Helmut Wurm

Sokrates und der versteckt-demagogische Sozialkundelehrer

(Das Gespräch fand zwar schon früher statt, könne aber an einigen Schulen aktueller denn je geworden sei)

Sokrates geht früh zu einem Erfolg versprechenden Gesprächsort. Er schätzt solche morgendlichen Gespräche, denn er weiß, „Morgenstund hat Gold im Mund“. In der Frühe sind die Menschen noch offener für das Nachdenken. Auf seinem Weg begegnet er einem ihm bekannten Sozialkundelehrer, der sich öffentlich besonders mit seiner Erziehung der Schüler zur Emanzipation brüstet. Er hat bei en Schülern einen ziemlichen Einfluss, denn er ist wortgewandt und seit Jahren Vertrauenslehrer. Manche munkeln, er sei auch demagogisch begabt.

Sokrates: Guten Morgen, mein lieber Lehrer, wohin mit einem so verantwortungsvollem Gesichtsausdruck? Wieder zu Deinem Lieblingsunterricht Sozialkunde und die möglichst frühe Emanzipation der Schüler?

Der Sozialkundelehrer: Ja, lieber Sokrates, heute mit einem mir besonders wichtigen Thema.

Sokrates: Welchem besonders dir wichtigen Thema diesmal, wenn ich fragen darf?

Der Sozialkundelehrer: ich steigere meine Emanzipationsbemühungen kontinuierlich, auch wenn das den konservativen autokratischen Kollegen immer mehr missfällt. Die erziehen die Schüler nicht möglichst früh zur Emanzipation, die schieben Selbststeuerung und Emanzipation der Jugend hinaus, statt sie vorzuverlegen. Diesmal geht es mir um die Abschaffung von fast allen Anordnungen jeder Art in unserer Schule. Die Schüler sollen möglichst über alles selber entscheiden, was ihre Schule und ihr Schülerleben betrifft, sollen bezüglich des Unterrichtsstoffes alles selber auswählen dürfen, die Noten selber geben... So lernen sie, sich demokratisch selber zu verwalten und dadurch sich emanzipatorisch zu entwickeln. Als Vertrauenslehrer habe ich großen Einfluss und hoffe, das durchzusetzen. Du unterstützt mich doch in dieser meiner Zielsetzung?

Sokrates: Aber gewiss, mein lieber Sozialkundelehrer. Junge Menschen sollen sich selber Ziele setzen lernen und selber die richtigen Ziele auswählen lernen. Das ist eine wichtige pädagogische Zielsetzung.

Der Sozialkundelehrer: Und alle bisherigen Anordnungen und Vorgaben durch die Lehrer erzeugen nur passive, Menschen, die sich nach autoritärer Führung sehnen, um nicht ungewohnt selber entscheiden zu müssen. Darin stimmst du mit mir doch auch überein?

Sokrates: Dafür haben wir viele Beispiele in der Geschichte. Aber wählen denn Schüler auch anspruchsvolle Ziele aus oder nur ihnen bequeme Ziele? Denn Kritiker der zu frühen Emanzipation und Demokratie sagen ja, dass viele demokratische Entscheidungen nur bequeme, selbstsüchtige Kompromisse seien.

Der Sozialkundelehrer: Es stimmt, dass viele Jugendlichen bei ihren Zielsetzungen und Entscheidungen gern Unbequemes meiden. Aber wir sind ja auch einmal jung gewesen und haben uns vor Anstrengendem und Anspruchsvollem gedrückt. Man muss diese Tendenz bei den Entscheidungen vieler Jugendlicher in seine eignen Pläne einkalkulieren. Habe ich da nicht Recht?

Sokrates: Ich gebe dir Recht. Aber was machst du, wenn dir als anspruchsvollem Lehrer die Entscheidung einer Klasse/Lerngruppe nicht anspruchsvoll genug ist?

Der Sozialkundelehrer: Dann versuche ich, die Notwendigkeit für ein Überdenken der bisherigen Entscheidungen und Beschlüsse einsichtig zu machen.

Sokrates: Und wenn das nicht gelingt, wie reagierst du darauf? Ich erinnere mich an meine eigene Jugend. Damals habe ich oft uneinsichtig nur meinen eigenen bequemen Nutzen verfolgt.

Der Sozialkundelehrer: Dann muss man als pädagogisch geschickter Lehrer eben den Schülern die notwendige richtige andere Entscheidung so anziehend machen, dass sie dann doch noch von den Schülern gewählt wird.

Sokrates: Mit welchen Mitteln willst du dieses "pädagogisch-geschickt-Sein" erreichen?

Der Sozialkundelehrer: Nun, man versteht ja schließlich etwas von Massenpsychologie, Werbepsychologie, Rhetorik! Man hat so seine Tricks im Umgang mit Jugendlichen. Die merken gar nicht, wie leicht man sie beeinflussen kann. Die treffen eine Entscheidung, ohne zu merken, dass man sie geschickt dazu gebracht hat und sind dann noch ganz stolz auf ihre angeblich eigene, kluge und freie Entscheidung.

Sokrates: Das heißt, du benutzt geschickt erprobte Mittel der Massenlenkung und der Meinungsbildung, so wie es die politischen Meinungsführer schon zu allen Zeiten gemacht haben.

Der Sozialkundelehrer: Man kann, das gebe ich zu, manches von diesen Demagogen lernen. Aber es dient ja einem hohen Ziel: der Heranbildung der Jugend zu einem später emanzipierten, demokratischen, selbstverantwortlichen Menschen, er sich später nichts mehr vor-geben und vor-entscheiden lässt.

Sokrates: Wer, meinst du, ist eigentlich schädlicher für ein solches Erziehungsziel: ein autokratischer Lehrer mit offenen Vorgaben und Anordnungen an die Schüler, die das offen merken, oder ein geschickter Lehrer mit vielerlei demagogischen Tricks, um die Schülerentscheidungen dahin zu lenken, wo er sie gerne haben möchte, dessen Einfluss man aber nicht merkt.

Der Sozialkundelehrer: Deine Frage ist mir jetzt zu spitzfindig. Mein Schulleiter als Vorgesetzter merkt außerdem gar nicht, auf welchem Wege manche Schülerentscheidung zustande gekommen ist. Es sieht jedenfalls demokratisch aus, und das zählt!

Sokrates: Bist du wirklich ein überzeugter Demokrat oder ein versteckter kleiner Schul-Demagoge, der es genießt, Jugendliche unauffällig zu lenken? Wollen wir doch nicht lieber über diese Frage etwas genauer nachdenken, mein verehrter Sozialkundelehrer?

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helmut Wurm).
Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Helmut Wurm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Leben & Tod: Eine transzendente Spionage-Story von Bernhard Pappe



Erzählt wird im Kern die Geschichte von Menschen, die sich durch widrige Umstände zufällig begegnen. Lebenswege kreuzen sich und führen hinein in eine Spionageaffäre, deren Dynamik sich am Ende alle nicht entziehen können. Jeder spürt die Dynamik des Lebens und begegnet doch sich selbst und dem Phänomen Tod auf ureigene Weise.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helmut Wurm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sokrates und der unkonsequente Kaufmann von Helmut Wurm (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
unbekannter Kamerad... von Rüdiger Nazar (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Frankreich sollte ein neuer Anfang sein...Teil.3. von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen