Nicole Fröhlich

Die Unsichtbare

Die Unsichtbare

 

Nie mehr aufwachen schien die beste Lösung zu sein. Faiths kindlicher und naiver Verstand hatte ihr dies verraten. Traurig kuschelte sie sich in die weiche, frisch gewaschene Biberbettwäsche. Der Tag war so mies verlaufen wie alle anderen zuvor auch. Tommy hatte sie heute wieder nicht einmal angesehen. Faith fragte sich, ob er überhaupt wusste, dass es sie gab.

In der Pause hatte sie wieder alleine in einer kalten Ecke des Schulhofes gekauert und war mitleidig von ihren Schulkameradinnen beobachtet worden. Der Streit am Abend mit der Mutter hatte Faith dann den Rest gegeben. Jetzt lag sie da und weinte sich in den Schlaf.

Nachts träumte sie wieder von ihrer geliebten Großmutter. Neben ihrer Mutter war sie Faiths einzige Freundin gewesen. In ihren Traum las ihr die Großmutter ihr Lieblingsmärchen “Dornröschen” vor. Als Faith noch ein Kind war, hatte ihr die Oma oft Märchen vorgelesen und Faith hatte sich immer ganz fest an sie gekuschelt. Diese Momente waren die bisher schönsten in ihren Leben gewesen.

Dann sah Faith ihre eigene schlafende Gestalt, über dessen Gesicht ein eigenartiger Schatten lag. Eine Weile betrachtete Faith ihren Körper und mit einem Schlag war ihr bewusst, was nicht stimmte. Sie war wach! Verwirrt fragte sie sich, wie sie wach sein und in ihr eigenes Gesicht blicken konnte. Als sie an sich hinuntersah, sah sie nichts als den eiskalten Boden.

Faith begann zu weinen und stellte sich immer wieder dieselbe Frage: “Ist das das Ende? Bin ich tot?” Schluchzend zog sich das Mädchen in eine Ecke des Zimmers zurück. Das Leben im Jenseits hatte sie sich anders vorgestellt; nicht so leer und trostlos.

Es war fast Morgen, als sich Faith wieder etwas beruhigt hatte. In einer knappen Stunde würde ihre Mutter kommen, um sie zu wecken. Faith wollte nicht mit

ansehen, wie ihre arme Mutter ihr einziges Kind tot im Bett finden würde. Sie beschloss hinaus in die kalte Dunkelheit des Wintermorgens zu gehen.

Vorsichtig probierte sie, durch die Wand zu gehen, was ihr ohne Probleme gelang. Sie fragte sich, ob sie sich nicht doch an ihren derzeitigen Zustand gewöhnen könnte.

Draußen war es nebeldüster. Obwohl das Thermometer Minus 18 Grad zeigte, war Faith nicht kalt und sie merkte, dass sie nun nicht mehr an die Bedürfnisse ihres Körpers gebunden war. Glücklich über diese Erkenntnis, machte sie sich auf den Weg zu ihrer Schule. Zu dieser frühen Stunde waren kaum Menschen auf der Straße, doch auch die Wenigen, die bereits unterwegs waren, nahmen keine Notiz von ihr. Ohne ihren Körper war Faith unsichtbar geworden.

Sie setzte sich vor dem Haupteingang der Schule. In einer halben Stunde würde der Hausmeister kommen und das Tor öffnen. Faith wartet auf ihn, doch als er endlich da war, nahm auch er sie nicht wahr. Faith versuchte, zu ihm zu sprechen, doch ohne Mund war sie stummer als ein Guppy im Atlantischen Ozean.

Langsam füllte sich der Schulhof und schließlich sah Faith ihren Schwarm Tommy kommen. Seit der siebten Klasse war sie in ihn verliebt, doch nie hatte sie den Mut gefunden, ihn anzusprechen.

Tommy war nicht allein, sondern in Begleitung der hübschen Marleen. Lachend warf sie ihre blonde, übertrieben toupierte Mähne zurück und auch Tommy schien das, was sie gerade gesagt hatte, sehr lustig zu finden. Für Faith war es wie ein Tritt in den Bauch, die beiden so glücklich zusammen zu sehen.

Es war kurz vor acht, in knapp zehn Minuten würde die Schule beginnen. Die Mädchen aus Faiths Klasse standen eng zusammen vorm Haupteingang und

schnatterten lachend durcheinander. Plötzlich hörte Faith ihren Namen und spitzte

die Ohren.

“Wo bleibt sie denn? Normalerweise ist sie doch eine der Ersten”, fragte Jenny.

“Vielleicht haben wir sie übersehen. Wäre auch kein Wunder, so still wie die ist”, antwortete Lisa.

“Eigentlich schade”, bemerkte Susan mit hochgezogenen Schultern, die sie vor der Kälte schützen sollten. “Sie ist eigentlich eine ganz Nette. Ich habe gehört, ihre Oma ist vor Kurzen gestorben. Die Arme. Muss schlimm für sie sein, nachdem ihr Vater einfach abgehauen ist.”

“Wirklich blöd”, äußerte Jenny während sie nachdenklich an ihrer Unterlippe nagte. “Ich hätte sie ja gerne mal zu mir nach Hause eingeladen, weiß aber nicht, ob ihr das recht ist.”

Der Rest der Gruppe stimmte Jenny mit einem Kopfnicken zu.

Faith konnte nicht so recht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Für sie war es, als würde sie träumen.

Christian, ein Junge aus der Klasse über Faith, trottete durch die Eingangstür. Die Mädchen starrten ihm nach, bis er drinnen war.

“Der ist so verliebt in Faith, doch leider genauso schüchtern wie sie.” Gaby lächelte verträumt, während sie redete. “Dabei wären die beiden ein so süßes Paar.”

Faith war nun völlig verwirrt. Christian hatte sie bisher kaum bemerkt, obwohl er wirklich ganz süß war. Sie konnte es nicht glauben, dass so ein toller Junge in sie verliebt war, und fühlte sich geschmeichelt.

Es läutete und die Schüler eilten in ihre Klassenzimmer. Weil Faith nicht eineinhalb Stunden bis zur Pause warten wollte und Unterricht sowieso langweilig fand, beschloss sie, woanders hinzugehen. Ihr Vater fiel ihr wieder ein und sie fragte sich, wie es ihm wohl ginge. Sie wusste, wo er nun mit seiner neuen Freundin Simone wohnte, und machte sich sofort auf den Weg.

Unglaublich lange war Faith nicht mehr beim zu klein geratenen Altbau mit dem mäßig gepflegten Gärtchen gewesen. Trotz der gelben Farbe strahlte das Gebäude nur sehr wenig Wärme aus. Schon als sie über die Auffahrt schwebte, hörte Faith die Stimmen ihres Vaters und seiner Freundin. Mühelos glitt sie durch die Haustür hindurch und folgte dem Lärm. Das Pärchen saß am Küchentisch, wo der Vater versuchte, die Zeitung zu lesen, doch Simone starrte ihn boshaft, mit einer brennenden Zigarette in der Hand, an.

“Es ist dir also nicht wichtig?”, donnerte sie erneut los. “Warum bist du dann mit mir zusammen, wenn du angeblich nie mehr heiraten willst?”

Der Vater blickte nur kurz auf: “Das frage ich mich auch.”

“Arschloch.”

Faith sah sich ihren Vater genau an. Er schien seit Weihnachten noch älter geworden zu sein. Als er vor sieben Jahren gegangen war, waren seine Haare fast schwarz. Nun waren sie nur noch grau. Seine Mundwinkel hingen stark und Faith konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie ihren Papa zum letzten Mal lachen gesehen hatte. Früher, als sie noch klein war, hatte er viel gelacht. Jeden Tag und bei jedem Wetter hatte er mit ihr im Garten gespielt und sie immer wieder fröhlich durch die Luft gewirbelt. Im Sommer hatte er immer nur für Faith das Planschbecken gefüllt und sie hatte den ganzen Tag ihren rosa Prinzessinbadeanzug anlassen dürfen. Ihr Vater war nun nicht mehr derselbe. Sein Gesicht machte Faith richtig Angst.

Simone zog provokant an ihrer Zigarette: “Und was soll mal aus mir werden?”

“Geh arbeiten.” Der Vater sah sie nicht einmal an.

“Um mich wie den letzten Arsch behandeln zu lassen? Vergiss es!” Mit diesen Worten drückte Simone ihre Zigarette aus, stand ruckartig auf, und bevor der Vater reagieren konnte, war sie auch schon mit einem lauten Knall im Badezimmer verschwunden.

Faith sah ihren Papa an. Er hatte sein Kinn auf den Ellenbogen gestützt und starrte traurig die Küchenzeile an. Niemals hätte Faith geglaubt, dass es ihrem Vater nun so schlecht gehen würde. Obwohl sie wütend auf ihn war, tat er ihr in diesen Augenblick irgendwie leid. Nachdenklich ging sie wieder hinaus und schlich solange durch die Stadt, bis es fast dunkel wurde.

Dann kam sie an der Stadthalle vorbei, an der reger Betrieb herrschte. Plötzlich fiel

es Faith wieder ein: Ihre absolute Lieblingsband “Room Love” hatte doch an diesem Abend einen Auftritt! Der Teenager wurde plötzlich nervös. Ihre Mutter hatte es ihr nicht erlaubt, in dieses Konzert zu gehen, doch jetzt war sie unsichtbar und konnte so unbemerkt hinein.

Die Zeit, bis die Jungs endlich auf der Bühne waren, erschien Faith endlos, doch dann wurde der Lärm von Minute zu Minute immer lauter und schließlich waren sie da. Faith stellte sich auf die Bühne, direkt neben ihren Liebling Kim. Ein Traum wurde wahr.

Um halb drei morgens war Faith wieder alleine. Sie hatte keinen Körper mehr, der nach Schlaf verlangte. Trotzdem wünschte sie sich so sehr, in ihrem kuscheligen Bett zu liegen. Wie sie die Gespräche und die Umarmungen ihrer Mutter vermisste! Faith dachte lange nach. Unsichtbar zu sein, hatte zweifellos viele Vorteile, doch sie konnte sich nicht vorstellen, nie mehr mit jemandem zu reden oder Wärme und Geborgenheit zu fühlen. Verzweifelt eilte sie nach Hause. Wenn sie erstmal wieder bei ihrem Körper war, würde sie schon einen Weg finden, wie sie wieder in ihn hineinkommen sollte, dachte sie.

Als Faith durch die Wand ihres Schlafzimmer hindurchgeglitten war, bekam sie einen Schreck, denn ihr Bett ihr leer. In der Küche hörte sie ihre Mutter telefonieren: “Nein, sie ist immer noch im Koma. Die wissen auch nicht was sie hat. Oh Gott, hoffentlich wird mein Mädchen wieder gesund. Du glaubst ja nicht, wie schlimm das alles für mich ist.”

Faith hatte genug gehört. Eilig machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus. Sie musste lange suchen, bevor sie in Zimmer 403 ihren Körper fand.

Ewig starrte sie ihn an, doch ihr fiel einfach keine Lösung ein. Verzweifelt begann sie lautlos zu weinen. Niemand konnte sie hören, niemand würde sie trösten. Von Zeit zu Zeit hörte sie die Nachtschwester an der Zimmertür vorbeischlurfen, ansonsten war es totenstill.

“Du willst wieder hinein?” Faith bekam einen gewaltigen Schreck. Als sie hochfuhr, sah sie ihre Großmutter neben sich, die in diesen Moment schöner aussah als je zuvor.

“Kind, mein liebstes Kind, möchtest du das wirklich? Bist du bereit, wieder Hunger, Durst, Müdigkeit und Schmerzen zu spüren? Willst du wieder für alle sichtbar und angreifbar sein?”

Faith nickte.

Die Großmutter strich ihr über die Wange, doch Faith fühlte es nicht. Tief sah sie ihr in die Augen: “Ist das Leben schön?”

“Schöner, als ich je geglaubt hätte, das habe ich heute gelernt”, antworte Faith.

“Dann verlasse ich dich jetzt wieder und du wirst morgen wieder in deinem Körper

aufwachen.” Mit diesen Worten verschwand die Großmutter in dichten Dunst und Faith verlor das Bewusstsein.

Das Nächste, was sie sah, waren die vielen Maschinen, an denen ihr Körper angeschlossen war. Vorsichtig fasste sie sich ins Gesicht, und als sie ihre Hand auf der Nase spürte, durchfuhr sie eine Welle von Glück. Langsam hob sie ihre Bettdecke und betrachtete ihren nackten Körper. Friedlich kuschelte sie sich in die Wärme des Bettes. Bald würde ihre Mutter auftauchen. Sobald Faith wieder zur Schule gehen durfte, würde sie Christian ansprechen, das hatte sie nun beschlossen.

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Nicole Fröhlich).
Der Beitrag wurde von Nicole Fröhlich auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Nicole Fröhlich als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sex für Motorradfahrer von Klaus-D. Heid



Warum kann 69 bei 200 gefährlich sein? Was ist der Unterschied zwischen Kawasaki und Kamasutra? Wie kommt man am besten auf 18000 Touren? Was hat ein überfälliger Orgasmus mit kostenlosen Ersatzteilen für eine BMW zu tun? Die Welt der heißen Öfen steckt voller Fragen, auf die Ihnen Klaus-D. Heid und Cartoonistin Regina Vetter amüsant erotische Antworten geben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Nicole Fröhlich

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Besondere Gedanken - Aufwachen von Nicole Fröhlich (Weisheiten)
Sternstunden von Helga Edelsfeld (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Chinesischer Richter von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen