Gabriele Windeln

Körperwarm

Es war einmal ein Mann, dem hatte die Natur einen wirklich ausgeprägt guten Geschmack geschenkt. Als Kind, später auch als Halbwüchsiger, hatte er von dieser Gabe nichts gewusst, ja, er war sogar einer von denen gewesen, die jeden Hamburger, gleich welcher Machart, in sich hinein schlangen und der dadurch auffiel, dass es diese, wie er es später nannte, kulinarische Verzweiflungstat gleich mit einem Geschicklichkeitsspiel oder einer Kraftprobe verband: dem Hamburger-Rollen oder Hamburger-Pressen auf das kleinstmögliche Format. Hatte er sein Hauptnahrungsmittel erst einmal mit den Fingern oder einer Gabel entsprechend bearbeitet, gelang es ihm, es in die Luft zu werfen, es wie ein Seehund mit dem Mund aufzufangen und unzerkaut hinunter zu schlucken. In seiner Clique war er darin der unbestrittene Meister. Wenn er eine solche Mahlzeit mit einer Wette verband, brachte er es auf immerhin acht vorgewalkte, unzerkaute - und vor allem gespendete - Hamburger, ehe es ihm wirklich übel wurde.
Sein Schicksal allerdings erfüllte sich im Alter von vierzehn, als er eines Tages bei einer seiner Mahlzeiten feststellen musste, dass der Hamburger-Ketchup, dessen Spuren auf Fingern und Handgelenken er immer mit spitzer Zunge ableckte, gewissermaßen anders schmeckte, als er dies erwartet hatte.
Der Klecks, der ihm wohl ein wenig am Handgelenk hinauf gelaufen war, hatte einen leicht metallischen Geschmack, ein wenig bitter sogar, insgesamt vielleicht etwas weniger süßlich als normal und der Halbwüchsige, der er damals noch war, fühlte mit spitzer Zunge diesem Geschmack nach und geriet ins Grübeln.

Für ihn geriet die Welt aus den Fugen. Nachdem er sich einmal darauf eingelassen hatte, ein gewisses Misstrauen zu empfinden, begann er, seine Nahrung einer Prüfung zu unterziehen, ehe er sie in sich hinein schlang. Nicht nur, dass das gierige Schlingen sich schnell verlor, vielmehr begann der junge Mann, Kostproben verschiedenster Gerichte zu nehmen und über die Zunge laufen zu lassen ganz so, als gebe es nichts Besseres auf der Welt.
Tatsächlich gab es das auch nicht, denn in gar nicht langer Zeit hatte der junge Mann es dazu gebracht, einzelne Zutaten aus einem Gericht heraus zu schmecken, wobei er bereits über die Qualität der Zutaten gewisse Aussagen machen konnte.
Sein Weltbild geriet vor allem dadurch aus dem Gleis, dass er es sehr schnell nicht mehr ertragen konnte, die fertigen Soßen, die Standardmischungen, die tiefgekühlten Bratlinge und Gemüsesuppen zu verzehren. Geschmacksverstärker, selbst die zugelassenen, beleidigten seinen jung erwachten Geschmackssinn, die unerlaubten Zutaten verletzten  ihn geradezu. Anstatt, wie andere Menschen, die Zubereitung seiner Nahrung im Alltag aus dem Kopf zu verdrängen, wurde die Komposition seiner Erfahrungen seine Lebensaufgabe und er entschied sich, eine gute Ausbildung zu machen und viel Geld zu verdienen um in den besten Restaurants der Welt die Kunst der fähigsten Köche erleben zu können.
So war er, von einem Wunsch beseelt, ja geradezu von der Notwendigkeit getrieben, ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden, der in den feinsten Küchen bereitete Mahlzeiten zu sich nahm und ein Leben führte, das seiner Genussfähigkeit stets neue Anreize bot.

Natürlich hatte seine geschmackliche Sensitivität sein Leben in weit größerem Maße beeinflusst als es bei seinen Weggefährten, Freunden, Kameraden oder Kunden der Fall war, denn gleich beim ersten wirklichen Kuss mit einem ersten wirklichen Mädchen, entdeckte er eine weitere, völlig neue Geschmackswelt. Er hatte sich gar nicht erst angewöhnt, darüber zu sprechen, weil seine Freunde ihn nur verständnislos angesehen hatten, als sie über Sex sprachen und er nicht von seinem ersten Mal erzählte, sondern vom Geschmack der ersten fünf Frauen.
Seine sexuellen Neigungen entwickelten sich, ebenso wie seine Eßgewohnheiten, in eine gänzlich andere Richtung. Nageln, Poppen, Vögeln, wie auch immer die anderen es nannten, es war eine lächerliche Beschäftigung im Vergleich zu dem, was ihm selbst widerfuhr. Er kostete Frauen, die ganz jungen, auch die ein wenig älteren, auf seine ganz besondere Weise. Seine Wanderungen über ihre Körper, der Geschmack von Salz, von Schweiß, von zitternder Haut, von lackierten Fingern, gepuderten Wangen, parfümierten Halsansätzen, Brüsten oder Schamlippen bereitete ihm einen unendlichen Genuss. Da er mit der nötigen Sorgfalt zu Werke ging und sich seine Zungentechniken schnell verfeinerten, war es auch für die Frauen in seinem Leben eine nicht weniger genussvolle Erfahrung.
Wäre er nicht durch seine Eigenheit ein besonders schweigsamer Mensch geworden, hätte er über die Gespräche gelacht, in denen dann und wann, vielleicht ein wenig verschämt, möglicherweise aber auch besonders forsch, die erogenen Zonen der Frauen Thema waren. Da er wusste, dass selbst ein einzelnes, winziges Härchen, eine einzelne kleinste Schweißpore sogar, mit der Zungenspitze sanft berührt, mit der Zungenkante rau ertastet oder mit ein wenig Spucke körperwarm aufgelöst, einen unvergleichlichen Reiz für die Frau bot, blieb er wortlos. Er lauschte den Gesprächen, er schmunzelte vielleicht in sich hinein, nie aber verlor er ein Wort darüber, was tatsächlich in ihm vorging.

Bei den Frauen, mit denen er verkehrte, war das natürlich anders. Jede von ihnen fühlte sich um ihrer selbst willen geliebt, verwöhnt, in die höchsten Höhen der Lust getrieben - und er ließ sie in dem Glauben und genoss ihre Würze. Sie mochten erzählen, was sie wollten, diskret, in Andeutungen nur, schwärmerisch oder unverhohlen extatisch, niemand glaubte so recht daran, dass die Zunge des Mannes in so berauschender Weise tätig werden konnte. Andere Männer mochten es hin und wieder erwähnen, in einem gönnerhaften Ton, dem man eine kleine Verunsicherung anhören konnte, sie mühten sich, ihn zum Erzählen zu nötigen, begannen, auffällig häufig in seiner Gegenwart, über ihre Erfahrungen mit einer ganz besonderen Frau zu sprechen, aber er hörte ihnen zu, lächelte wissend und sagte kein einziges Wort.
Es ließ sich nur schlecht beschreiben, was ihm widerfuhr, als er zum ersten Mal aus dem Stiletto einer Frau Champagner trank oder einen Spritzer Liqueur von einer Schulter genoss. Nichts aber war vergleichbar mit dem ersten Schluck Cognac, den er aus dem Nabel einer Frau erschmeckte.
Mit den Jahren war er ein erfahrenen Liebhaber geworden. Frauen beteten ihn an, waren eher dankbar dafür, dass er sie verwöhnt hatte als wütend darüber, dass er sie verließ. Als hätten sie sich verschworen, den Genuss, den er bereitete, allen Frauen der Welt zu gönnen, gab es weder Eifersüchteleien noch unliebsames Besitzergreifen unter ihnen. Manch eine gestand, dass sie, angeregt und voller Sucht nach seinen besonderen Zärtlichkeiten, ihren eigenen Mann bat, ihr gleichen Genuss zu bereiten und es ihre Ehe belebte, ein ganz neues Feld zärtlicher Experimente zu erforschen. Andere, deren Ehemänner sich als weniger entgegenkommend oder einfühlsam erwiesen, machten sich daran, die Welt zur Liebe mit ganzem Körper zu bekehren.
Dies alles aber ließ den Mann unberührt, weil es ihm nie um die Gefühle der anderen ging sondern immer um den eigenen Genuss und es sich lediglich als Glück erwies, dass seine eigene Erfahrungsfreudigkeit sich mit der Hingabe seiner Partnerinnen aufs Angenehmste ergänzte.
Obwohl er glaubte, alle Genüsse der Welt zu kennen, schließlich hatte er Frauen in vielen Ländern der Welt gekostet, weckte der Genuss von körperwarmem edlem Cognac in ihm neue Lüste.
Er, dessen feinsinnige Geschmacksnerven  OTARD zu seinem bevorzugten Cognac erkoren, lernte, die feinsten Geschmacksnuancen des Getränkes mit dem sinnlichen Geruch des aromatischen Alkohols und dem animalischen Geruch einer liebesbereiten Frau zu komponieren, so dass es eine fast unerträgliche Lust war, eine selbst ihm unbekannte Extase, als er die Frau gefunden hatte, deren ureigenster Geschmack den des edlen Cognac bis zur Perfektion verfeinerte.

Vielleicht hatte er sie rein zufällig entdeckt, das Schicksal konnte sie zusammen geführt haben, der Mann verschwendete wenig Überlegung darauf, wie ihm dieses höchste Glück zuteil geworden war. Vielleicht erfüllte sich sein Schicksal nur deshalb, weil sie so nahe bei einander lebten, dass es sich schnell ergab, dass sie an Tisch und Bett ein Paar wurden. Sein Glück, seine Leidenschaft, seine Freude, alles verband er mit dem auf so wundersame Weise perfekten Genuss seiner Geschmacksnerven - und mit ihr.
Auf einer Party hatte er sie kennen gelernt, eines der Partygirls war sie gewesen, eine, die sich von Hand zu Hand hatte weiter reichen lassen. Gerade diese verwegene Note ihres leichten Widerstandes, ihr Lachen, wenn er mit Genuss ihren Körper erforschte, ihre wilde Lust, wenn sie den Höhepunkt erreichte und der Geschmack des Cognacs in diesem Moment, in ihrem Mund, auf ihren Wangen, in ihren Achselhöhlen, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen - es nahm ihm den Atem. Nie hatte er sich so zufrieden gefühlt, so wohlig erschöpft, so ausgekostet ...

Wie in jedem Märchen war auch in diesem die märchenhafte Glückseligkeit nicht von Dauer. Der Mann, der von genussfreudigen Frauen verwöhnt, von anspruchsvollen Frauen genossen, von unerfahrenen Frauen geliebt wurde, hatte den Gipfel seines Glückes mit vielleicht der einzigen Frau in der Welt erreicht, die seine Fähigkeiten, sie körperlich zu verwöhnen, nicht angemessen zu schätzen wusste.
Gib`s mir sagte sie wohl, wenn er, in Liebe mir ihr vereint, mit sanfter Zunge ihren Hals hinauf fuhr und einen Hauch von Cognac von ihrer Kinnspitze leckte. Zeig`s mir stöhnte sie gierig, wenn er sie, über den Küchentisch gebeugt, verwöhnte - ihr vielleicht ein wenig kräftiges Rückgrat glänzend von dieser leichten Spur Cognac, die er mit den Fingerspitzen verrieb, um die Entfaltung des Aromas zu goutieren.
Nun mach schon schrie sie, wenn er sich auf endlosen Genuss freute, anstatt sie von Höhepunkt zu Höhepunkt zu treiben.
So, wie er seit der Entdeckung seines empfindsamen Geschmacksinnes alle Eindrücke in seinem Leben bedacht, bewertet, verfeinert oder von sich gewiesen hatte, machte er sich nun daran zu erkunden, inwieweit die Verbindung zwischen seinem höchsten Genuss und dieser wilden, gierigen Frau rein zufällig sein konnte. Schicksalhafter weise war beides untrennbar mit einander verbunden.  
Wohlmöglich war es gut, dass er ihr nie von seiner egomanen Geschmackssucht erzählt hatte, dass sie die Liebesspiele als seine, vielleicht ein wenig merkwürdige Spielart von Sexualität ansah. Hätte sie sich nämlich als nur mittelbares Objekt von Begierde empfunden, so wäre sie bald für immer für ihn verloren gewesen. Da dem aber nicht so war, einigten sie sich darauf, eine lockere Liaison einzuhalten, die ihr die Möglichkeit gab, ihre wilden Lüste zu befriedigen und ihm die Freiheit bot, sich auf die Suche nach einem Ersatzgefäß für seinen Cognacgenuss zu begeben.
Die immer noch viel zu häufigen Male, zu denen er sich, von unstillbarer Gier getrieben, bei ihr einfand oder sie zu sich bat, entbehrten nicht einer gewissen Perversität. Was sie miteinander taten, tat sie, weil es ihren Lebensunterhalt sicherte, tat er, weil er es nicht lassen konnte. Schöne Frauen, feingliedrige, zarte willfährige, rassige, unterkühlte, sie alle konnten ihm den Genuss nicht geben, den dieses Straßenmädchen mit den zu breiten Hüften, zu üppigen Brüsten, den prallen Schenkeln und dem zu lauten Lachen ihm bescherte.
So lebte er eine Zeit in Verwirrung und Sorge. Nicht mit ihr konnte er sein - nicht ohne sie. Wild und verzweifelt suchte seine Zunge nach Erlösung. Keine Speise, kein Trank, keine Reise zu den Sehenswürdigkeiten der Welt, nichts half - und so ließ er sich darauf ein, den bitteren Geschmack der Qual als eine weitere Geschmacksnuance in seinem Leben zu dulden.

Vielleicht wäre er schon auf diese Weise für die Frauen verloren gewesen, denn seine Suche, sein Hunger, seine Enttäuschung hatten sich denen mitgeteilt, die zuvor seinen Genuss und seine Extase am eigenen Leibe wohlig erfahren hatten. Nicht länger galt er als begnadeter Liebhaber. Nicht länger entschuldigte man seine heftig ausgedrückte Verzweiflung.
Vielmehr hätte, wäre nicht alles ganz anders gekommen, seine ungenießbare einzige Liebe ihn in diesem Zustand triebhaften Unmutes wohl endlich zu schätzen gewusst. Doch wenn er bei ihr war, getrieben vom Wunsch nach der Erfüllung seiner geschmacklichen Sehnsucht, zwang er sich zu der gewohnten sanften Suche - und das verdarb es für ewig.

So traf es ihn an jenem Tag im Winter mit besonderer Heftigkeit, dass er sie aufsuchte, nachdem sie offenbar gerade zuvor einen anderen Liebhaber entlassen hatte. Wie ein gebuttertes Brötchen bot sie sich ihm dar. Schamlos in ihrer Wollust, schamlos in der Nachlässigkeit, mit der sie kaum den Schweiß ihrer Leidenschaft vom Körper gewaschen hatte.
Den Geschmack des Anderen noch am Leib, dessen Spuren noch in den Kratzen und Biss-Zeichen auf ihrer Haut und in der zerwühlten Bettwäsche, war sie zunächst fast noch begehrenswerter für ihn, bis - ja, bis er den Weinbrand roch.
Es war Verrat auf die schlimmstmögliche Weise: Billiger Fusel, an einen billigen Typ verschwendet, der sich in billigem Unverstand an einer billigen Kopie der Liebesfertigkeiten versucht hatte, die nur der beste Cognac der Welt auf die Haut dieser Frau hätte zaubern dürfen! Zum ersten Mal seit unendlich vielen Jahren gewann des Mannes Tastsinn die Oberhand und er würgte die Frau mit der animalischen Heftigkeit, die ihr leider so sehr gefiel, bis sie tot war.

Also wurde der Mann in ein Gefängnis gesperrt. Dann und wann macht dort heimlich eine Flasche Weinbrand die Runde. Einige der Häftlinge erzählen dazu - bisweilen mit bedrohlicher Sehnsucht - schauerliche Gerüchte über den stillen Mann, der sich an solchen Heimlichkeiten nie beteiligt. Und wenn er nicht gestorben ist, enthält er sich noch heute ...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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