Helmut Wurm

Sokrates und der geltungsbedürftige Universitätskollege

Sokrates sitzt vor seinem einfachen, hier in Deutschland gemieteten Haus, wo er sich allerdings nur selten aufhält, weil er ja bekanntlich ständig unterwegs ist und Gespräche sucht, um die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Das Haus steht in der Nähe einer bekannten Universität. Regelmäßig fahren vornehme Autos von Professoren vorbei oder bedeutende Professoren gehen erhobenen Hauptes und gut gekleidet vorbei und schauen oft etwas verächtlich auf ihren berühmten Kollegen Sokrates (er ist ja zusammen mit Plato und Aristoteles als Mitbegründer der modernen kritischen Forschung ein Kollege) in seiner einfachen, etwas ungewohnten Kleidung und auf sein einfaches Haus. Wieder geht ein Professor an seinem Haus vorbei, dem man ansieht, dass er den Stolz über seine Position auch materiell kenntlich machen möchte.

Der Universitätskollege: Sokrates, du musst Dein Haus endlich einmal neu streichen lassen. Alle Deine Nachbarn lassen ihr Haus regelmäßig neu streichen. Und Du musst Dir auch mal wieder ein neues und endlich größeres Auto kaufen. Viele Deiner Kollegen an den Universitäten fahren große Autos. Das sind sie ihrem Berufsstand schuldig. Und Deine sparsamen Urlaubsreisen in die ländliche Umgebung während der Semesterferien erwecken nur den Verdacht von Armut. Du weißt doch, dass in unserer Gesellschaft äußerer Wohlstand ein Zeichen für öffentliches Ansehen und beruflichen Erfolg ist und dass Armut als gesellschaftliches Makel gilt. Willst du denn nicht erfolgreich scheinen? Du musst dich doch nicht gerade an deinem übertreibenden Kollegen Diogenes orientieren. Damals galt materielle Bescheidenheit vielleicht als eine Tugend, heute und hier aber immer weniger.

Sokrates: Ich weiß, Herr Kollege, dass du es mit deinem Rat gut meinst. Aber ich habe mein Haus bisher bewusst noch nicht streichen lassen, weil es noch nicht verwahrlost, sondern noch ganz gepflegt aussieht. Ich fahre bewusst kein größeres Auto, weil mein jetziges kleines ausreicht und wenig Treibstoff verbraucht. Ich fahre bewusst nicht in teuren Urlaub, weil mir die hiesige schöne Umgebung für Erholung ausreicht. Und ich möchte meinen Studenten zeigen, dass es auch noch andere Werte im Leben gibt als äußeren Wohlstand und dass man mit weniger zufrieden sein kann. Das ist für mich ein wichtiges, pädagogisches Ziel und die Pädagogik ist ja eine anerkannte Wissenschaft.

Der Universitätskollege: Damit, lieber Sokrates, stellst du dich gegen den Trend und wirst zum intellektuellen Außenseiter. Ich als Soziologe kann das am besten beurteilen. Ich achte darauf, dass mein teurer Wagen für alle sichtbar auf dem Universitätsparkplatz steht. Ich habe mir bewusst ein komfortables Haus gebaut. Meine Kleidung ist teuer und geschmackvoll und meine Armbanduhr wertvoll. Damit erreiche ich Anerkennung bei meinen Studenten und Nachbarn. Dadurch habe ich es viel leichter als früher. Selbst die Schüler unserer Schulen achten schon auf Markenartikel und auf das Äußere der Lehrer, auf deren Automarken und auf das Haus der Lehrer und messen deren Wert danach. Du machst dich mit deiner Bescheidenheit und deinem Idealismus nur lächerlich.

Sokrates: Deine Beobachtung, werter Soziologie-Kollege, dass schon die heutigen Jugendlichen den Wert eines Menschen nach seinem äußeren Schein beurteilen, erfüllt mich zunehmend mit Sorge. Schon im alten Athen war das so, aber vielleicht nicht so ausgeprägt wie heute. Gerade deshalb trete ich ja bewusst bescheiden auf, damit meine Studenten an mir als Vorbild sehen, dass einfaches Leben auch sehr glücklich machen kann... wobei man es ja nicht so weit wie Diogenes treiben muss. Denn ich beobachte zunehmend, dass viele heutige Studenten bereits zu große materielle Ansprüche an das Leben haben. Viele wollen bereits ein Auto, wollen an vielen Veranstaltungen teilnehmen, wollen regelmäßig in Urlaub fahren, wollen nach Herzenslust telefonieren, die neuesten digitalen Geräte und Programme haben... Kein Wunder, dass für viele Studenten das BaföG-Geld nicht ausreicht. Aber wir können dem nur unsere persönliche lebenslange Bescheidenheit als Vorbild gegenüberstellen, denn junge Leute wollen immer möglichst schnell den materiellen Wohlstand ihrer Eltern und Lehrer erreichen. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir Dozenten wenigstens ein Vorbild für Bescheidenheit sind.

Der Universitätskollege: Da sind wir einer Meinung, lieber Sokrates, junge Leute sollen sich mit materiellen Ansprüchen solange gedulden, bis sie genügend Geld verdienen. Das mussten wir ja auch. Wir haben in den schlechten Jahren gelernt bescheiden zu sein. Das sollen die jungen Erwachsenen von heute auch lernen. Sie sollen unterscheiden können, was ihnen bereits jetzt zusteht und was noch nicht. Ich persönlich will aber nicht mein Leben lang pädagogisches Vorbild für Bescheidenheit sein, dafür habe ich mein Leben lang zu hart gearbeitet. Ich möchte meinen beruflich Erfolg offen zeigen und genießen.

Sokrates: Hast du dann den richtigen Beruf gewählt, lieber Kollege? Du bist, ob du es willst oder nicht, Orientierung für junge Erwachsene geworden, die heutzutage mehr denn je eines Vorbildes von Bescheidenheit bedürfen. Du sollst ihnen und ihren Eltern nicht imponieren wollen, sondern sich gegen den materiellen Zeitgeist zu entscheiden lernen. Denke einmal darüber nach...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helmut Wurm).
Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Helmut Wurm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Hauskater Moritz erzählt selbst von Ernst Dr. Woll



In Märchen, in Fabeln, können Tiere sprechen. Was in dieser Weise in den 9 Kurzgeschichten ein Hauskater erzählt basiert auf vielen wahren Begebenheiten.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helmut Wurm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sokrates und die Beichte eines Bildungspolitikers von Helmut Wurm (Schule)
Ein seltsames Erlebnis von Marion Bovenkerk (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
String „Z” – ein Königreich für ein Multiuniversum ! von Egbert Schmitt (Surrealismus)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen