Alfred Hermanni

Bekifft in Deutschland - 99 Luftballons

 

von Alfred Hermanni

 

Es war eine warmer Sommertag und bis zur abendlichen Abfahrt der Fähre hatten wir noch ein bisschen Zeit. Meine Freundin Christa und ich hatten vor zwei Monaten unsere Abiturprüfung erfolgreich absolviert und wurden beide von unseren Eltern mit einem Interrail- Ticket belohnt. Inklusive Taschengeld.

Wir befanden uns auf dem Weg nach Schweden und hatten die Überquerung des Polarkreises zu unserem Ziel erklärt.

Hier in Travemünde, einem kleinen Hafenstädtchen an der Ostsee, warteten wir auf die Fähre nach Schweden.

Hey Martin, guck mal. Wie niedlich!”, rief mir Christa zu, als ich ein wenig abseits der kleinen Geschäfte in der Nähe des Anlegers auf einer Bank saß und auf die See blickte. Für mich war die Ostsee das schönere der beiden deutschen Meere. Keine weiten Fußmärsche durch Dünen und über Deiche

waren notwendig um zum Strand zu gelangen. Und wenn man das Geld für Strandkörbe sparen wollte, konnte man sich unter Bäumen und Büschen ein geschütztes und ruhiges Plätzchen suchen, vorausgesetzt man war bereit ein paar Schritte dafür in Kauf zu nehmen.

Was gibt’s denn?“, fragte ich zurück weil ich mich nicht von der Bank erheben wollte. Heute wollte ich mal ein bisschen die Faulheit genießen und mich möglichst wenig bewegen. In der letzten Nacht hatte Christa mir alles abverlangt und ich war mit Gummiknien eingeschlafen.

Morgenstund hat Gold im Mund, sagte Christa in Anspielung auf die Tatsache, dass Sperma winzige Spuren von Gold enthält, und es dauerte nicht lange bis ich nach dem Erwachen wieder Wackelpudding in den Knien hatte.

Komm’ mal gucken! Sei nicht so faul“, hörte ich sie rufen.

Auffallend langsam und behäbig stand ich auf und schlenderte zu ihr rüber.

Was ist denn los?“, wollte ich von ihr wissen.

Hier, guck mal. Die haben Luftballons mit dem Bild von Nena.“

Ganz toll, und...?“

Die könnten wir doch meiner kleinen Schwester mitbringen.“

Du meinst wir kaufen sie hier, fahren mit den Ballons bis zum Polarkreis und zurück und haben dadurch immer ein wenig Ballast dabei?“

Stell dich nicht so an. 99 Luftballons für 99 Pfennig. Da kann man ruhig zugreifen.“

Wenn du meinst, dann kaufe sie.“

Mach ich auch.“

Sprach’s und ging in den Laden. Ich setzte mich wieder auf die Bank, denn ich wusste, wenn Christa erst einmal im Laden war, dann könnte es ein bisschen dauern, ehe sie alles genauesten unter die Lupe genommen hatte.

Ich steckte mir eine Zigarette an und wartete.

Hinter mir hörte ich eine Gruppe junger Engländer, die eine angeregte Diskussion über Fußball führten.

Sie sprachen sehr schnell und mit viel Slang, sodass ich sie kaum verstand, obwohl ich recht gutes Schulenglisch beherrschte.

Nach einer Weile kam Christa zurück. Selbstverständlich hatte sie mehr als nur Luftballons gekauft.

Eine Packung Ballons habe ich für dich gekauft. Die kannst du dann deinem Brüderchen schenken.“

Mein Brüderchen ist fünfzehn Jahre alt und steht auf Heavy Metal, ich glaub mit Nena kann der nichts anfangen. Außerdem ist das schon Jahre her, wer hört denn heute noch Nena. Meinem kleinen Bruder musst du mindestens mit Gun’s and Roses kommen, sonst hört der erst gar nicht zu.“

Iss’ egal, steck ein“, sagte sie mir und gab mir eine kleines Päckchen mit Luftballons. Ich verstaute es leise seufzend in meiner Jackentasche, warf mir den Rucksack über die Schultern, nahm Christa bei der Hand und wir machten uns auf den Weg zur Fähre.

 

*

Die Fähre hatte gerade abgelegt als die Gruppe junger Engländer auf dem Oberdeck auftauchte und sich in Bugnähe niederließ.

Ich nickte ihnen freundlich zu, erntete aber nur Worte wie Fuck, shit, rubbish und piss off als Antwort.

Die Höflichkeit junger Engländer im Deutschland genoss ja auch einen legendären Ruf. Ich konnte es wirklich bestätigen.

Einer der Burschen beugte sich über die Reling und kotzte sich erst einmal die Seele aus dem Leib. Zur Belohnung erhielt er von seinem Kumpel eine Flasche Bier, die er ohne abzusetzen leer trank.

Die anderen kramten nun auch Bierflaschen aus ihren Taschen und taten es ihm gleich. Engländer mögen sportliche Wettkämpfe.

Ich stand an der Reling und genoss die ruhige Fahrt der Fähre, als einer der Briten sich neben mich gesellte und ein Gespräch begann.

Er entschuldigte sich sogar für seine Kumpane und bot mir ein Bier an, das ich auch dankend annahm.

Wir kamen ins Gespräch und nach kurzer Zeit hockten sich auch die anderen zu uns. Sie waren recht freundlich und gut gelaunt. Als Christa dann noch auf der Bildfläche erschien wurden die Jungs sogar noch freundlicher und die Laune wurde noch besser.

Kein Wunder, denn so hübsche Mädchen wie Christa findet man in England nur selten. Das wusste ich aus eigener Erfahrung, die ich durch Ferienaufenthalte in London und Umgebung sammeln konnte.

Langsam wurde es dunkel, wir befanden uns immer noch auf dem Oberdeck,

als einer der Burschen in seinem Tabakbeutel herum wühlte und anfing einen Joint zu drehen.

Ich hatte noch nie einen Joint geraucht und wollte auch heute Abend nicht damit beginnen.

Irgendwie hatten sie es aber doch geschafft mich zu überreden und ich zog an der Tüte.

Der Joint war noch gar nicht zu Ende geraucht als schon der nächste kreiste und ich wieder ein paar Züge davon nahm.

Wir lachten sehr viel und feierten ausgelassen, als Christa sich abmeldete, um schlafen zu gehen.

Ich blieb noch an Deck und versprach ihr nicht mehr lange zu bleiben.

Ein Versprechen, das ich nicht einhalten konnte.

 

*

 

Die Jungs reichten mir wieder einen Joint, den ich diesmal aber dankend ablehnte, worauf zwei der Briten seltsamerweise unwirsch reagierten und mir stattdessen einen Flachmann mit Whisky reichten. Den wollte ich allerdings erst recht nicht, denn besoffen wollte ich nicht neben Christa einschlafen.

Zu meinem Leidwesen begannen die Burschen wieder über Fußball zu reden, ein Thema über das ich mich mit jungen Engländern eigentlich gar nicht auslassen wollte. Ich hatte da so meine Erfahrungen...

Dummerweise ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, dass Irland letztes Jahr bei der Europameisterschaft in Deutschland, mit einem historischen Sieg über die Engländer, Fußballgeschichte schrieb.

Der erste große Fehler.

Die Folge war ein buntes Durcheinander wildester Flüche und Obszönitäten gegen die Iren. Fäkalsprache und hasserfüllte Blicke in meine Richtung sollten mir eigentlich Warnung genug sein, jedoch fehlte mir peinlicherweise der Sinn dafür und ich machte den zweiten großen Fehler.

Give Ireland back to the irish!“, rief ich inbrünstig, ohne zu wissen was ich tat.

Wie von Hornissen gestochen sprangen die Jungs auf und warfen sich auf mich, etwas streifte meine Lippen und sie platzten auf. Ich blutete heftig und die Lippen schwollen schnell an. Sie rüttelten und zerrten an mir, riefen mir unverständliche Parolen und bespuckten mich.

Einer brüllte ganz laut : „God save the Queen!”, und ich machte den letzten, entscheidenden Fehler.

God shave the Queen!“, kam es mir über die verquollenen Lippen als ein Faustschlag mir das Bewusstsein raubte.

 

*

 

Als ich erwachte war es kalt, dunkel und nass.

Und ich bekam keine Luft.

Ich war unter Wasser, ...und wo ist oben?

Die Luftblasen wiesen mir den Weg und ich begann mit den Beinen hektisch zu zappeln, die Luftnot wurde schlimmer und wie weit es noch zur Oberfläche war, konnte ich nicht erkennen.

Panik stieg in mir hoch.

Der immer beklemmender werdende Druck in meinem Brustkorb begann zu schmerzen.

Mir ging die Luft aus und je weniger Luft in der Lunge ist, um so schwerer das Auftauchen.

Ich zappelte und strampelte weiter mit den Beinen, ruderte hektisch mit den Armen...

...und atmete tief ein. Die Luft strömte kalt in meine Lungen und machte mich so glücklich. Für einen winzigen, kurzen Moment.

Dann war mir klar wo ich mich befand und die Panik setzte ihren Weg fort.

Hatte mich jetzt voll in ihrem Griff und ließ mich nicht los.

Suchend, weiter strampelnd blickte ich um mich und sah nur noch, wie die Positionsleuchten der Fähre in der Schwärze der Nacht verschwanden. Ich rief laut um Hilfe, wusste aber, dass mich niemand an Bord der Fähre hören konnte.

Trotzdem schrie ich weiter, brüllte mit allen Leibeskräften bis nur noch ein heiseres Röcheln über meine Lippen kam.

Dunkelheit war um mich herum. Und Wasser.

Kein Stern war zu sehen, kein Mond und keine Lichter.

Nur ich war da.

Allein und bekifft.

Irgendwo in der Ostsee.

 

*

 

Nur langsam beruhigte ich mich, die Angst aber blieb.

Warum haben die das gemacht? fragte ich mich.

Die dachten ich sei tot. Die sind in Panik geraten, weil sie glaubten sie hätten mich umgebracht. Das war meine Erklärung für die beschissene Situation in der ich mich befand.

Eine beschissene und ausweglose Situation. Keiner kann mich in dieser Dunkelheit sehen, niemand außer diesen miesen Kerlen weiß, dass ich über Bord ging.

Und wie lange es bis zum Morgengrauen noch dauerte konnte ich nur ungefähr abschätzen. Fünf oder sechs Stunden vermutete ich.

Solange kann ich nicht schwimmen, wie soll ich das durchhalten?

Das Wasser war zwar nicht eisig kalt, aber über Stunden hinweg würde es mich erheblich auskühlen. Ob ich dann noch genug Kraft hätte, um mich über Wasser zu halten war die entscheidende Frage.

Ich merkte jetzt schon, dass es mir Mühe machte nicht zu versinken.

Die Panik kam wieder und fraß sich in mir fest.

Durchhalten, weiter paddeln. Denk nach! meldete sich meine innere Stimme.

Ich atmete tief ein und ließ mich auf dem Rücken liegend treiben.

Das sparte Kraft.

Nicht aufgeben. Lass dir was einfallen, drängte es in mir und ich atmete tief und regelmäßig, um den Auftrieb zu erhalten.

Ewig kann das nicht so weitergehen, dachte ich.

Ein leichter Wind kam auf und durch die entstandenen Wolkenlücken blinkten vereinzelt Sterne.

Dann war er da.

Der Gedankenblitz.

Der Einfall, der mein Leben retten konnte.

 

*

 

Ich griff in meine Jackentasche und fühlte mit Erleichterung das kleine Päckchen.

99 Luftballons.

Ich umschloss es fest mit meiner Hand und holte es aus der Tasche hervor.

Heftig mit den Beinen strampelnd und mit zitterigen Fingern öffnete ich die kleine Schachtel und zerrte vorsichtig einen Ballon hinaus.

Ich blies den Luftballon leicht auf, bis er die Größe einer Grapefruit hatte und steckte ihn unter meine Jacke.

Den zweiten Ballon platzierte ich ebenfalls unter der Jacke. Jetzt hatte ich deutlich mehr Auftrieb.

Zwei Ballons später konnte ich aufhören zu strampeln.

Zur Vorsicht quetschte ich noch zwei weitere Ballons unter meine jetzt prall gefüllte Jacke. Wie ein Schwimmring umgaben mich die Luftballons und hielten mich über Wasser.

Die Wolkendecke war nun vollends verschwunden und gab den Blick auf einen atemberaubend schönen Sternenhimmel frei.

Wie schön das doch aussieht. Einen so herrlichen Sternenhimmel habe ich noch nie gesehen.

Die Absurdität dieses Gedankens fuhr mir schneidend durch meinen Kopf.

Allein und schiffbrüchig auf hoher See und ich bewunderte den zweifellos prächtigen Anblick der Sterne.

Sternschnuppen zogen am Himmel entlang; Positionslichter von Flugzeugen und schnurgerade das Firmament kreuzende Satelliten gaben dieser herrlichen Aussicht sogar noch etwas Abwechslung.

Langsam und allein trieb ich in der See.

Müdigkeit schlich in mir hoch. An einschlafen war allerdings nicht zu denken, hatte die Furcht mich doch noch immer in ihrem eisernen Griff.

Um nicht völlig auszukühlen trat ich mit den Beinen Wasser und machte hin und wieder ein paar Schwimmzüge.

Trotzdem nagte die Kälte an mir.

 

Mir war kalt. Jede Bewegung schmerzte und mit bibbernden Lippen sehnte ich den Morgen herbei.

Wie lange noch bis dahin? Ich vermochte es nicht zu sagen.

Noch einmal begann ich um Hilfe zu rufen, schrie so laut ich noch konnte, bis nur noch ein Krächzen über meine Lippen kam.

Wer sollte mich auch hören, hier auf offener See.

Niemand.

Nur leise plätschernde Wellen gaben mir Antwort.

 

*

 

Stunden später begrüßte ein erster Silberstreif am Horizont den Morgen.

Langsam nur wich die Schwärze der Nacht dem sich herantastenden Grau des neuen Tages.

Unendlich lang dauerte es, bis die Sonne ihre frühen Strahlen über den Horizont schickte.

Dann wärmten die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht.

Ich wendete meinen Blick dem feuerroten, gemächlich aufsteigenden Glutball zu und hörte wie das wärmende Licht über meine kalte Haut strich.

Ich hörte?

Ich hörte tatsächlich!

Ein Schiffsirene schickte ihren langen, tiefen und irgendwie klagenden Ton

hinaus. Und versprach Rettung.

Ich sah einen Matrosen der mir einen Rettungsring zuwarf und etwas brüllte, dass ich nicht verstand.

Ein zweiter Matrose erschien mit einem Megaphon und ich hörte wie er mit starkem, polnischen Akzent rief: „Hallo, sind sie schiffbrüchig?“

„Ja! Warum?“, rief ich zurück..

 

Es war ein polnisches Frachtschiff, dass zur rechten Zeit am rechten Ort erschien und mich aus meiner katastrophalen Lage befreite.

Nena sei Dank.

 

Ende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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