Markus Müller

Im Kreis

Vor wenigen Minuten hatte er das Haus verlassen, in dem er sein ganzes Leben lang gewohnt hatte. Er hatte keine große Abschiedsszene gewollt, doch dann war ihm seine Schwester weinend um den Hals gefallen. Jetzt brach der Abend heran, die Sonne würde bald hinter den Bergen versinken. Er versuchte, sich diese Landschaft, die er zum letzten Mal sah, genau einzuprägen, obwohl er wusste, dass er sie ohnehin nie vergessen würde. Mit seinem Koffer in der Hand ging er zum Bahnhof und stieg in den Nachtzug.

Als er wieder ausstieg, war es Morgen. Es war kühl, und durch den dichten Nebel konnte er nur die Umrisse der hohen Schornsteine sehen, die zu den riesigen Fabriken der Stadt gehörten. Er machte sich auf den Weg zum Hafen, wo sein Schiff am Mittag ablegen sollte.

Im Hafengebäude herrschte bereits reges Treiben. Er stellte sich in eine Ecke und beobachtete den Trubel. Für eine Weile kam es ihm vor, als sei alles unwirklich und sehr weit weg, als stünde er auf einer Insel und die Menschen um ihn herum wären nichts als ferne Schiffe weit draußen auf dem Ozean. Dann sah er auf die Uhr unter dem Dach und machte sich auf den Weg zu einem der Schalter.

Mit der Passagierkarte in der Hand ging er nach draußen. Ein kräftiger Wind wehte ihm vom Meer entgegen. Er schaute sich noch einmal um. Dann bestieg er das große Schiff.

 


*   *  *   *

 

Nie hätte er gedacht, dass er noch einmal zurückkehren würde. Den Großteil seines Lebens hatte er in einem fernen Land verbracht, und er war nie unzufrieden gewesen. Trotzdem hatte er oft an seine Heimat denken müssen, und jetzt, da er fühlte, dass sein Leben sich dem Ende näherte, war der Wunsch, zum Ort seiner Kindheit heimzukehren, der einzige Wunsch, den er noch hatte. Nach dem Tod seiner Frau hielt ihn nichts mehr. Er packte die wenigen Sachen, die er brauchte, in einen Koffer und trat die weite Reise an. Heute war man mit dem Flugzeug in ein paar Stunden dort, wo man früher mit dem Schiff Tage gebraucht hatte.

Als er dann im Zug saß, dachte er an seine Schwester. Sie war nie aus ihrem Heimatdorf weggegangen. Seit seinem Abschied hatte er sie nicht mehr gesehen, nur auf den Fotos, die sie ihm geschickt hatte, auf denen auch ihre Kinder und Enkelkinder zu sehen waren. Er holte eines der Bilder hervor, auf dem zwei kleine Mädchen voller Übermut mit einem Hund spielten. Er dachte an seine eigene Kindheit und daran, dass er nie wieder so glücklich war wie damals in den Bergen.

Aus dem Zugfenster konnte er jetzt den Turm der Dorfkirche sehen. Er wusste nicht, ob er sich freute oder ob er Angst hatte.

Er stieg am Bahnhof aus und ging durchs Dorf zum Haus seiner Schwester, seinem Elternhaus. Im Ort hatte sich nicht viel verändert, aber natürlich erkannte er niemanden und niemand erkannte ihn.

Als er am Gartentor ankam, hielt er einen Moment inne und schaute auf das alte Haus. Er hatte es größer in Erinnerung, wie man wohl alle Dinge aus der Kindheit größer in Erinnerung hat. Im Garten saß ein kleines Mädchen auf einer Schaukel. Es schaute ihm neugierig entgegen, als er zur Hintertür ging und die Küche betrat.

Seine Schwester stand am Herd. Sie hörte ihn und drehte sich um. Für eine Minute schauten sie sich an und wussten nicht, was sie tun sollten. Dann lächelten sie und umarmten sich umständlich.

Er setzte sich an den Tisch und seine Schwester machte ihm etwas zu essen. „Wie alt sie geworden ist“, dachte er. Aber das war er selbst ja auch. Er schaute zum Fenster hinaus. Dunkle Wolken waren aufgezogen und es begann zu regnen. Die nahen Berge konnte er nur erahnen. In seinen Erinnerungen an die Kindheit regnete es nie, es schien immer die Sonne.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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