Helmut Wurm

Sokrates und der geschickt-bequeme Lehrer

(Dieses Gespräch fand zwar schon vor einigen Jahren statt, aber Sokrates hat erstaunlicherweise öfter ähnliche Gespräche oder macht ähnliche Erfahrungen, wobei es sich dann jeweils nur um nicht verallgemeinerbare Einzelfälle handeln dürfte)

Sokrates sitzt an einem schönen Sommertag gegen 14 Uhr in einem Park, der in der Nähe eines Schulzentrums liegt. Es ist unwichtig, ob es sich dabei u. a. um ein Gymnasium oder eine Gesamtschule handelt, aber eine weiterführende Schule ist jedenfalls vorhanden. Um diese Zeit kommen viele Schüler und auch einige Lehrer durch diesen Park, denn die meisten Schüler und Lehrer gehen mittags nach Hause. Da kann Sokrates leicht Gespräche beginnen. An Sokrates geht heute ein Mann mittleren Alters vorbei, fröhlich und gesund aussehend, in einem sportlichen Anzug und Turnschuhen. Er trägt einen Schläger unter dem Arm. Sokrates spricht ihn wegen seines vergnügt-gesunden Aussehens an.

Sokrates: Hallo, lieber sportlicher Mann. Du machst ein so fröhliches Gesicht. Die meisten, die hier um diese Zeit vorbei kommen sind Schüler und auch einige Lehrer, die etwas angestrengt vom vormittäglichen Unterricht wirken.

Der fröhliche Mann: Ja, ich bin fröhlich, denn ich gehe das Leben positiv und geschickt an und fühle mich gesund. Ich vermeide alles, was mich unnötig anstrengt... Derzeit möchte ich zum Sportgelände und Federball spielen. Ich gehe mittags oft zum Sportgelände, laufe dort, spiele Tennis oder wie jetzt Federball. Dann gehe ich anschließend oft noch einkaufen. 3-mal im Jahr fahre ich in Urlaub...

Sokrates: Du bist offensichtlich ein Glückspilz. Vermutlich hast Du eine reiche Erbschaft gemacht und brauchst nicht mehr zu arbeiten. Das wünschen sich viele Leute. Die meisten Menschen arbeiten hart und für relativ wenig Geld.

Der fröhliche Mann: Ich habe keine reiche Erbschaft gemacht. Ich habe mir einen Beruf ausgesucht, bei dem ich viel Freizeit habe, meistens arbeite ich nur halbtags, in dem ich fast 3 Monate Ferien haben und in dem ich trotzdem relativ viel Geld verdiene. Da soll man nicht fröhlich sein dürfen...?

Sokrates: Kannst Du mir verraten, was das für ein Traumberuf ist? Vielleicht kann ich ihn auch anderen empfehlen.

Der fröhliche Mann: Ja natürlich. Ich bin Lehrer an dem Schulzentrum hinter mir. Ich bin gerne Lehrer..., Lehrer war mein Wunschberuf...

Sokrates: Das ist schön, dass du gerne Lehrer bist. Für diesen Beruf benötigt man Passion... Aber es wundert mich, dass du so viel freie Zeit hast... Man hört doch sonst so viele Klagen über die unmotivierten Schüler, über die vielen Korrekturen, über schwierige Zustände an Schulen, über erschöpfte Lehrer...?

Der bequeme Lehrer: Ja, Lehrer war mein Wunschberuf. Da hat man es gut, wenn man es geschickt anfängt...

Ich gehörte schon in der Schule nicht zu den Fleißigen, ich habe mich auch dort nicht überarbeitet... Und mit meinem Abiturzeugnis konnte ich keines der Numerus-clausus-Fächer studieren. Also habe ich mir überlegt, welchen Beruf ich ergreifen könnte, der mir viel freie Zeit lässt, in dem ich unkündbar bin, in dem ich gut verdiene und in dem ich vielleicht auch menschliches Wohlwollen erfahre. Da blieb für mich nur der Lehrerberuf übrig.

Sokrates: Also bist du nicht aus Verantwortung für die Erziehung der Jugend und aus Freude, mit Jugendlichen zu lernen, Lehrer geworden, sondern aus praktischen egoistischen Überlegungen?

Der bequeme Lehrer: So kann man es sagen... aber das brauchst Du ja nicht weiter zu erzählen... Dann habe ich mir überlegt, dass an weiterführenden Schulen das Unterrichten nicht so schwierig ist wie an den so genannten Hauptschulen...

Und meine Unterrichts-Fächer habe ich auch nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählt: Das Studium sollte nicht zu schwer sein und ich wollte als Lehrer nicht zu viele Korrekturen haben, denn viele Korrekturen fressen nämlich viel Freizeit... So habe ich Erdkunde, Sozialkunde und Physik gewählt... Einige Kenntnisse daraus braucht man später immer und die meisten Schüler passen deswegen irgendwie auf, wenn man nicht zu viel von ihnen verlangt, sondern ein bisschen schön mit ihnen über dies und jenes redet....

Sokrates: Das sind aber wichtige Fächer für die Allgemeinbildung und für das spätere Leben. Wenn man sie ernst nimmt, benötigen sie viel Vorbereitung und Weiterbildung. Aber bei dir scheint das anders zu sein. Also auch die Schulart und deine Schulfächer hast du nach reinen Nützlichkeitserwägungen ausgewählt, ohne einen persönlichen Bezug dazu? Und besonders engagiert scheinst du stofflich auch nicht zu sein.

Der bequeme Lehrer: Ich hätte auch Musik oder Sport oder Religion wählen können. Aber ich bin unmusikalisch, so wie es auch viele Schüler sind, und deswegen ist der Unterricht in diesem Fach auch nicht so leicht... Die Unmusikalischen stören häufig, was bleibt ihnen anders übrig... Das habe ich als Schüler auch getan...

Sport ist mir zu gefährlich. Wenn da etwas passiert, ist der Lehrer leicht der Dumme: Rentenzahlungen an den beim Geräteturnen verunglückten Schüler und so...

Und Religion ist nun überhaupt nicht mein Ding... Da müsste ich nur heucheln... Obwohl es Kollegen geben soll, die auch aus Verlegenheit das Fach gewählt zu haben scheinen und vielleicht  etwas heucheln... Aber das geht mich nichts an...

Sokrates: Und ich dachte zu Anfang des Gespräches, ich hätte einen echten, passionierten Pädagogen vor mir, der wegen der Freude an seinem Beruf so glücklich und zufrieden ist... So wie ich es war und noch bin.

Der bequeme Lehrer: Wie du es warst und noch bist? Lehrer aus Passion...? Was soll denn das heißen? Du kommst mir überhaupt etwas wunderlich vor mit deinen Fragen und deiner altertümlichen Kleidung. Bist du etwa ein harmloser Insasse der hiesigen Klapsmühle mit einem Lehrer-Komplex?

Sokrates: Schon gut... Und wie bewältigst du nun den Alltag in deinem aus bequemen Vernunftsgründen gewählten Beruf?

Der bequeme Lehrer: Gut bewältige ich meinen Alltag. Ich mache es mir so leicht wie möglich, ohne dass es auffällt.

Ich verlange weniger als andere Kollegen, ich schreibe nur kurze, einfache Arbeiten, meistens Multiple-Choice-Fragen zum Ankreuzen... solche Arbeiten sind schnell korrigiert... Wenn ich da an die Deutschlehrer denke, aber auch an die Mathelehrer und Sprachenlehrer, wie die wochenlang an ihren Arbeiten sitzen... Aber selbst daran schuld, sage ich ...

Dann gebe ich meistens nur gute Noten. Die Note „ausreichend“ gebe ich schon bei einem Drittel richtiger Antworten. Viele Kollegen benoten strenger. Dadurch habe ich die Sympathie der Schüler und der Eltern auf meiner Seite... Ich erwecke den Eindruck, als wenn ich ein besserer Pädagoge wäre und dass die Schüler deswegen bei mir alles leichter verstehen... Manchmal schreibe ich meine Arbeiten zur Probe so ähnlich schon einmal vor. Da wissen die Schüler dann, was in der eigentlichen Arbeit gefragt wird. Und gegenüber Migranten-Schülern bin ich besonders wohlwollend eingestellt... Die lobe ich ständig, da verlange ich noch weniger und benote sie besonders gut. Bei denen muss man möglichst viel übersehen... Diese Schülergruppe habe ich leicht gewonnen...

Das sind notwendige Tricks, wenn man in der Schule gut über die Runden kommen will...

Sokrates (mit einem süß-sauren Gesicht): Wendest du noch andere Tricks an?

Der bequeme Lehrer: Na klar... Ich nenne mal nur einige:

Meine Kollegen gewinne ich dadurch, dass ich manchmal als Begleitperson mit auf Klassenfahrten fahre. Als Begleitperson habe ich nicht den Ärger mit der Vor- und Nachbereitung von Fahrten und trage nicht die Hauptverantwortung. Das kann richtiger Urlaub werden, wenn man nicht so kleinlich mit der Aufsicht ist, nachts gut schläft und den Radau der Schüler nicht hört...

Dann bin ich für häufige Fortbildungen, denn die finden hauptsächlich in der Unterrichtszeit statt. Und auf solchen Fortbildungen beteilige ich mich immer eifrig an den Gesprächen, denn ich möchte als interessiert gelten, auch wenn ich innerlich oft über den Quatsch lächele, den uns pädagogische Besserwisser und Schulreformer beibringen wollen... „Leben und leben lassen“, das ist das richtige Erfolgsrezept für eine Schule ohne Schwierigkeiten...

Und besonders schätze ich Projekttage. Da lasse ich die Schüler arbeiten und gehe nur interessiert herum. Egal was dann bei dieser Schülerarbeit heraus kommt, ich finde immer einen Ansatz, wie man das Ergebnis positiv beurteilen kann. Bezüglich Projekttage stelle ich mich als ein ganz moderner Pädagoge dar... Ansonsten bin ich bezüglich methodischer Reformen zurückhaltend, denn die machen die ersten Jahre erst einmal viel Arbeit und die möchte ich mir ersparen...

Wo ich kann, besorge ich mir von den Kollegen gut gelungene Projekte und Unterrichtsstunden. Weshalb soll ich mir selber Mühe machen, wenn ich die Mühe der anderen ausnutzen kann? Und wenn mir ein gutes Lehrerhandbuch bekannt wird, in dem gute Unterrichtsvorbereitungen, viele Arbeitsfragen und Arbeitsmaterialien gesammelt sind, dann kaufe ich mir das sofort... Meine eigene Arbeit minimieren, das ist meine Devise...

Und etwa alle 6 Wochen leide ich an einer geheimnisvollen Krankheit, wegen der ich dann jedes Mal 2-3 Tage fehlen muss... Symptome unspezifisch, aber sehr belastend... Dann sitze ich zu Hause und lese. Das tut richtig gut... Ich kenne da einen Arzt, einen Sportkollegen, der schreibt mich dann jedes Mal krank...

Sokrates: Was sagt denn dein Schulleiter zu deiner “geschickten“ Methode?

Der bqueme Lehrer: Nichts, der hat das noch nicht gemerkt und ist deswegen freundlich zu mir. Denn auch bi ihm verhalte ich mich geschickt. Ich gebe ihm immer Recht, ich melde mich für wenig anstrengende Vertretungsstunden und Sonder-Aufgaben freiwillig, ich vermeide jeden Streit mit ihm und mit Kollegen...

Sokrates (hoffnungsvoll): Du bist dann wohl eine geschickt agierende seltene Ausnahme unter deinen Kollegen?

Der Lehrer: Ich Ausnahme? In dieser Intensität vielleicht, aber einige wnige meiner Kollegen machen das eine oder andere ähnlich wie ich und haben manche ähnliche Einstellung. Einige  wenige Lehrerinnen z. B. sind bekanntermaßen doch nur deshalb Lehrerin geworden, weil sie dann den Nachmittag für die Familie frei haben, und sie wollen sich vormittags nicht unnötig belasten und nachmittags nicht unnötig die Freizeit einschränken... Natürlich gibt es auch sehr viele pädagogische Vollblutpferde, die rackern sich für die Schüler ab... Aber das ist nicht meine berufliche Philosophie.

Ich werde auch nicht zu denjenigen gehören, die früher, vor dem offiziellen Pensionsalter, den Lehrerberuf abbrechen müssen, weil sie „ausgebrannt“ sind, Herzprobleme, Depressionen usw. haben. Ich gehe schon früher gesund in die Pension. Es gibt ja die so genannten Altersteilzeit-Modelle, bei denen man früher in den Vorruhestand gehen kann. Das Geld reicht dann noch immer für ein relativ schönes Leben...

Schade nur, dass man als verbeamteter Lehrer nicht oder nur schlecht streiken kann. Mit der Verweigerung der Schülerbildung könnte man den Staat und die Gesellschaft ganz schön unter Druck setzen...

Sokrates (entsetzt): Weswegen willst du denn streiken und den Staat unter Druck setzen...? Kindererziehung und Schülerbildung sind doch keine Teile einer Marktwirtschaft...

Der bequeme Lehrer: Streiken natürlich um mehr Gehalt und verbesserte Arbeitsbedingungen, d.h. weniger Unterrichtsstunden, zu erzwingen. Das wäre doch toll, da wäre ich gerne dabei...

Aber weshalb machst du eigentlich ein so nachdenklich-süß-saueres Gesicht? Gefällt dir nicht, was ich dir so ehrlich sage? Wer bist du eigentlich mit deinen Fragen. Gehörst du etwa zu denen, die Lehrersein, Unterricht, Schule und Pädagogik als etwas sehr Wertvolles und Wichtiges ansehen, für das man sich anstrengen soll?

Sokrates: Ach nichts..., ich dache nur darüber nach, wie beglückend der Lehrerberuf sein kann..., die junge Generation auf das Leben vorbereiten und zum kritischen Denken anregen... Das ist wirklich sehr wichtig und wertvoll..., dafür sollte man sich anstrengen... Ich überlege, dass es sehr enttäuschend wäre, wenn viele Lehrer aus ähnlichen Gründen wie du den Lehrberuf ergriffen hätten und deine Arbeitseinstellungen und –praktiken teilen würden. Ob das für die Jugend und die Schule das Optimale ist? Aber dass deine Einstellung so verbreitet ist, kann ich mir nicht denken...

Der bequeme Lehrer: Ich gehe jetzt besser zum Sport, sonst vermiest du mir noch den schönen Nachmittag... Du hast wohl zusätzlich noch so einen Art Sokrates-Tick... Pass auf, dass ich nicht in der Klapsmühle anrufe und dich abholen lasse..., denn ein so harmloser Spinner bist du nun doch wiederum nicht...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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