappte durch die Kanäle. Den ersten Abend hatte sie da gesessen und auf die Tür gestarrt, am nächsten war sie aktiv geworden.
“Dieter?” hatte der Pförtner gefragt. “Welcher Dieter?”
“Seinen Nachnamen kenne ich nicht. Er arbeitet am Fliessband. Ist blond, eins achtzig gross, hat blaue Augen und ein kantiges Gesicht. So wie Supermann.”
“Ist er Brillenträger?, dann heisst er nicht Dieter, sondern Clark Kent.” Das war nicht witzig und Anna stemmte die Arme in die Hüften.
“Rufen Sie nun an?, oder...”
“Ja, es gab da einen Dieter, doch der ist nicht mehr bei uns.”
Also Fehlanzeige, und sie wusste nicht, wo er wohnte. Vor ein paar Tagen hatte er mit einer Reisetasche vor ihrer Tür gestanden und war die Nächte bei ihr geblieben. Die Tasche war noch da.
Dieter. Sein Bild hatte sich in ihr Hirn gebrannt, in einem Tanzlokal, und für sie war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Hatte er sie beim Tanzen berührt, bekam sie weiche Knie, als er fragte: “Darf ich Sie küssen?”, einen glasigen Blick. Und als sie des nachts wieder ja sagte, begann er bei ihren Füssen, küsste jeden Zentimeter, brachte ihre Nervenden zum Schwingen. Er hatte nicht viel geredet, wie konnte er auch, und am morgen, als sie ihn fragte: “Liebst du mich?”, antwortete er: “Nein.”
“Dann war ich dein Sexobjekt?”
Er sagte wieder: “Nein,” und küsste sie, zärtlich, und nicht wie jemand der nur auf Sex aus war.
Nun war er fort. Im Fernsehen lief eine dumme Talkshow mit dem Titel: ‘Der perfekte Liebhaber’. Als ob die es wüssten.

Sie schaltete auf einen anderen Kanal. Die Hektik des Reporters bildete einen Gegensatz zur Stille der leeren Fabrikhalle mit ihren stillstehenden Bändern.
“Meine Damen und Herren, ein neuer Meilenstein in der Entwicklung der Robotik. Hätten Sie je gedacht, dass wir es so weit bringen würden, Roboter herzustellen, die Menschen gleichen und deren Fähigkeiten haben? Nennen wir sie Androiden.”
Der Reporter zeigte auf die Laufbänder.
“Auf diesen Bandstrassen werden sie künftig gefertigt. Ein im Labor zusammengesetztes Exemplar wird zur Zeit getestet. Wir begeben uns jetzt zu ihm.”
Langweiliges Zeug, dachte Anna und langte zur Fernbedienung, dann erbleichte sie. Erschrocken beugte sie sich vor, als sie Dieter sah. Er lag rücklings auf einem Tisch. Männer in weissen Overalls, Mundschutz und Handschuhen standen um ihn herum. Himmel, was machten sie mit ihm? Ein gequälter Schrei kam aus ihrem Mund, als sie sah, wie die Männer Dieters Schädeldecke hochklappten und eine Plastikkarte aus seinem Kopf zogen. Danach steckten sie eine andere Karte hinein und verschlossen seinen Kopf. Anna fiel in die Polster zurück, ihr wurde schwarz vor Augen. Wie von weitem hoerte sie die gedämpfte Stimme.
“Wir befinden uns in einem staubfreien Labor. Die Techniker legen letzte Hand an den Androiden, der schon einige Monate im Feld getestet worden ist. Nun wurde sein Programm fuer einen neuen Einsatz geändert. Diesmal geht es in ein Fastfood Restaurant vor Ort.
Herr Doktor Glöben, Sie sehen mich überwältigt. Wieso haben wir bis heute nichts über Ihre Androiden gehört?”
Einer der Männer zog den Mundschutz vom Gesicht.
“Herr Lueg, die Androiden befinden sich noch im Test. Es ist doch verständlich, dass wir erst an die Öffentlichkeit gehen, wenn Ergebnisse vorliegen. Dieses Exemplar, das Sie hier sehen, hat die Arbeit am Fliessband einwandfrei durchgefuehrt. Die menschlichen Kollegen hatten ihn als ihresgleichen akzeptiert. Dass er ein Android ist, war ihnen verborgen geblieben.”
“Gab es noch weitere Tests?”
“Die soziale Interaktion. Dies Programm war weitaus komplizierter. Es kam darauf an, herauszubekommen, inwieweit ein Android mit Menschen des anderen Geschlechtes interagieren kann.”
Der Wissenschaftler hielt einen Augenblick inne. Leichte Röte überzog sein Gesicht.
“Wir haben das Ergebnis noch nicht vollständig ausgewertet, doch eines können wir schon sagen: Unsere Erwartungen wurden übertroffen.”
“Könnten Sie uns Näheres dazu sagen?”
Anna hielt den Atem an.
“Nur so viel. Er ist sehr umgänglich und ausdauernd. Er reagiert mit positiver Sensibilität auf die Wünsche der Partnerin und seine körperliche Sensitivität gleicht der eines gesunden Mannes.” Der Wissenschaftler nahm seine Brille ab.
“Denken Sie daran, dass Asimovs Gesetze, die im Programm des Androiden eingebettet sind, es ihm nicht gestatten, einem Menschen körperliches oder seelisches Leid anzutun. Das gilt übrigens für alle Roboter mit künstlicher Intelligenz.”
“Herr Dr. Glöben, wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten fuer derartig programmierte Roboter und stimmt es, dass sie stets umprogrammiert werden müssen?”
Der Wissenschaftler lächelte nachsichtig. “Androiden, Herr Lueg. Androiden. Maschinen in der Lackierung sind auch Roboter, und ja, wir müssen die Programme austauschen. Doch sehen Sie, Herr Lueg, Androiden lernen, genau wie wir.
Wo könnten wir sie einsetzen? In Frauenhäusern zum Beispiel. Dort sehen wir einen therapeutischen Effekt.”
Der Reporter blickte in die Kamera. “Meine Damen und Herren. Wir leben in interessanten, und was die Männer unter uns betrifft, auch herausfordernden Zeiten.”
Benommen schaltete Anna den Fernseher aus. Dieter, eine Maschine, ein Android, was immer das war. Sie hatte eine verdammte Maschine im Bett gehabt. Und ‘Frauenhäuser’, sah sie so aus, als würde sie sich von einem Mann verprügeln lassen?

Als Anna am nächsten Morgen die Frühschicht bei Burger King antrat, sass der Schock noch tief. Glücklicherweise brauchte man kein Diplom, um einen Kunden zu bedienen, und sie machte keine Fehler, auch wenn ihre Gedanken wild umherwanderten.

“Leute, darf ich euch Dieter vorstellen? Er ist Praktikant und hier, um zu lernen, wie man Hamburger macht und verkauft. Er wird euch bei der Arbeit behilflich sein.”
Die Schichtleiterin blickte Dieter schelmisch von der Seite an. Wie vom Blitz getroffen starrte Anna auf ihn, die Maschine, eingebettet in künstliches Fleisch, die jedem von ihnen die Hand gab. Anna fühlte, wie Wut in ihr hochstieg, als sie sah, wie Lisa sich ins Kreuz warf, die Brust rausschob und Dieter anstrahlte. Sie verstand es nicht, wieso reagierte sie so? Es war nur eine verdammte Maschine, ein Andro..was auch immer. Jutta und Karin tänzelten um ihn herum und Fritz hielt Dieters Hand über Gebühr in der eigenen. Was war denn mit dem los? Was würden sie machen, wenn sie wüssten, was Dieter wirklich war?
“Und das ist die Anna,” meinte die Schichtleiterin. Sie werden mit ihr zusammenarbeiten.”
“Anna,” meinte er nur, blickte sie an und sagte: “Guten Tag.” Sie zitterte am ganzen Körper.
“Guten Tag Dieter,” sagte Anna und lächelte verkrampft, “und herzlich willkommen bei uns.” Am liebsten hätte sie geheult.
“Danke.” Er hielt ihre Hand fest und ihre Beine schienen aus Gummi.

Die nächsten Tage waren für Anna ein Martyrium. Während sie ihn anlernte, und er begriff sehr schnell, glichen ihre Gedanken einem Strudel, der nur um Dieter kreiste. Wieso hatte er sie nicht wiedererkannt?
Während sie hinter dem Tresen stand, Kunden bediente und Jutta, Karin und Fritz in der Küche hinter ihr mit Dieter tändelten, stieg in ihr von neuem die Wut empor. Es fiel ihr schwer, nicht dazwischenzufahren. Doch was gab ihr das Recht dazu? Was würde passieren, schrie sie: “Dieter gehört mir!”?
Und wenn er neben ihr stand, so wie jetzt, schmuck in seiner Burger King Uniform, um die Schlange der Kunden abzuarbeiten, war es auch nicht besser.
Sie dachte an die Abende und Nächte, die Art, wie er die Signale ihres Körpers interpretierte und dessen Wünsche umsetzte, bevor sie diese selbst verstanden hatte.
“Ein Doppel Whopper mit Pommes Frittes und eine Cola, bitte.”
Wie er sie sanft aufs Bett und sich zu ihr legte.
“Hören Sie. Ein Doppel Whopper und Pommes Frittes und eine Cola.”
“Anna.”
Wie seine Hände ganz leicht ihren Körper entlangfuhren, die Nervenenden in ihrer Haut vibrierten...
“Was ist mit meinem Doppel Whopper!”
“Anna!”
Verwirrt blickte sie um sich, sah, wie Dieter auf einen Kunden zeigte, der sie wütend anstierte.

Tage vergingen, und Anna spürte, wie Dieter sie des öfteren von der Seite ansah.
“Anna,” sagte er einmal.
“Was, Dieter?”
“Habe ich dich vorher schon gesehen?”
“Was meinst du, Dieter?” Dieter blieb stumm, doch sie sah, wie sein Blick sie wiederholt streifte.

Es war Abend, und es goss in Strömen, als es läutete. Annas Atem stockte. Dieter stand in der Tür. Sie liess ihn ein und ging mit ihm ins Wohnzimmer.
“Anna.”
“Ja, Dieter?”
“Ich habe mich erinnert.”
“An was?”
“Ich war schon einmal hier.”
“Und was hast du hier gemacht?”
“Ich weiss es nicht.”
Anna trat ganz dicht an ihn heran, knöpfte sein Hemd auf und fragte: “Darf ich dich küssen?”

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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