Nicole Fröhlich

Bleib bei mir

Bleib bei mir

 

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Ein kühler, schauriger Windhauch rüttelte ihn wieder aus seinen Gedanken. Verwirrt drehte er sich um und trottete schwerfällig in Richtung Rolltreppe. Als der Mann hinauffuhr, blieb sein Blick an einen Plakat an der linken Betonwand hängen. Es war eine Werbung für das Musical “Mama mia“, das in Stuttgart aufgeführt wurde. Wehmütig dachte er an die Karten für dieses Stück, die in seiner Wohnung lagen, liebevoll verpackt in einen leuchtend roten, dekorierten Umschlag. Er hatte die Karten für seine Jennifer besorgt und wollte sie ihr zu Weihnachten schenken. Unheimlich stolz war er auf seine Idee gewesen und niemand hätte ihm erzählen können, dass sich seine Liebste nicht darüber gefreut hätte. Nun waren die Karten sinnlos, denn sie hatte ihn verlassen.

 

Endlich war er oben angekommen und eilte hinaus auf die Straße. Schon seit Stunden war es dunkel draußen und die Kälte wurde immer unerträglicher. Dennoch herrschte reges Treiben auf den Straßen. Es war das letzte Wochenende vor Weihnachten und viele Menschen waren schon in die Ferien gestartet, da der Heilige Abend dieses Jahr auf den Montag fiel. Die meisten Leute wirkten fröhlich und ausgelassen. Sie lachten viel, während sie miteinander sprachen, und schlenderten mit strahlenden Gesichtern Arm in Arm durch die Nacht. Nur die Mundwinkel des Mannes hingen traurig herunter. Weihnachten ohne Jennifer verbringen zu müssen - dieser Gedanke erschien ihm schon jetzt unerträglich.

Es kam ihn wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich seine Wohnung erreicht hatte. Mit zittrigen Händen schloss er die Haustür auf und trat ein. Drinnen war es fast noch ungemütlicher als draußen. Das Feuer im Ofen war schon längst erloschen. Der Mann machte sich auf die Suche nach Streichhölzern, doch er fand keine. Also behielt er seinen Mantel an und machte es sich mit einer schweren Decke in seinem Sessel bequem. Irgendwann schlief er erschöpft und ohne es zu merken ein. Im Traum sah er Jennifer in einem cremefarbenen Hochzeitskleid auf einer Klippe stehen. Verzweifelt versuchte der Mann, zu ihr zu laufen und sie festzuhalten, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Panisch flehte er sie an: “Jennifer, bleib bei mir! Komm her zu mir. Bitte!” Jennifer drehte sich um und blickte ihn mit traurigen Augen an. Erst jetzt sah der Mann, dass sie ein Baby im Arm hielt, das friedlich schlief. Sie küsste es auf die Stirn, dann sagte sie besonnen zu dem Mann: “Es ist zu spät, du eiskalter Egoist.” Als sie sich schließlich umdrehte und von der Klippe sprang, schrie der Mann laut auf.

Erschrocken schlug er die Augen auf. Er fand sich wieder in seinem Sessel. Obwohl er dick vermummt war, war sein Körper steif gefroren. Er wusste nicht genau, wie lange er geschlafen hatte, doch draußen begann es bereits Tag zu werden und die Vögel zwitscherten munter. Es war Sonntag - noch ein Tag bis Weihnachten. Er dachte wieder an die Musicalkarten. Zittrig und schwerfällig stand er auf und schleppte sich in die Küche, wo der rote Umschlag immer noch auf den Tisch lag. Er nahm ihn in die Hand und sah ihn so an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Ehrfürchtig fuhr der Mann mit seinem Finger die scharfen Kanten nach und betastete vorsichtig die glatte Satinschleife.

Nein, er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass Jennifer nicht mehr da war. Entschlossen steckte er den roten Umschlag in seine Manteltasche und stürzte zur Tür hinaus. Mit schnellen Schritten und gesenktem Blick nahm er denselben Weg, den er gestern Abend in die andere Richtung gegangen war. Die ganze Zeit hielt er seine Hände in den Taschen vergraben und die Finger seiner linken Hand umklammerten fest den Umschlag.

Als er nach kurzer Zeit die U-Bahn erreicht hatte, kaufte er sich am Fahrkartenautomaten ein Ticket bis zur Sperberstraße, wo Jennifer wohnte. Wahrend der gesamten Fahrt konnte er kaum stillsitzen. Sein Mut schwand von Sekunde zu Sekunde. Nachdem er ausgestiegen war, starrte er wieder dem Zug hinterher, der eilig in einem schwarzen Loch verschwand. Sein Schädel brummte und er litt unter unangenehmen Magenkrämpfen. Sollte er wirklich bei Jennifer auftauchen und sie um Vergebung bitten? Es schien ihm, als hätte er gar keine andere Wahl.

Langsam schlich er zum Haus, in dem seine Liebste wohnte. Für ein paar Minuten blieb der Mann davor stehen und musterte die hellblaue Fassade. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und klingelte bei Jennifer.

Es dauerte einige Zeit, bis sie verschlafen öffnete. Ihr Haar war wild zerzaust und sie trug einen rosafarbenen Morgenmantel über ihrem karierten Pyjama. Überrascht

starrte sie den Mann an und fragte mit ärgerlicher Stimme: “Was willst du denn hier? Und wie siehst du überhaupt aus?”

Erst jetzt wurde dem Mann bewusst, dass er noch die Kleider vom Vortag trug und weder gewaschen, noch rasiert oder gekämmt war. Er schämte sich vor Jennifer. “Darf ich reinkommen?”, fragte er verlegen.

“Wenn’s sein muss.” Jennifer drehte sich gleichgültig um und ging wieder hinein. Der Mann folgte ihr in ihre Küche. Unaufgefordert setzte er sich neben seine Traumfrau. Auch kurz nach dem Aufstehen wirkte sie einfach nur zauberhaft. “Jennifer, es tut mir leid.”

“Was? Dass du ein widerlicher Egoist bist? Mein größter Traum war es, dich eines Tages zu heiraten und mit dir Kinder zu haben.” Jennifers Augen blitzten vor Zorn.

“Du aber willst noch nicht einmal deine gammelige Wohnung für mich aufgeben und mit mir zusammenziehen. Dann sagst du mir auch noch ganz unverblümt ins Gesicht, das du nie mehr heiraten und kein Kind mehr willst.”

“Aber Jennifer, ich war doch schon zweimal verheiratet und habe bereits zwei Kinder.”

“Das ist es ja. Du hast das bereits alles, aber mir willst du es verwehren. Du willst so leben, wie du willst. Ich soll wegen dir all meine Gewohnheiten ändern und meine Träume aufgeben. Du dagegen tust nichts dergleichen.”

“Jennifer, du hast recht. Ich bin nicht gut genug für dich.” Heimlich legte er den roten Umschlag aus seiner Manteltasche auf den Tisch. Dann verabschiedete er sich

hastig von seiner Liebsten und stürzte geknickt hinaus. Er sah ein, er hatte verloren.

Als er wieder daheim am Bahnsteig stand, zündete der Mann sich eine Zigarette an und starrte dem Zug hinterher, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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