Joachim Güntzel

Flucht in Niemands Land

 

Verzweiflung war nicht das richtige Wort für das, was in N. vorging, als er die Flucht ergriff. Es war eher etwas wie Trotz, überlagert von einem plötzlichen Anflug von Ratlosigkeit. Alle waren sie hinter ihm her. Die Bluthunde des Alltags waren ihm auf den Fersen, wollten ihm an die Kehle. Sie lechzten danach, sein Fleisch in groben Stücken aus seinem Körper zu reißen und sich an seinem Blut zu laben. Natürlich musste die offizielle Version später anders lauten. Man würde versuchen, ihm die Schuld für alles was geschah in die Schuhe zu schieben. Oh ja, seine Peiniger waren einfallsreich und skrupellos. Doch er ließ sich nicht täuschen. Er war clever. Alles was er von nun an tat, war Notwehr.

 

Wie seltsam es doch ist, da zu sein, dachte N. Er meinte das nicht im konkreten Sinn, genau in dieser Sekunde an diesem Ort zu sein. Es war eher eine abstrakt zu nennende Empfindung: Es war seltsam, überhaupt zu sein. Und hier, an der Schwelle zu Niemands Land, steigerte sich der Gedanke ins Unermessliche, ja ins Unerträgliche. Rettung verhieß nur eines: Er musste so schnell wie möglich den Eingang finden.

 

Seine Verfolger ließen nicht locker.

„Niemann!“ riefen sie laut, während sie ihn hetzten wie Jagdhunde ihre Beute. „Niemann, können Sie uns hören?“

Einer dieser Bastarde hob die Hand und versuchte, ihm einen Stein an den Kopf zu werfen. Doch N. duckte sich weg, er war flinker und geschickter als sie.

 

Wann war es endlich so weit, wann hatte er Niemands Land erreicht? Ein schrecklicher Gedanke begann sich in ihm auszubreiten, von seinem Gehirn Besitz zu ergreifen und sein Herz wie ein Ring aus Stahl unnachgiebig zu umklammern: Was, wenn der Eingang verschlossen war, wenn Niemands Land für ihn nicht mehr zugänglich wäre? Dann fiele er seinen Verfolgern zum Opfer und wäre ihnen schutzlos ausgeliefert. Sie könnten ihn sezieren, ihn vollständig auseinander nehmen und sein Innerstes nach außen kehren. Vielleicht würden sie sein Gehirn heraus operieren, es in Alkohol einlegen und in einem durchsichtigen Glas zur Schau stellen. Oder sie würden in seinen Gehirnwindungen nach Besonderheiten forschen, nach irgendwelchen Abnormitäten. Denn darauf verstanden sie sich aufs Beste, diese Scharlatane, dieses selbsternannten Heilsbringer. Doch dazu durfte es nicht kommen. Er musste den Weg finden.

„Niemann!“

Wieder dieser Ruf, diesmal von einer anderen Stimme, etwas tiefer und lauter als die letzte. Wer war dieser Niemann, nach dem gerufen wurde, fragte sich N.

„Niemann, kommen Sie zu sich!“

Ich heiße nicht Niemann, dachte N. Ich heiße... Ich bin…

 

Und plötzlich konnte er Niemands Land sehen. Es leuchtete von fern am Horizont. Die Sonne strahlte am Himmel und tauchte die weiten Wiesen, die in sattem Grün standen, in ein warmes, heimeliges Licht. Sanfte Hügel trugen Wälder auf ihren Rücken und blickten über weite Täler, in denen Bäche zu Flüssen wurden, die zu Strömen anwuchsen und sich irgendwo in einer unsichtbaren Ferne in ein riesiges, friedliches Meer ergossen. Hier würde er Schutz finden. Hier konnten sie ihm nichts anhaben, denn dies war sein Land, Niemands Land. Denn er wusste nun, wer er war. Er war Niemand, und dieses Land gehörte ihm allein.

 

N. drehte sich um. Seine Verfolger waren näher gekommen. Er musste sich beeilen. Vor ihm lag eine riesige Schlucht, die ihn von Niemands Land – von seinem Land – trennte. Der Grund der Schlucht war nicht zu erkennen, denn dichte Nebelwolken verdeckten den Boden. Die Breite der Schlucht schätzte N. auf vielleicht fünfzig Meter. Er musste diese Schlucht überwinden, doch es war nirgends eine Brücke zu sehen. Diese Feststellung ließ ihn aber nicht verzweifeln. Denn es bedeutete, dass seine Verfolger keine Chance hatten, ihm zu folgen. Wenn er erst einmal in Niemands Land angekommen war, war er gerettet. Er war sich sicher, dass er es schaffen würde. Noch einmal blickte er zurück. Wieder waren die Bluthunde näher gekommen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn eingeholt hatten. N. atmete tief durch. Er fixierte den Horizont und konzentrierte sich. Dann nahm er Anlauf und sprang.

 

 

An einem Ort fern von Niemands Land versuchten zwei kräftige Männer, den wie besessen um sich schlagenden Patienten zu bändigen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, ihm die Zwangsjacke überzustreifen und sie auf seinem Rücken zusammen zu binden. Sie verabreichten ihm eine Spritze und  führten ihn in einen weiß getünchten, fensterlosen Raum, der von grellem, kaltem Neonlicht durchflutet war. Nachdem sie ihn auf der Pritsche, die an einer Seitenwand des Raumes stand, abgelegt hatten, gingen sie hinaus und schlossen die schwere Eisentür. In der Tür befand sich eine kleine Luke, durch die man hindurchschauen konnte. Als die Tür geschlossen war, schob sich die kreisrunde Abdeckung des Gucklochs zur Seite und machte für den hinter der Tür stehenden Aufseher den Blick auf den Patienten frei. Er lag regungslos und mit geschlossenen Augen auf der Pritsche. Auch zwei Stunden später hatte der Patient seine Lage nicht verändert.

„Die Wirkung der Spritze müsste bald nachlassen“, meinte einer der beiden Ärzte, die ebenfalls hinter der Tür standen.  „Benachrichtigen Sie uns, so bald er sich bewegt.“

 

Währenddessen fiel N. immer tiefer in die Schlucht. Bildfetzen glitten an seinen Augen vorbei, Gedankensplitter streiften sein Gehirn. Er wusste nicht, ob er schrie, denn seine Ohren wurden von derartig vielen unbenennbaren Geräuschen bedrängt, dass er sie sich am liebsten zugehalten hätte. Doch das ging nicht, denn er ruderte mit seinen Armen während des freien Falls in der Luft. Scheinbar endlos dauerte der Fall, doch plötzlich endete er abrupt. N. hatte den Grund der Schlucht erreicht. Er schlug so hart auf dem Boden auf, dass er dachte, sein Rückgrat wäre gebrochen. Deshalb blieb er zunächst eine Weile still liegen und rührte sich nicht. Schließlich – N. wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war – versuchte er sich vorsichtig zu bewegen. Zu seiner Überraschung konnte er den Kopf etwas zur Seite drehen, das Rückgrat schien demnach nicht gebrochen zu sein. Auch die Beine gehorchten seinem Befehl und winkelten sich leicht an. Nur mit seinen Armen hatte er Schwierigkeiten. Irgendetwas schien sie festzuhalten. Vielleicht hatte er sich beim Sturz in einem Gestrüpp verfangen und hing nun darin fest. Langsam öffnete er die Augen.

 

„Er ist wieder da!“ rief einer der Ärzte in dem weiß getünchten Raum fern von Niemands Land. Als N. seine Augen öffnete, war er zunächst von dem grellen Neonlicht geblendet. Nachdem sich seine Augen an die schmerzende Helligkeit gewöhnt hatten, sah er die Gesichter der beiden Männer, die sich über ihn beugten.

„Erkennen Sie uns? Woran erinnern Sie sich?“ fragte einer der beiden Männer. Als der zweite Mann zu sprechen begann, registrierte N., dass dessen Stimme etwas tiefer war und der lauter sprach als der andere.

„Sie waren wieder weggetreten“, sagte der Mann mit der tieferen Stimme. „Wissen Sie noch, wer Sie waren? Können Sie uns einen Namen sagen?“

N. dachte nach. Dann sagte er leise, fast flüsternd:

„Niemand. Ich bin Niemand.“

 (c) Joachim Güntzel

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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