Stefanie Rupp

Ich verstand

 

Ich sah auf die Schalttafel. Mein Zug hatte Verspätung. Er sollte nach dieser Anzeige erst um 21 Uhr hier ankommen. Okay, also noch eine Stunde warten. Ich entschloss mich, in das kleine Café des Bahnhofes zu gehen um mir dort die Zeit zu vertreiben. Doch dann sah ich auf einer Bank hier im Wartesaal einen alten Mann. Ich setzte mich zu ihm und fragte, wohin denn die Reise gehen soll. Er meinte nur, er hätte das selbe Ziel, das auch ich hätte.

Ich muss gestehen, dass mich diese Antwort nicht sonderlich überraschte, da er sich ja auf dem gleichen Bahnsteig wie ich aufhielt. „Dann müssen sie also genauso lange warten wie ich, wollen sie mich nicht begleiten? Ich wollte gerade in dieses kleine Café dort drüben gehen?“

Der alte Mann sah mich aus seinen traurigen blauen Augen an und lächelte. „Oh ja, das würde ich sehr gerne.“

 

Wir gingen also in das Café und unterhielten uns. Besser gesagt, er brachte mich irgendwie dazu, dass ich ihm erzählte, was mich hierher führte. Ich war aus beruflichen Gründen hierher gekommen. Hatte aber leider den ersehnten Beruf nicht bekommen. Jemand anderes war leider besser gewesen, oder vielleicht einfach schneller wie ich gewesen, das hatten sie mir nicht gesagt. Jetzt freute ich mich auf zu hause. Musste zwar noch sechs Stunden mit dem Zug fahren, aber diese Reise würde sich lohnen. Zu Hause wartete mein Freund auf mich. Ich freute mich darauf, endlich wieder zu hause zu sein. Ich sehnte mich auch schon, wieder in seinen Armen zu liegen, mit ihm zu kuscheln und glücklich in seinen Armen einzuschlafen. Ich versuchte auch, etwas über ihn herauszufinden, allerdings gelang es mir nicht. Er meinte nur immer, ich würde zu seiner Zeit erfahren. Ich würde es zu seiner Zeit erfahren, wieso er nichts verraten könne. Okay, dachte ich, er hat bestimmt so einiges durchgemacht und möchte nicht darüber sprechen.

Nach einer halben Stunde fragte er mich, ob ich bereit wäre mein Schicksal herauszufordern. Ich wusste nicht was er damit meinte. „Wie soll ich denn mein Schicksal herausfordern?“ Mir war das Thema etwas unangenehm. Er zog drei Würfel aus seiner Tasche. Es waren ungewöhnliche Würfel. Na ja, zwei waren ganz normal, mit den Ziffern von eins bis sechs. Ein Würfel allerdings hatte die Zahlen von eins bis sieben, sah also dementsprechend anders aus. Sie sahen schon sehr alt aus. Waren aus Holz geschnitzt. Er erklärte mir, dass es nach einem Glauben seiner Vorfahren Würfel währen, um sein Schicksal zu testen. Wenn man das Spiel gewinnen würde, wäre einem das Schicksal sehr gut gewogen, wenn man es aber verliert, dann wäre einem das Schicksal schlecht gewogen.

 

Klingt interessant. Also begannen wir zu spielen. Ich verlor das erste Spiel. Ich hatte drei mal sechs. Er hatte neunzehn. Im Moment schien mir das Schicksal nicht gut gewogen. Ich konnte das aber nicht so einfach auf mir ruhen lassen. Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Also begannen wir nochmal ein Spiel. Mit dem selben Ergebnis. Ich fand das höchst ungewöhnlich. „Es besteht kein Zweifel,“ sagte er. „Aber dein Schicksal meint es laut den Würfeln gar nicht gut mit dir. Und die Situation, der Scheideweg, liegt in sehr naher Zukunft. Aber du kannst es vielleicht noch ändern. Du musst weiterspielen. Bis es sich ändert.“ Er sprach so eindringlich auf mich ein, dass es mir eiskalt den Rücken runter lief. Ich spielte weiter. Na ja, gewissermaßen war es kein Spiel mehr. Ich versuchte, so verrückt es klingt, mein Schicksal zu ändern. Irgendwie glaubte ich ihm. Normalerweise war ich nicht gerade einer von den Menschen, die einem wildfremden sofort glauben, dass sie ein schlechtes Schicksal hätten. Aber irgendetwas in mir sagte mir, dass er die Wahrheit sagt. Ich konnte es mir nicht erklären. Das nächste Spiel stand an, und erstaunlicherweise wieder mit dem selben Ergebnis wie die vorhergehenden Spiele. Je öfter wie spielten, desto seltsamer war es. Ich verlor. Immer und immer wieder. Und immer mit den selben Punktzahlen. Ich war total vertieft, konnte nicht aufhören. War es wirklich nur ein Zufall, dass die Würfel so fielen? Aber wie war es möglich, dass die Würfel immer auf die selbe Weise fielen? Ich testete die Würfel einzeln, und es fielen immer andere Ziffern, also war es nicht so, dass ein Gewicht im inneren der Würfel war, der sie auf diese Ziffern brachte. Andererseits müssten wir ja dann beide immer die selben Punkte haben. Aber sobald wir wieder ein Spiel starteten, fielen wieder die gleichen Augen. Seltsam war das. Ich konnte es mir nicht erklären.

Dann, nach langer Zeit, wendete sich das Blatt. Ich gewann. Ich hatte neunzehn Augen. Und der alte Mann hatte nur noch 18. Ich sah auf. Sah, dass es zu spät war. Ich lief dem Zug hinterher. Doch es war zu spät. Der Zug war weg. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wie konnte ich durch so ein simples Spiel die Zeit nur vergessen. Ich war so in das Spiel vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie die Durchsagen kamen. Und ich wusste, es mussten mindestens drei Durchsagen gewesen sein. Ich drehte mich um, der alte Mann saß noch immer an dem Tisch und schien auf mich zu warten. Ich sah ihn an. Und er lächelte. Ich ging zu ihm hin und betrachtete ihn. Er sah alt aus. Ich schätzte ihn auf ca. 90 Jahre. Er trug alte Kleidung, die schon an manchen Stellen geflickt wurde. Sein Gesicht war freundlich. Er hatte einige Furchen auf seiner rechten Wange, von denen ich nicht wusste, ob sie von einem weit zurückliegenden Unfall herrührten, oder ob sie einfach vom Alter waren. Ob ich nun vielleicht doch etwas mehr von diesem Mann erfahren würde?

 

Ich setzte mich wieder zu ihm hin. Er lächelte mich an. „Siehst du? Du hast dein Schicksal in die Hand genommen. Und du hast gewonnen. Du hast dein Schicksal ins Gute verändert. Ich habe versucht, schon so vielen zu helfen, aber es gelang niemandem. Aber dir. Du hast jetzt noch vieles in deinem Leben vor dir.“ Er stand auf, steckte seine Würfel wieder ein, und ging davon. Ich war so verblüfft, dass ich gar nichts mehr erwiderte. Er verschwand einfach. Ohne ein weiteres Wort.

 

Ich suchte mir ein Hotelzimmer. Heute würde kein Zug mehr in meine Stadt fahren. Ich lag im Bett und ließ dieses Treffen noch einmal Revue passieren. Ich konnte mir das ganze immer noch nicht erklären. Als ich so über die ganze Sache nach brütete, schlief ich ein. Ich geriet in einen unruhigen Schlaf. Ich träumte. Befand mich wieder auf dem Bahnsteig, sah auch wieder den alten Mann. Er saß wieder auf seiner Bank und lächelte mich an. Doch dieses Mal sprach ich ihn nicht an. Ich saß eine Stunde in diesem kleinen Café und ging dann pünktlich zurück zu dem Bahnsteig.

 

Der alte Mann saß wieder da. Er lächelte mich wieder an und sagte. Nun wirst du dein früheres Schicksal sehen. Er nahm mich an meiner Hand und gemeinsam betraten wir den Zug. Wir setzten uns auf einen Platz. Ich wollte wissen, was er damit meinte. Nun sah er mich an, sein Blick war traurig. „Das kann ich ihnen nicht sagen. Schauen sie einfach hin.“ Ich sah nach draußen. Einige Zeit geschah gar nichts. Doch dann kam einer der beiden Zugführer nach hinten gelaufen. Er sah verstört aus. Voller Panik. „Setzen sie sich alle hin, halten sie sich gut fest und versuchen sie, nicht in Panik zu geraten. Wir werden mit einem anderen Zug zusammenstoßen, wir können nichts mehr daran ändern. Also, festhalten... Und an ein Glück glauben.“ Damit kehrte er in das Führerhaus zurück. Einige standen auf und liefen den Zug weiter nach hinten. „Wieso stehen die auf. Wir sollen doch sitzen bleiben.“ Ich sah neben mich, da ich keine Antwort erhielt. Der alte Mann war fort. Aber er saß doch auf der Innenseite. Er konnte nicht einfach verschwinden. Egal, ich musste versuchen, die anderen wieder dazu zu bekommen, sich hinzusetzen. Und ich stand auf. In diesem Moment stieß der Zug mit dem anderen zusammen. Ich schreckte in diesem Moment aus dem Schlaf, aus diesem Unruhigen und doch so realistischen Traum auf. Ich hatte vergessen, den Fernseher auszuschalten. Es liefen gerade die Nachrichten. Ich sah eine Katastrophenmeldung. Der Zug, in dem ich eigentlich hätte sitzen sollen, war verunglückt. Es waren ca. 50 Menschen an Bord. Alle waren sie gestorben. Keiner hatte diese Katastrophe überlebt. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.

 

Ich blickte in meine Hand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich etwas in der Hand hielt. Ich öffnete meine Hand. Darin lagen die drei Würfel des alten Mannes. Ich starrte sie an. Und ich begriff. Ich begriff, wieso die Würfel fielen. Es war noch nicht an der Zeit zu sterben. Meine Uhr war wohl noch nicht abgelaufen. Ich sollte nun das beste aus meinem neu gewonnenen Leben machen.

Grundlage zu dieser Geschichte ist das Lied "Das Würfelspiel" von Juliane Werding.
Mich hat das Thema dieses Liedes einfach so fasziniert, dass ich den Text als Grundlage für diese kleine Geschichte nahm.
Stefanie Rupp, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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