Thorsten Wirth

Der Todebote


 
 
Von Thorsten Wirth
 
 
1. Kapitel
 
 
 
Es war einer jener gar nicht so seltenen Tage, an denen die Themse unter den klaren Strahlen der spätherbstlichen Sonne wie eine edelsteinbesetzte Kette glitzerte und die Spaziergänger die frische Luft am Wasser von Herzen genossen. Die Silhouette von Westminster vor der in Bälde untergehenden Sonne war für den Mann, der eilenden Schrittes die Lambeth Bridge überquerte, nur als verschwommener Schatten erkennbar. Der Mann, er unterschied sich eigentlich kaum von zahlreichen anderen Herren mit dunklem Anzug in der nachmittäglichen City, hatte dafür allerdings keinen Blick. In der linken Hand hielt er eine abgewetzte Aktentasche, in der rechten einen Zettel, auf dem eine Wegbeschreibung vermerkt war. Einem Betrachter wäre vermutlich der dunkle Teint der Haut aufgefallen, was ein Indiz dafür sein konnte, dass der Mann erst kürzlich aus dem Süden in das feuchte und kühlere England gekommen war. Die Gestalt des Mannes wirkte trotz der Zielstrebigkeit seiner Schritte eher gebeugt, tiefe Falten hatten sich in sein ebenmäßiges, leicht kantiges Gesicht gegraben, die ihn älter erschienen lassen, als er tatsächlich war. Wenn er lachte, was er selten tat, umspielten seine klaren blauen Augen kleine lustige Fältchen, die das wahre Alter durchscheinen ließen, gerade fünfunddreißig Jahre war der Mann vor einigen Tagen geworden.
 
 
 
Inzwischen hatte der Fußgänger die Brücke verlassen und war nach Norden abgebogen, an Westminster Hall vorbei. Er ging nach einem kurzen Moment der Orientierung auf das imposante Backsteingebäude zu, welches seit 1890 als „New Scotland Yard“ die wohl erfolgreichste Polizeiorganisation der Welt beherbergte.
 
Die Uhr des nahen „Big Ben“ schlug gerade vier, als der Mann die schweren Eingangstüren durchschritt und sich beim Pförtner nach dem Büro von Kriminalchefinspektor Elk erkundigte.
 
Der Uniformierte blätterte in einem Hefter und wählte dann auf seinem monströsen Telefonapparat eine kurze Ziffernfolge. Nach wenigen Klingeltönen nahm jemand ab, der Pförtner fragte nach dem Inspektor, lauschte kurz und legte den Hörer auf die Gabel.
 
„Der Chefinspektor kommt sofort, Sir. Sie möchten bitte hier warten.“
 
Der Mann nickte und trat zur Seite. Mit wenigen Blicken erfasste er die Einrichtung, das Portrait der Queen, Abbildungen ehemaliger Polizeichefs, ein paar gerahmte Urkunden und so weiter.
 
Hinter ihm hüstelte es. Der Mann fuhr herum und starrte in das müde Gesicht eines vielleicht fünfzig jährigen untersetzten Mannes mit schütterem dunkelblondem, gescheiteltem Haar.
 
„Inspektor Beechum? Erfreut, Sie kennen zu lernen, Herr Kollege!“ Der Blonde streckte die Hand aus. Der mit Inspektor Beechum Betitelte ergriff die schlaffe Hand und schüttelte sie energisch.
 
„Ganz meinerseits, Chefinspektor Elk. Beeindruckendes Gebäude hier. Bei uns in Sydney ist alles ein wenig kleiner.“ Er wies um sich. Chefinspektor Elk nickte kurz. „Hm, aber nächstes Jahr ist Schluß, ein neues Gebäude wird gerade hergerichtet, so ein Betonklotz gar nicht weit von hier.“ Beechum nickte. Elk brummte etwas unverständliches und bedeutete dem Kollegen, ihm zu folgen.
 
 
 
Als sie kurz darauf in dem kleinen Büro des Scotland Yard Mannes saßen, Elk hinter dem abgenutzten Schreibtisch, Beechum auf einem Besucherstuhl schräg davor, sahen sich beide kurz an, dann fragte der Gastgeber: „Was kann ich für Sie tun, Herr Kollege? Sie sagten etwas von einem alten Mordfall? In den ein ehrenwertes Mitglied der hiesigen Gesellschaft verwickelt sei?“
 
„Es könnte sein“ hub Beechum an. „Es sind bei uns neue Hinweise zu einem Fall aufgetaucht, der über dreißig Jahre zurück reicht. Es geht um den Tod der  Krankenschwester Mary Hyde, der seinerzeit unaufgeklärt blieb. Die junge, ledige Frau war 1931 unter mysteriösen Umständen ertrunken im Hafen von Sydney aufgefunden worden. Merkwürdig war, dass sie einige Wochen zuvor verschwunden war und erst wenige Tage vor ihrem Tod wieder in ihrer kleinen Wohnung auftauchte.“ Beechum räusperte sich. „Laut den alten Unterlagen“ er tippte auf seine Aktentasche, „befragte die Polizei zahlreiche Freunde und Bekannte der Frau, Verwandte hatte sie wohl keine mehr, ohne auf eine wirklich heiße Spur zu stoßen. Einer der Befragten hieß Albert Donovan und war einer der zahlreichen Verehrer der Toten, die offensichtlich...“, er zögerte kurz, „kein Kind von Traurigkeit gewesen sein soll.“
 
„Moment! Meinen Sie DEN Albert Donovan? Den, der morgen zum Lord Mayor der City of London ernannt werden soll?“ Elk wirkte angespannt.
 
„Genau den Albert Donovan“ bestätigte der Australier genüsslich. Er musterte seinen Londoner Kollegen. Doch Elk hatte sich wieder unter Kontrolle. „Das ist ja ein Ding“ meinte er schließlich.
 
Beechum erläuterte, dass vor einigen Wochen unter dem Nachlaß eines verstorbenen Kapitäns ein Brief aufgetaucht war, in dem von der verstorbenen Krankenschwester die Rede war. Er zitierte: „Denken Sie daran, wie es Mary ergangen ist. Wenn Sie nicht so enden wollen, tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Und lassen Sie das Paket verschwinden, am Besten auf Nimmer Wiedersehen!“. Unterschrieben war der Brief von Albert Donovan.
 
„Gab es denn irgendwelche Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen?“ hakte Elk nach.
 
„Laut Obduktionsbericht gab es Kratzwunden und Abschürfungen, die nicht eindeutig von einem Sturz herrührten, aber auch Mord ließ sich nicht beweisen“ erwiderte Beechum. Er hatte eine Kopie des Briefes seiner Mappe entnommen und sie dem Scotland Yard Mann auf den Tisch gelegt. Dieser überflog das Schreiben.
 
„Hm, Donovan schreibt auch noch etwas von 200 Pfund, die er dem Kapitän dazu übergeben habe. Alles in allem belastend, aber sicher noch kein Beweis.“
 
„Leider nicht. Aber es ist ein Anhaltspunkt.“ Der Australier verstaute das Dokument in seiner Aktentasche.
 
Elk räusperte sich erneut: „Ich äh, ich muß Ihnen etwas sagen, Herr Kollege.“ Zwei Augenpaare sahen sich aufmerksam an. „Albert Donovan war vor einigen Tagen bei mir. Er bat um Rat. Seit einigen Wochen erhält er anonyme Briefe, die seinen baldigen Tod ankündigen. Donovan ist sicher kein leicht zu ängstigender Mensch, aber es gab wohl einige Vorfälle, die ihn dazu gebracht haben, sich an uns zu wenden.“
 
Und der Chefinspektor berichtete seinem australischen Kollegen von den toten Ratten vor Donovans Haus nahe Gerrards Cross  sowie von der Puppe ohne Kopf, die Donovan anonym in sein Büro an der Fetter Lane geschickt worden war. Beide Male hatte ein anonymes Schreiben beigelegen, etwa mit den Worten „Denk an damals! Beichte Deine Sünden“
 
„Ich habe ihm geraten, vorsichtig zu sein und möglichst nicht allein irgendwo hin zu gehen. Ich musste ihm aber auch sagen, dass wir ohne weitere Anhaltspunkte nicht viel tun können.“ schloß der Chefinspektor seine Bemerkungen.
 
In diesem Moment schellte das Telefon. Elk nahm den Hörer von der Gabel und brummte etwas hinein. Dann knurrte er: „Schicken sie ihn rauf. Er kennt ja den Weg.“ Und zu Beechum gewandt: „Wenn man vom Teufel spricht. Albert Donovan gibt sich die Ehre. Er soll ganz aufgelöst sein.“
 
 
 
 
 
2. Kapitel
 
 
 
„Diese Todeanzeige stand heute in der „Times“!“ Der Industrielle und für das Amt des Lord Mayor der City of London nominierte Donovan wedelte mit einem aus der Zeitung herausgerissenen Stück Papier. Er war gut sechzig Jahre alt, mittelgroß und leicht übergewichtig. Listige Äuglein blitzten über der fleischigen Nase und dem kräftigen gespaltenen Kinn. Sein Anzug, von einem der führenden Schneider in Haymarket maßgefertigt, war etwas derangiert, das Einstecktuch drohte aus der Tasche zu rutschen, die Krawatte flatterte über dem Jackett. „Meine Herren, was gedenken Sie gegen diesen Unsinn zu unternehmen?“ Das Stück Zeitung landete krachend vor dem Chefinspektor. Dieser las die Anzeige laut vor: „Mit Trauer verkünden wir die Nachricht vom überraschenden und plötzlichen Ableben des Industriellen Albert Donovan, der in seinem Leben stets rücksichtslos gegen andere gehandelt hat, um selber Macht und Geld anzuhäufen. Er starb am 12. November während des Lord Mayor´s Day. Seine Seele möge in der Hölle schmoren für alles, was er getan hat! Er hat nicht gebeichtet!“ Elk gab das Blatt  dann seinem australischen Kollegen. „Darf ich übrigens vorstellen? Inspektor Beechum von der Polizei Sydney, Albert Donovan.“ Donovan zuckte kurz zusammen, schaute den Polizisten kurz an und wandte sich wieder dem Chefinspektor zu. „Na und. Was gedenken sie zu unternehmen? Wie sieht das aus? Meine Todesanzeige mit Datum von übermorgen steht in der „Times“. Und diese böswilligen Verleumdungen! Was sollen meine Geschäftspartner denken, was die Queen und der Lord Chief Justice?“ Donovan stemmte sich auf den überfüllten Schreibtisch des Yard-Beamten.
 
„Das sollte Ihre geringste Sorge sein, Mr. Donovan.“ ertönte es hinter ihm. Der Industrielle fuhr herum und starrte den Australier mit wachsendem Interesse an. „Warum?“ bellte er.
 
„Weil ich glaube, dass es der Urheber dieser Drohungen ernst meint.“ Beechum beobachtete die Wirkung seiner Worte aus den Augenwinkeln heraus. Dann fuhr er fort: „Wenn sich jemand solche Mühe gibt, ist nicht von einem Scherz auszugehen. Immerhin muß er einiges an Aktivitäten aufbieten, um eine solche Anzeige anonym aufgeben zu können. Und auch die anderen Drohungen sind ja handfest unterfüttert. Sagen Sie“, er schaute den Industriellen aufmerksam an, „warum könnte Ihnen jemand nach dem Leben trachten wollen? Haben Sie Feinde?“
 
„Natürlich! Und wie. Ich bin erfolgreich, seit vielen Jahren wächst mein Geschäft. Das schafft Neider. Und natürlich auch die Konkurrenten, die aufgeben mussten, weil ich zu gut war. Jetzt auch noch die Wahl zum Lord Mayor. Was meinen Sie... Fragen Sie lieber, wen ich nicht zum Feind habe, ha.“ Albert Donovan hielt kurz inne. Er wandte sich wieder dem Chefinspektor zu, sein Gesicht nah am Gesicht seines Gegenüber: „Schützen Sie mich! Ich verlange als Bürger und Steuerzahler allen Schutz, den ich kriegen kann. Tag und Nacht, bis dieser Irre gefasst ist!“
 
 
 
Eine halbe Stunde später saß Chefinspektor Elk allein über seinen Schreibtisch gebeugt und ordnete die Unterlagen im Fall Donovan, wie er ihn schon nannte.
 
Sein australischer Kollege wollte sich von der anstrengenden Flugreise erholen und dann einige Erkundigungen über Donovan anstellen. Elk selber machte sich Gedanken zum Verlauf des Lord Mayor´s Day in zwei Tagen. Wenn die Drohungen ernst gemeint waren, war das Leben des künftigen Lord Mayors insbesondere während des Lord Mayor´s Day in Gefahr. Der Chefinspektor hatte sich eine Übersicht über den Ablauf der Zeremonie verschafft, die er jetzt durchging. Die Lord Mayor´s Show, die traditionelle Prozession am Samstag nach dem 9. November, diente seit dem 13. Jahrhundert der Amtseinführung des neuen Oberbürgermeisters der Londoner City mit viel Pomp und Gloria. Der Lord Mayor fuhr in der über zweihundert Jahre alten vergoldeten Kutsche von der Guildhall über eine festgelegte Strecke zu den Royal Courts of Justice, wo er vor dem Lord Chief Justice und anderen ausgewählten Richtern eine amtliche Erklärung abgab. Die Straßen waren traditionell von Schaulustigen gesäumt, die dem farbenfrohen Spektakel unter Mitwirkung hunderter Teilnehmer in historischen Kostümen, Kutschen, Fanfarenzügen etc. beiwohnen wollten. Albert Donovan unter diesen Bedingungen schützen zu wollen schien beinahe unmöglich, konnte der Täter doch unerkannt in der Menge auflauern und ebenso unentdeckt wieder verschwinden, ehe noch sein Opfer tödlich zusammengebrochen war. Elk schüttelte den Kopf. So würde man nicht weiter kommen.
 
 
 
Während dessen hatte sich der australische Ermittler in seine Pension nahe der Hercules Road begeben, geduscht, ein Sandwich zu sich genommen und starrte auf die Kopie einer alten Liste. Es handelte sich um eine Mannschaftsliste des Frachters „Golden Brigg“, jenes Schiffes, welches der kürzlich in Sydney verstorbene Seemann 1931 als Kapitän befehligte. Einige Namen waren bereits durchgestrichen, hinter einigen hatte jemand mit Bleistift ein Kreuz gemalt. Der letzte noch offene Name lautete Henry Black. Er hatte zur fraglichen Zeit als Koch auf der „Golden Brigg“ gedient und sollte laut der Meldebehörde in Poplar nahe den East India Docks ein Zimmer im Gasthaus „Three Oaks“ bewohnen. Beechum machte sich mittels seines Stadtplanes mit der Gegend vertraut, nahm seine prall gefüllte Aktentasche und verließ die ruhige Pension.
 
Nach wenigen hundert Metern erreichte er Waterloo Station.
 
 
 
Als er nahe den East India Docks wieder auf die Straße trat, war es bereits dunkel. Auch das Stadtbild hatte sich verändert. Graue und schmutzig rote Backsteinfassaden alter, teilweise auch verfallener Häuser prägten die Umgebung. Immer wieder reckten sich alte Hallen und Industriebauten über die kleineren Wohnhäuser. Er überquerte die Poplar High Street und bog in eine kleine Gasse ab. Erste Nebelschwaden zogen von den Docks auf. Die Geräuschkulisse des Hafens klang gedämpft herüber. Die wenigen Gaslaternen brachten kaum Helligkeit in die Straßen; die engen Gassen  mit den zahlreichen Schatten und dunklen Ecken konnten auf eine ängstliche Seele schon furchteinflößend wirken. Auch schienen nicht viele Menschen unterwegs zu sein, obwohl es doch Feierabendzeit war.
 
Im Schatten einer alten, fast verfallen wirkenden Kirche stand die Spelunke mit dem angeberischen Namen „Three Oaks“, denn es war nicht eine einzige Eiche zu entdecken. Gedämpftes Licht fiel durch die verdreckten Scheiben auf den Gehsteig, Musikfetzen aus einem Automaten wehten aus der Tür, die sich kurz öffnete, um einen torkelnden Seemann auszuspeien. Beechum überquerte den kleinen Platz und trat ein.
 
Ein Schwall verbrauchter und rauchiger Luft wehte dem Inspektor entgegen. Wie von ihm getragen umwehte die Musik aus dem Automaten jetzt laut seine Ohren. Er benötigte einen Moment der Orientierung, bis er hinter einigen gut besetzten Tischen und Schwaden aus billigem Tabakrauch die Theke ausmachen konnte und hinter ihr eine dicke, heruntergekommene Frau mit fettigen, grauen Haaren und einer ehemals bunten, inzwischen aber verwaschenen Kittelschürze.
 
„Was gibt’s?“ fragte sie in breitem Cockney-Dialekt. Beechum wies sich aus und erkundigte sich nach Henry Black.
 
„Ach, die Bullen... Geh´n se hoch, erstes Zimmer, laut klopfen. Hört schlecht. Was woll´n se denn? Der tut keener Fliege nichts“
 
Beechum ignorierte die Frau und betrat den Flur. Er stieg die Stufen hinauf, ohne sich nach der grummelnden Wirtin umzudrehen. Mit kräftigem Klopfen verschaffte er sich Gehör. Kurz darauf saß er dem alten Seemann Henry Black gegenüber. Black war klein, dürr, ja fast schon ausgemergelt. Der unstete Blick wanderte von seinem Besucher hinüber zu dem Vertiko mit alten Fotografien, zum Tisch mit dem Portwein und wieder zu seinem Besucher.
 
„Ich habs gewusst“ sinnierte der Alte, griff zu seinem halbvollen Glas Port und kippte den Inhalt hinunter. „Irgendwann fragt einer, ich wusste es!“ Black schenkte sich nach. Sein Gegenüber wartete stumm.
 
„Es war 31 glaub ich, Herbst, ja, genau, so etwa um diese Zeit herum. Wir lagen vor Sydney und luden Wolle und so. Da kam Sam, Sam Whooley, unser Kap`tän, zu mir in die Kombüse. Wir kannten uns gut, fuhren seit Jahren auf demselben Schiff, er als Erster Offizier, dann als Kapt´än , ich als Koch. Kamen aus derselben Gegend in Wales... Nun ja, Sam bat mich, etwas für ihn zu verstecken. Es sei dringend, es ginge um Leben und Tod. Und er stecke in der Klemme, schulde jemandem einen Gefallen, und so.“ Erneut kippte Black den Port hinunter. Beechum meinte, das leise Pfeifen des Windes zu vernehmen, der durch die Ritzen der alten, morschen Fenster pfiff. Alles andere um ihn herum schien zu verstummen, kein anderer Laut drang an seine Ohren. „Er schimpfte auf diesen Bastard, und er flehte mich an, ihm zu helfen.“ Henry Black starrte dem Australier in die Augen und schwieg betroffen.
 
 
 
 
 
Die Gestalt hatte sich hinter den Bretterstapel zurück gezogen, bevor der Mann in den verwaschenen Lichtkreis der einsamen Gaslaterne getreten war. Der Mann, bekleidet mit dunklem Troyer und Pudelmütze, sah sich suchend um. Als er sich die billige Zigarre im Mundwinkel anzündete, konnte die Gestalt hinter dem Holzstapel einen Blick auf das Gesicht des Wartenden werfen. Es war Henry Black, der alte Schiffskoch, der sich erneut suchend umsah. Von der Themse her drang das vom Nebel gedämpfte Plätschern des Wassers herüber, ein Nebelhorn verkündete einsam die Anwesenheit eines größeren Schiffes. Black schwankte ein wenig, als er leicht fröstelnd im Schein der Laterne auf und ab ging.
 
Die Gestalt löste sich leise aus dem Schatten des Holzstapels. Etwas langes und dünnes wurde hochgehoben und auf den wartenden Seemann gerichtet. Beinahe lautlos schoß ein kleiner Pfeil aus dem Blasrohr und traf den alten Schiffskoch von hinten im Nacken. Überrascht griff sich der Sterbende  an die Stelle, welche der Pfeil getroffen hatte, drehte sich langsam um und sah die Gestalt fragend an. Röchelnd stammelte er: „Warum? Warum? Ich habe doch... nie...“ Black krümmte sich, brach wie in Zeitlupe zusammen. Die Gestalt trat an das reglos liegende Opfer heran und entfernte den Pfeil, vorsichtig darauf bedacht, die Spitze nicht zu berühren. Mit wenigen geübten Handgriffen durchsuchte der Mörder die Sachen des Toten, ohne etwas von Belang zu finden. Er zerrte – leise fluchend - den leblosen Körper an das Themseufer heran und stieß die Leiche ins dunkle Wasser.
 
Ohne sich weiter umzusehen, entfernte sich die Gestalt vom Ort des Geschehens und verschwand nach wenigen Sekunden in der Dunkelheit. Lediglich zwei rivalisierende Katzen fauchten sich an, sprangen auf den Holzstapel flitzten lautlos davon.
 
 
 
 
 
3. Kapitel
 
 
 
„Erzählen Sie“ hatte Chefinspektor Elk sein Gegenüber aufgefordert, nachdem beide Männer im Wagen des Yard-Mannes Platz genommen hatten und der graue Vauxhall die Ausfallstraße nach Westen erreicht hatte. Es war erst kurz nach acht Uhr morgens und beide Polizisten auf dem Weg nach Gerrards Cross, wo sich das Anwesen der Familie Donovan befand.
 
Beechum berichtete von seinem abendlichen Gespräch mit dem alten Schiffskoch Henry Black. Nach einigen erklärenden Worten gab er den Inhalt der Unterhaltung wieder. „Black gab zu, dass er im Auftrag des Kapitäns Whooley ein Päckchen verstecken und nach England schmuggeln sollte. Allerdings will er nicht gewusst haben, was sich in diesem Päckchen befand. Sobald die „Golden Brigg“ den walisischen Hafen Port Talbot erreichte, will er das Päckchen an Whooley übergeben haben. Dieser hat ihm wohl 50 Pfund Schweigegeld bezahlt. Seither hätte sich niemand nach dem Verbleib des Päckchens erkundigt.“ schloß der Australier seinen kurzen Bericht.
 
„Und er hatte auch keine Vermutung, was in dem Päckchen gewesen sein könnte?“ hakte Elk nach.
 
„Offensichtlich nicht.“ Beechum verstummte.
 
Der Chefinspektor lenkte den Wagen mit ruhiger Hand über die Western Avenue, während er nachdachte. „Und meinen Sie, dieser Black sagt die Wahrheit? Er könnte ja etwas verschweigen? Vielleicht hat sich irgendwie strafbar gemacht und will sich nicht belasten?“
 
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Er machte den Eindruck eines Mannes auf mich, der mit seinem Leben abgeschlossen hat. Und er sah krank aus... Was hätte er zu verlieren?“
 
Elk nickte langsam. „Hat er gesagt, dass das Packchen von Donovan stammte?
 
Beechum schüttelte den Kopf: „Jedenfalls nicht direkt. Er sagte immer „dieser Bastard“. Ich habe ihn gefragt, ob er Donovan meint, aber er hat weder bejaht noch verneint.“
 
„Wäre auch zu schön gewesen.“ Der Chefinspektor bremste wegen eines abbiegenden Milchtransporters ab, beschleunigte zügig und fragte seinen Beifahrer: „Und wie sind Sie verblieben?“
 
„Ich habe Black geraten, vorsichtig zu sein und zu niemandem ein Wort zu verlieren. Und ich habe ihm angekündigt, dass ich ihn heute zum Protokoll in den Yard holen würde. Es schien ihm nichts auszumachen.“ Beechum starrte auf die Bäume, die jetzt häufiger an ihnen vorbei sausten.
 
 
 
Sie hatten sich anschließend über das weitere Vorgehen im Fall Donovan beraten und beschlossen, das Treffen mit dem bedrohten Industriellen dazu zu nutzen, ihm im Fall der toten Krankenschwester aus Sydney vorsichtig auf den Zahn zu fühlen. Immerhin konnte der Tod dieser Mary Hyde ja durchaus mit den aktuellen Vorfällen in Verbindung stehen.
 
Sie hatten Denham passiert und erreichten ein kleines Waldgebiet namens Duke´s Wood, an welchem sich der Wohnsitz der Donovans befand. Der Wagen rollte an einem Pförtnerhäuschen vorbei, nahm eine leichte Rechtskurve um einem künstlich angelegten Teich und kam vor der ansehnlichen Villa im Tudor-Stil zu stehen.
 
Beim Aussteigen musterten die beiden Männer das prächtige Anwesen aus den Augenwinkeln heraus. Der graue Feldstein kontrastierte gut mit den dunklen Balken der Fachwerkkonstruktion und dem weiß gestrichenen Putz der oberen Wände. Unzählige kleine Zinnen und verschiedenartige Giebel gaben dem Haus etwas unruhiges.
 
Ein Dienstbote in Livree ließ die Polizisten ein und führte sie in den Wintergarten im hinteren Teil des Hauses, in welchem der Hausherr in legerer Bekleidung an einem reichlich gedeckten Frühstückstisch saß.
 
„Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten? Eh, möchten Sie mir vielleicht Gesellschaft leisten?“ Albert Donovan wies mit dem Arm auf die Frühstücksutensilien. Offensichtlich hatte sich seine gestrige Aufregung etwas gelegt.
 
Elk erwiderte: „Eine Tasse Kaffee vielleicht. Danke. Und was die Vorkommnisse anbelangt, da sind wir noch nicht wirklich weiter. Die Anzeige wurde per Bote an die Zeitung übersandt, die Summe lag in bar dabei. Die Schreiben stammen alle von ein und derselben Schreibmaschine, einem älteren Modell, wie sie zu Tausenden verkauft wurden. Solange wir keine verdächtige Maschine finden...“ Elk unterbrach sich, weil der Livrierte mit den Kaffeetassen erschien und diese dann füllte.
 
Der Australier, der den Millionär schon länger unauffällig beobachtete, trank einen Schluck und sagte dann: „Mr. Donovan, könnte es sein, dass Sie eine Mary Hyde aus Sidney gekannt haben?“
 
Der Angesprochene gab sich alle Mühe, keine Regung zu zeigen, als er den Namen vernahm. „Wer? Wie...? Ich glaube nicht...“ Albert Donovan überspielte seine Unsicherheit, wenn er denn unsicher sein sollte, mit einigen Ersatzhandlungen: er nahm sich ein Stück Toast, suchte nach der Butter, griff nach dem kleinen Marmeladentöpfchen und begann mit der Zubereitung seiner Mahlzeit.
 
„Mr. Donovan, wir wissen, dass Sie Miss Mary Hyde im Jahr 1931 mehrere Male in ihrer Wohnung in Sydney aufsuchten, das ist alles in den Untersuchungsprotokollen der Polizei vermerkt.“ Beechum hatte sanft, aber mit Nachdruck gesprochen und sah dem Millionär unentwegt ins Gesicht.
 
„Ach so, ja. Die Mary Hyde...“ Donovan hüstelte verlegen. „Na ja,  dann wird es so gewesen sein. Wissen Sie, ich war damals jung. Und sie hat es mir nicht schwer gemacht. Traurig, traurig alles. Was hat das dieser Sache hier zu tun?“
 
Elk mischte sich in die Unterhaltung ein: „Das hofften wir von Ihnen zu erfahren, Mr. Donovan?“
 
„Von mir?“ Die Scheibe Toast landete wieder auf dem Teller. Der künftige Lord Mayor von London City starrte den Polizisten feindselig mit seinen kleinen Äuglein an: „Ich verbitte mir irgend welche Unterstellungen! Ich hatte mit der Sache nichts zu tun. Das ist amtlich bestätigt. Ich lasse mir nichts anhängen. Ist das eine politische Intrige hier, oder was?“
 
„Aber Mr. Donovan“ beschwichtigte der australische Beamte den aufgebrachten Industriellen. „Bleiben wir bei den Tatsachen. Amtlich bestätigt ist nur, dass man Ihnen nicht nachweisen konnte, etwas mit dem Tod der Mary Hyde zu tun zu haben. Der Beweis der Unschuld sieht anders aus. Und“ Beechum ließ den in Bedrängnis geratenen gar nicht erst zu Wort kommen, „die Hinweise in den anonymen Schreiben weisen auch in die Vergangenheit. „Denk an damals!““
 
Donovan nestelte an seiner Serviette herum, wischte sich über den Mund und sagte dann förmlich: „Meine Herren, wenn Sie keine weiteren wichtige Fragen haben, entschuldigen Sie mich bitte. Nachher findet meine Vereidigung statt. Außerdem habe ich für den morgigen Tag noch viel vorzubereiten. Klären Sie bitte alles andere mit meinem Anwalt, Mr. Amersham. Er ist bereits im Hause, in meinem Arbeitszimmer.“ Donovan schraubte sich aus dem Rattansessel heraus, warf die Serviette auf den Tisch und verließ ohne ein weiteres Wort den Wintergarten. Als die beiden Beamten den Raum verließen, begann der Livrierte wortlos und mit unbewegtem Gesicht, den Tisch abzuräumen.
 
 
 
 
 
Stewart Amersham war Anwalt geworden, weil er seit seiner Kindheit die Gabe perfektioniert hatte, andere ohne deren Wissen manipulieren zu können. Er hatte sich stets durch das Leben hindurch manövriert, ohne irgendwo anzustoßen oder aufzufallen. Sein Äußeres kam ihm dabei zupass: durchschnittliche Größe, unauffälliges Gesicht, dunkelblondes Haar, unstete Augen, die er bei Gelegenheit hinter einer schmalen Brille versteckte, was seiner Erscheinung unberechtigterweise etwas Intellektuelles verlieh. Die Stellung bei Albert Donovan war ein Glücksfall für ihn gewesen. Bereits einige Zeit ohne zahlungskräftige Mandanten, hatte er  schon an seinem Talent zweifeln wollen. Doch nun war er bereits einige Jahre Donovans Rechtsberater und mit dem morgigen Tag würden seine Pläne endlich in Erfüllung gehen. Wenn nichts dazwischen kam!
 
Der Anwalt stand an einem schmalen Stehpult im Alkoven des Donovan`schen Arbeitszimmers und blätterte in geschäftlichen Papieren, als die Eichentür mit einem kräftigen Schwung aufgestoßen wurde und zwei Männer den Raum betraten.
 
„Mr. Amersham? Wir kommen von Scotland Yard. Mein Name ist Elk, das ist Inspektor Beechum von der Polizei in Sydney. Wir würden gern die morgige Zeremonie mit Ihnen durchsprechen. Über die Hintergründe sind Sie ja sicher informiert.“
 
Der Angesprochene blinzelte durch seine goldgefasste Brille und legte die Papiere zur Seite. „Nun gut, hier ist der Plan für die Zeremonie, meine Herren.“ Er suchte im Sekretär nach einer Mappe und gab sie dem Chefinspektor. „Und was kann ich dabei für Sie tun?“
 
 
 
4. Kapitel
 
 
 
Die kaltschneuzige Art, mit der Donovans Anwalt die Bedrohung seines Chefs hinnahm, hatte auf die beiden Beamten schon etwas befremdlich gewirkt. Als sie keine halbe Stunde später in Elks Wagen zurück nach London fuhren, machten sich beide ihre Gedanken dazu. Der Yard-Mann brummte schließlich: „Ein zwielichtiger Kerl, dieser Amersham. Schien ganz froh, uns wieder los zu sein.“
 
Beechum entgegnete: „Nicht viel zwielichtiger als Donovan selbst. Wie konnte der eigentlich zum Lord Mayor ernannt werden?“ „Das Amt ist auch nicht mehr das, was es mal war. Wie überhaupt das Königreich.“ Die Stimme des Chefinspektors klang resigniert. „Donovan tauchte vor vielen Jahren mit Geld hier auf und investierte geschickt. Heute kontrolliert er einige größere Firmen, in der Hauptsache Import-Export. Er hat viel für Wohltätigkeit gespendet, ist im Lion´s Club, seit einiger Zeit Sheriff... Donovan ist nie direkt mit irgendwelchen Skandalen in Verbindung gebracht worden, auch wenn es so manche Gerüchte gab. Nun ja, man kann in niemanden hinein gucken.“ Er beobachtete den Australier aus den Augenwinkeln, aber Beechum ging nicht darauf ein.
 
In diesem Moment klingelte das Funktelefon im Armaturenbrett und Elk meldete sich. Es war die Leitstelle. „Sir? Wir haben soeben eine Meldung erhalten, dass die Leiche eines Mannes in der Themse gefunden wurde. Er wurde noch nicht identifiziert, hatte aber die Visitenkarte von Inspektor Beechum bei sich.“
 
Der Erwähnte zuckte zusammen. „Ist es ein älterer Mann, dünn, klein, spitzes Gesicht, wie ein alter Seemann?“ fragte er laut. Der Polizist in der Leitstelle bestätigte die Angaben. „Dann dürfte es sich um den Schiffskoch Henry Black handeln.“ erklärte der Australier frustriert.
 
Sie ließen sich die genaue Fundstelle durchgeben, Elk schaltete die Sirene an und beschleunigte den schweren Wagen.
 
 
 
Der Fundort war weiträumig abgesperrt. Der Chefinspektor lenkte den Vauxhall an den Rand des kleinen Platzes, schräg gegenüber einem alten Holzstapel, in dessen Schatten die bereits abgedeckte Wasserleiche lag. Bei Tageslicht hatte die Gegend ihren Schrecken verloren, trist überragten ein paar alte, ungenutzte Docks die Backsteinmauern, die den Platz vom Hafengelände trennten. Auf der anderen Seite des Platzes konnte Beechum den Kirchturm ausmachen, in dessen Nachbarschaft sich die Spelunke „Three Oaks“ befand.
 
Polizeiarzt Dr. Fergussen, ein übergewichtiger kleiner Mann mit Nickelbrille, hatte sich aufgerichtet und prustete kurzatmig: „Ich würde sagen, Mord, Chefinspektor. Ertrunken ist der Mann wahrscheinlich nicht. Die typischen Merkmale fehlen. Dafür befindet sich am Nacken ist ein kleiner Bluterguß, als ob er eine Injektion erhalten hätte etwa. Andere Verletzungen sind mit Ausnahme leichter Schürfwunden vorerst nicht auszumachen.“ Dr. Fergussen richtete sich auf – vergeblich – und ließ sein Köfferchen zuschnappen.
 
„Und der Todeszeitpunkt? Gibt es da schon was?“ fragte Beechum und starrte auf die von einer dunklen Plane verdeckte Leiche. „Nun, ich würde sagen, unter Berücksichtigung der Ausprägung der Leichenstarre, der Tod trat so vor etwa 12 bis 14 Stunden ein, also zwischen 22.00 und 24.00 Uhr etwa.“
 
Elk nickte, entließ den Doktor und winkte einen wartenden Constabler heran. „Wer hat ihn gefunden? Gibt es Zeugen? Wurden Anwohner befragt?“
 
Der Beamte erklärte, er selber hätte die Leiche bei seinem Rundgang entdeckt. Sie hatte sich in einem kleinen Wehr verfangen. Zeugen gäbe es bislang keine. Zwei Beamte hätten die Befragung in der Umgebung begonnen, wären aber noch nicht zurück.
 
Elk nickte zustimmend. „Veranlassen Sie, dass alle Berichte umgehend auf meinem Schreibtisch landen. Und begleiten Sie uns ins „Three Oaks““. Zu Fuß bewegten sich die Polizisten zu dem erwähnten Gasthof, der bei Tageslicht noch trister aussah als bei Nacht. Die Wirtin schrie erst Zeter und Mordio, beruhigte sich aber nach einem kräftigen schluck Rum schnell wieder. Sie grummelte nur noch „Wer zahlt mir jetzt die Miete? Wer zahlt jetzt?“ und zog sich resigniert in ihre Stube zurück, nachdem Elk ihr erklärt hatte, Henry Blacks Zimmer würde vorerst untersucht und dann versiegelt werden.
 
 
 
 
 
In dem unordentlichen Zimmer hatten es die Polizisten nicht leicht, den Überblick zu bewahren. Beechum sah sich die Bilder auf dem Vertiko an, zog die Schubladen auf und wühlte in den Sachen des alten Seemannes. Unter leicht vergilbten Hemden entdeckte er einen vielleicht A5 großen Umschlag, den er in die Jackentasche schob, ohne seine Durchsuchung zu unterbrechen.
 
„Sie haben was gefunden?“ brummte es hinter ihm. Chefinspektor Elk, gerade einen Seesack ausschüttelnd, sah ihn fragend an. Der Australier nickte. „Scheint so. Schauen wir uns nachher an.“
 
Die Durchsuchung des Raumes erbrachte ansonsten nichts Neues. Offensichtlich hatte der alte und kranke Henry Black keinen Kontakt zu seiner Umwelt gehabt und auf seinen nahen Tod gewartet. Ein ärztlicher Befund bescheinigte ihm Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Auch die Befragung der Wirtin blieb ohne weitere Ergebnisse. Ja, Black sei ein ruhiger Mieter gewesen, habe pünktlich gezahlt, sei einem Schluck Portwein nicht abgeneigt gewesen. Er hätte bis auf den anwesenden Inspektor hier auch keinen Besuch empfangen, und es war schon verwunderlich, dass er gestern spät abends noch ausgegangen sei. Nein, sie wäre dann schlafen gegangen, immerhin haben ihre Mieter einen Schlüssel und sie sei ja kein Kindermädchen.
 
Sie verließen zu dritt den Gasthof und Elk erinnerte den Constabler nochmals an die Resultate der Befragungen. Dieser eilte zu seinen Leuten, während die beiden Kriminalisten schon im Wagen saßen und gen Scotland Yard fuhren.
 
Joe Beechum zog den Umschlag aus Blacks Zimmer aus der Tasche und öffnete ihn vorsichtig. Er enthielt lediglich ein Blatt, eine amtliche Bescheinigung offenbar.
 
„Was ist es?“ ließ sich Elk vernehmen, der sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Beechum starrte auf das Blatt. „Ich werd daraus nicht schlau. Es scheint ein amtliches Schreiben zu sein, Grafschaft Pembrokeshire.“ Er sah nach links zu Elk hinüber, der  sich nach wie vor auf den dichten Straßenverkehr konzentrieren musste. „Es geht um ein Kind, ein elternloser Säugling, der im Januar 1932 im kirchlichen Waisenhaus Haverfordwest abgegeben wurde.“ Der Inspektor schwieg, während Elk brummte: „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Eine neue Spur? Oder eine Sackgasse?“
 
 
 
5. Kapitel
 
 
 
Die eigentliche Ernennung zum Lord Mayor hatte Albert Donovan vor einer halben Stunde  hinter sich gebracht und war mit seinem Anwalt gerade in seinem Büro in der Fetter Lane eingetroffen, wo er ein erneutes anonymes Schreiben in seinem Büro vorfand. Stewart Amersham schäkerte gerade mit einer hübschen Praktikantin im Vorzimmer, als er den lauten Schrei seines Chefs  vernahm. Er stürzte in das Büro seines Arbeitgebers und schrak zurück. Der Millionär hockte hinter seinem breiten eichenen Schreibtisch, bleich, zitternd, den Brief anstarrend, der wie eine schweigende Bedrohung vor ihm lag. Als der Anwalt das Schreiben an sich nehmen wollte, schnappte sich Donovan das Blatt Papier mit einer behänden Bewegung und stopfte es in die Tasche des schwarzen Jacketts. „Verschwinden Sie! Raus! Lassen Sie mich allein!“ Er war aufgesprungen und drängte den überraschten Anwalt aus dem Büro. Dann verschloß er die Tür hinter ihm und ging in die Hocke. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er schnappte nach Luft,  zog die Krawatte auf, fahrig suchten seine Finger nach dem Hemdknopf, doch die Luftknappheit ließ nicht nach. Albert Donovan sank zu Boden und blieb reglos an der Tür liegen.
 
Steward Amersham starrte nachdenklich auf die verschlossene Tür zum Nebenraum und fragte die immer noch verstörte Praktikantin nach dem Überbringer des Briefes. Die konnte sich nur noch daran erinnern, dass ein Botenjunge das Schreiben am späteren Vormittag überbracht hatte, ohne auf Trinkgeld zu warten.
 
Als der Anwalt sein eigenes Büro betreten hatte, setzte er sich grübelnd an seinen Arbeitsplatz. Was hatte das alles zu bedeuten? sinnierte er. Gefährdete hier irgend etwas seine Pläne? Das konnte er nicht zulassen! Gab es etwas, was seinen Chef belasten konnte? Und wenn, dann wollte er selber derjenige sein, der das belastende Material in den Händen hatte!
 
Entschlossen stand er auf, griff nach seinem Mantel und verließ zügig das Bürogebäude.
 
 
 
Die beiden Polizisten saßen in Elk´ Büro und starrten auf das Telex, welches sie aus Haverfordwest erhalten hatten. „Wie passt das alles zusammen?“ Beechum schüttelte den Kopf.
 
„Lassen sie uns mal versuchen, einen zeitlichen Ablauf zu konstruieren, Herr Kollege“ begann Elk. „Mary Hyde verschwindet 1931 in Sydney für mehrere Wochen – hat sie vielleicht heimlich entbunden? Taucht dann wieder auf und wird im November tot im Hafenbecken gefunden. Die Ermittlungen verlaufen im Sande, auch weil es keinen Beweis für ein Verbrechen gibt. Etwa zu dieser Zeit veranlasst Albert Donovan, der zu Mary Hyde in, sagen wir, körperlicher Beziehung stand, den Schiffskapitän der „Golden Brigg“, ein Päckchen nach England mitzunehmen. Dieser übergibt das Päckchen an den Schiffskoch und Kumpan Henry Black, der es nach der Ankunft des Schiffes in Port Talbot wieder dem Kapitän übergeben haben will. Wieso der Koch? Der Kapitän hätte doch leicht ein Päckchen verstecken können ohne einen Mitwisser? Weil der Koch den Säugling versorgen, ernähren musste! Lt. Schifffahrtsregister kam die „Golden Brigg“ am 15. Januar 1932 in Port Talbot an. Am 17. Januar nun vermeldet die Verwaltung des Kinder- und Weisenhauses Haverfordwest die anonyme Abgabe eines vermutlich zwei Monate alten Kleinkindes unbekannter Herkunft. Die Umstände des Auffindens lassen darauf schließen, dass der Säugling eine Seereise hinter sich gebracht haben könnte. Er war z.B. in Schiffsleinen gewickelt. Und das Weisenhaus ist keine zwei Stunden von Port Talbot entfernt“
 
„Klingt das jetzt nicht etwas zu stringent“ versuchte Joe Beechum einzuwenden. „Es könnte zwar so gewesen sein, dass Mary Hyde 1931 ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Aber wir haben keinen Beweis dafür, ebenso wenig dafür, dass es sich bei dem ominösen Päckchen um dieses Kind gehandelt haben könnte.“
 
Elk räusperte sich. „Nun, Herr Kollege, die Verbindung haben Sie ja selber entdeckt. Die Kopie eines amtlichen Schreibens der Einwohnerbehörde in Haverfordwest, welche etwa dieselben Angaben enthält, die wir heute erhalten haben. Diese Kopie, angefertigt vor gut zehn Jahren und angefragt von Henry Black, haben Sie ja selber in Blacks Unterlagen gefunden. Vor zehn Jahren musterte der Koch endgültig ab, zu dieser Zeit erfuhr er, dass er unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Da bekam er ein schlechtes Gewissen, er erkundigte sich, was aus dem „Päckchen“ geworden war.“
 
Joe Beechum nickte. „Das klingt alles logisch, aber beweisen lässt es sich leider nicht. Wir wissen ja nichts Genaues über das Kind. Aus den Unterlagen geht nicht mal hervor, ob es ein Junge oder Mädchen war, im Weisenhaus erhielt es den Namen Kyle, der beides bedeuten kann. Und als Kyle Canvas, wie man das Findelkind bezeichnenderweise amtlich nannte, achtzehn Jahre alt wurde, verließ er / sie das Heim, ohne sich irgendwo anzumelden.“ Der Australier schien zu resignieren. Doch Elk ließ nicht locker: „Dann rufen Sie dort an.  Vielleicht erinnert sich jemand an Kyle Canvas, oder es gibt Jahrgangsfotos im Archiv des Hauses. Das ist eine vielversprechende Spur, die erste überhaupt. Die gebe ich so schnell nicht auf!“ Er schlug mit der Hand so laut auf den Schreibtisch, daß Beechum zusammen zuckte.
 
 
 
Der Mann schlich durch den hellen Flur und sah sich um, ehe er leise die schwere Tür zum Arbeitszimmer Albert Donovans öffnete. Beinahe geräuschlos schloß er sie hinter sich und eilte auf den großen Schreibtisch zu. Er begann systematisch damit, die Schubladen von oben nach unten zu durchsuchen. Die meisten Unterlagen legte er sofort beiseite, ohne sie wirklich zu lesen. Leicht nervös nestelte er an einer verschlossenen Lade. Mit einem heftigen Ruck brach er das lausige Schloß auf und starrte hinein. Leer! Warum verschloß jemand eine leere Schublade? Er tastete den hinteren, für das Auge verdeckten Teil des Holzes ab. Ja! Da war etwas! Ein Schlüssel, am Holz befestigt. Rasch löste er den kleinen Schlüssel vom Holz und ließ ihn in die Rocktasche gleiten. Notdürftig machte er das Schubfach wieder zu. Den Schlüssel hatte er rasch als Safeschlüssel erkannt. Der Millionär hatte seinen Wertschrank hinter einem „Ahnenporträt“ versteckt, welches zu seiner Rechten an der Wand neben dem Alkoven mit seinem Sekretär hing. Amersham schlich sich zu dem Bild, tastete nach dem verborgenen Scharnier und klappte das Ölgemälde dann ohne Probleme zur Seite. Den Safe hatte er bereits oft gesehen, aber noch nie war es ihm möglich gewesen, einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Immer hatte Donovan die Tür verschlossen, sobald er das Arbeitszimmer betrat. Nervös zog er den Schlüssel aus der Jackentasche und führte ihn in die Öffnung. Vorsichtig drehte er den Schlüssel und registrierte erleichtert, dass das Schloss nachgab. Ein leises Klicken verriet ihm, dass der Safe jetzt offen war. Ein Blick noch zur Tür, dann zog Stewart Amersham an dem metallenen Griff und blickte in das Innere des Geldschrankes. Das Bargeld interessierte ihn nicht besonders. Ihm hatte es ein vergilbter Ordner angetan, den er aufschlug und die Seiten mit schnellen Blicken überflog. Ein hässliches Grinsen umspielte seinen Mund. Na also, das war doch etwas! Der Alte hatte gehörig Dreck am Stecken! Nun, dieses Wissen würde er zu gegebener Zeit ausspielen. Er w! ollte de n Safe gerade verschließen, als er vom Fenster her ein Geräusch vernahm. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der schwere Vorhang leicht bauschte, dann nahm er einen Schatten war.
 
 
 
 
 
 
 
„Mein lieber Chefinspektor Elk“ hub Sir John an und schraubte sich aus seinem großen Ledersessel. „Ja glauben Sie denn, bei diesen vagen Hinweisen kann ich die ganze City abriegeln? Oder gar die Lord  Mayors Show absagen? Also ehrlich, was sind denn das für Sachen?“ Der Chef der britischen Polizeibehörde fuhr sich mit einer Hand über das schüttere Haar, mit den anderen nahm er die schwere Brille ab und starrte dann durch sie hindurch auf den Kriminalinspektor, der mit Hut und Mantel in seinem Büro stand. In dieser Perspektive wirkte Elk ganz klein. Sir John schmunzelte, dann räusperte er sich und erklärte: „Die City Police ist informiert und in erhöhter Alarmbereitschaft. Ein großes Kontingent Einsatzkräfte ist sowieso zusätzlich unterwegs. Sie, mein lieber Elk“ Sir John beäugte seinen erfahrensten Beamten streng, „begleiten den Lord Mayor auf der gesamten Strecke und lassen ihn nicht aus den Augen!“
 
Chefinspektor Elk versuchte unbeteiligt zu wirken und betrachtete die dunkle Eichenholztäfelung an der Wand hinter seinem Vorgesetzten mit größtmöglichem Interesse. So etwas Ähnliches hatte er erwartet. Sir John war näher an den Kriminalinspektor herangetreten und fragte leise: „Und sagen Sie, ist an den anonymen Vorwürfen etwas dran? Hat dieser Donovan etwas mit dem Tod dieser...dieser, na Sie wissen schon, zu tun?“
 
„Mary Hyde, Sir. Es sieht so aus, obwohl leider endgültige Beweise fehlen, Sir. Aber unser australischer Kollege scheint fest davon überzeugt zu sein.“
 
„Eh, wo ist dieser, dieser, na sie wissen schon, eigentlich?“
 
Elk sah kurz auf seine Uhr und meinte: „Inspektor Beechum müsste eigentlich gleich hier sein, Sir.“
 
Die Tür wurde aufgerissen und Joe Beechum stürmte herein. Hinter ihm kam Sir Johns hübsche dunkelhaarige Sekretärin in das große Büro des Yard-Chefs. „Entschuldigen Sie, Sir John, er ist einfach...“ „Schon gut, Miss Finley, bringen Sie uns doch einen Tee“ wiegelte Sir John väterlich ab und begrüßte den Besucher: „Sie sind also Inspektor, eh, Beechum aus Sydney. Willkommen im Yard!“
 
Der Begrüßte nickte kurz, sah zu seinem Kollegen herüber und begann: „Ich habe Neuigkeiten im Fall Donovan. Die Beamten in Haverfordwest bestätigen insoweit unsere Erkenntnisse, dass es einen Säugling dieses Namens gab, der Anfang 1932 als Findelkind in das Weisenhaus gekommen ist. Die Mitarbeiter werden im Archiv nach Unterlagen oder Bildern suchen, aber das kann dauern. Laut Melderegister gibt es einen Paul Canvas, der 1951 aus Südafrika nach Manchester gezogen ist. Dieser Canvas ist angeblich 1933 geboren, aber solche Angaben lassen sich möglicherweise auch fälschen. Es ist der einzige Canvas auf der gesamten britischen Insel, von einem dreiundachtzigjährigen Vikar in St. Mary Mead abgesehen.“ Beechum griff in sein Jackett und zog ein Schreiben hervor. „Dies habe ich soeben von Dr. Fergussen aus der Gerichtsmedizin erhalten. Der Schiffskoch Henry Black starb an einem bisher unbekannten Gift, welches die Lähmung der Atemwege zur Folge hat. Es wurde offensichtlich über eine Einstichstelle im Nacken des Opfers injiziert. Fergussen hofft, durch weitere Untersuchungen Hinweise auf die genauere Herkunft des Giftes zu erhalten.“
 
Inspektor Elk griff nach dem Schreiben, warf einen Blick darauf und reichte es an den fragend blickenden Sir John weiter.
 
„Wenn ich hinzufügen darf“ Beechum sah zu beiden Yard-Leuten herüber, „solche Gifte werden von einigen afrikanischen Buschstämmen verwendet. Vielleicht ist dieser Paul Canvas eine heiße Spur?“
 
„Verhaften!“ rief Sir John erregt, „gleich verhaften! Gefahr im Verzug, Staatsnotstand oder so. Veranlassen Sie alles, Elk. Und denken Sie daran, bei Erfolg ist Ihre Ernennung zum Kommissar nur noch eine Formalität!“ Als Beechum den Raum bereits verlassen hatte, beugte sich Sir John zu seinem erfahrenen Beamten und raunte ihm zu: „Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesem, eh, na Sie wissen schon, der geht voran. Sie sind etwas träge geworden, mein lieber Chefinspektor.“ Elk hielt eine Hand an sein Ohr und fragte: „Wie belieben, Sir?“ und verließ ruhigen Schrittes das Büro, als Miss Finley mit dem Tee erschien. Sie schien verärgert, aber Sir John tröstete sie: „Setzen Sie sich, Kindchen, trinken wir beide eben allein den Tee, nicht war?“ Er zwinkerte ihr vertraulich zu.
 
 
 
6. Kapitel
 
 
 
„War das Albert Donovan am Telefon?“ fragte Beechum seinen Londoner Kollegen, als dieser den Hörer auf den Apparat gelegt hatte.
 
„Ja, er hat uns darüber informiert, dass sein Anwalt, dieser Stewart Amersham, verschwunden ist und mit ihm Bargeld in Höhe von ca. 10.000 Pfund.“ Elk starrte auf das Telefon. „Als ob nicht alles schon kompliziert genug wäre.“
 
„Ob dieser Amersham etwas mit den Drohungen gegen Donovan zu tun hat?“ mutmaßte der Australier.
 
„Wer weiß? Wir lassen ihn zu Fahndung ausschreiben und warten ab. Mehr können wir da nicht tun.“ Die Beamten saßen in Elks Büro, welches Dank der untergehenden Sonne im Dämmerlicht versank und eine friedliche Atmosphäre ausstrahlte, die es eigentlich so nicht gab. Elk griff erneut zum Hörer und veranlasste die sofortige Festnahme von Paul Canvas in Manchester sowie dessen rasche Überstellung an den Yard. Dann meinte er: „Wir sollten für heute Feierabend machen, Herr Kollege. Morgen wird ein harter Tag! Wir sprechen morgen früh den Ablauf durch. Ab 11.00 Uhr begleite ich Donovan und Sie halten sich unauffällig im Hintergrund bereit. Denn an Paul Canvas als Täter kann ich nicht wirklich glauben. Oder was meinen Sie?“ Elk fixierte den australischen Polizisten gründlich.
 
„Nun, ich würde es nicht ausschließen, es passt gut zusammen!“
 
„Genau“ meinte der Chefinspektor müde, „es passt zu gut zusammen“.
 
 
 
Der 12. November 1966 begann wie viele Novembertage in London: mit Nebel und kühlen Temperaturen. Bereits früh waren die Straßen gefüllt von Leuten, die als Statisten und Teilnehmer der Prozession auf dem Weg zu ihren Stellplätzen waren. Viele waren schon in ihre traditionellen Kleider gehüllt und erfüllten die Innenstadt mit Farbe und Leben.
 
Viel hatte Inspektor Elk dafür nicht übrig, als er dem Bus entstieg und die wenigen Schritte zum Yard-Gebäude tat.
 
Kaum in seinem Büro angekommen, wartete schon ein Sergeant mit der Nachricht auf ihn, dass man Paul Canvas in Manchester nicht angetroffen habe, eine Fahndung sei eingeleitet worden. Eine sofortige Befragung der Nachbarn und Kollegen hatte nichts erbracht, der Mann sei ein Einzelgänger gewesen, habe momentan Urlaub und sei ohne Nachsendeadresse verreist. Also blieb diese Spur zumindest offen, resümierte der Inspektor.
 
Als Joe Beechum den Raum betrat, fand er den Kollegen über eine Liste gebeugt, welche die wichtigsten Stationen der heutigen Parade umfasste. Sie traten an die extra an die Wand gehängte Übersichtskarte der City:
 
„Es beginnt punkt 11.30 Uhr am Mansion House, wo sich der Zug in Bewegung setzt. Über Poultry und  Cheapside geht es dann zu St. Pauls, wo Donovan um 12.20 Uhr, also etwa 20 Minuten nach der Spitze der Prozession, die Kathedrale durch den Westportikus betritt, um vom Bischoff von Canterbury begrüßt zu werden. Anschließend geht es über Ludgate, Circus und Fleet Street zu den Royal Courts of Justice, wo ihm die offiziellen Rollen überreicht werden. Das dauert eine Stunde etwa. Danach geht es via Norfolk Street und Victoria Embankment zurück ins Mansion House. Es ist schier unmöglich, alles zu überwachen. Was meinen Sie, Beechum, wo schlägt der Täter zu?“
 
„Nun, das ist wirklich schwer, Herr Kollege. Ich kenne mich zu wenig aus in der Stadt, um das einzuschätzen. Viel Zeit hat der Täter am Mansion House, wo sich der Zug sammeln muß. Dort könnte er in Ruhe den besten Moment abwarten, weil Donovan dort lange auf einer Stelle steht. Der nächste Halt, St. Paul, ist sicher auch möglich. Wenn der Täter sich nicht mit einem Trick Zugang zum engen Umfeld des Opfers verschaffen kann, wird er möglicherweise von einem Dach aus auf sein Opfer mit einem Gewehr mit Zielfernrohr schießen. Das wäre vor St. Paul sicher möglich.“ referierte Joe Beechum, obwohl er selber nicht ganz überzeugt wirkte. Sie sahen sich das Signalement des Verdächtigen Kyle alias Paul Canvas´ an und ließen die Beschreibung auch an alle Dienststellen weiterleiten.
 
Beide Beamte sprachen noch einige Varianten durch, wollten sich allerdings auf keine final sichere Variante festlegen. Beechum würde also ab 12.00 Uhr im Hintergrund unauffällig den Zug begleiten, während sich Inspektor Elk direkt im Gefolge des neuen Lord Mayor aufhalten und einen möglichen Attentäter dort erkennen sollte. Alle Polizisten im Bereich der Veranstaltung waren entsprechend instruiert worden. Es konnte losgehen.
 
Beechum war schon voraus zum Wagen geeilt und  Elk stapfte bedächtig die Treppe hinunter, als ihm Dr. Fergussen über den Weg lief.
 
„Ah, Inspektor, schön, dass ich Sie treffe. Wollte gerade zu Ihnen, spart mir das weitere Treppensteigen“ Er schnaufte schon beängstigend. „Das Gift, das den alten Schiffskoch getötet hat, stammt wahrscheinlich von einem Eingeborenenstamm von den Tonga-Inseln. Hatte ja schon grob in Richtung Südsee gedacht und Ihnen mitteilen lassen. War gestern Abend noch in der Universitätsbibliothek und habe die einschlägige Literatur befragt. Hoffe, das bringt Sie weiter?“
 
Der Inspektor, in Gedanken schon bei der Prozession, nickte und rief dem stehen gebliebenen Polizeiarzt nach: „Ja, Danke. Legen Sie den Bericht doch bitte auf meinen Schreibtisch.“
 
Dr. Fergussen schüttelte ein wenig den Kopf und musterte die noch vor ihm liegenden Stufen.
 
 
 
Albert Donovan war kaum wieder zu erkennen: das prächtige Gewand des Lord Mayor kleidete ihn außerordentlich vorteilhaft. Kleider machen doch Leute, dachte Kriminalinspektor Elk, auch wenn dahinter nicht viel Ehrenvolles steckte. Der neu ernannte Lord Mayor begrüßte den Yard-Beamten nachsichtig: „Gibt es etwas Neues von Amersham oder dem Briefeschreiber? War er es gar selber?“ fragte er, während er an der goldenen Amtskette nestelte.
 
„Bedaure, Mr. Donovan“ Elk verkniff sich die offizielle Anrede Lord Mayor, was dieser finster bemerkte, ohne darauf einzugehen.
 
„Nun gut, was habe ich anderes erwartet. Ich gehe davon aus, dass Sie für den Schutz meines Lebens einstehen werden, Herr Inspektor. Sir John hat mir persönlich versichert, Sie seinen sein bester Mann. Sollt er sich irren, wird das persönliche Konsequenzen für Sie haben!“
 
Für Sie aber auch, dachte Elk gehässig und brummte: „Wie belieben?“
 
Der Würdenträger winkte resigniert ab und drehte sich zu dem noch geschlossenen Altarspiegel. „Wo bleibt mein Diener!“ rief er laut. Plötzlich hielt er inne. Er hatte einen Flügel des Spiegels aufgeklappt und starrte auf die Worte, die dort in blutroten Buchstaben aufgemalt waren: Mörder! Bereue, beichte, stirb!
 
 
 
Der Zug setzte sich Punkt 12.00 Uhr in Bewegung. Die Schottische Garde bildete traditionell die Spitze, gefolgt vom Assistent Commissioner der City of London. Überall an den Straßen hatten sich Spaliere von Menschen gebildet, die dem Lord Mayor die Ehre erweisen oder einfach einen guten Blick auf den farbenfroh gestalteten Umzug erhaschen wollten.
 
Der Frühnebel war nahezu verschwunden, einzelne Sonnenstrahlen drangen bis in die City vor und gaben dem Festumzug etwas Heiteres.
 
Einzig der Lord Mayor und Kriminalchefinspektor Elk konnten den Umständen nichts Positives abgewinnen. Donovan selber hatte sich beruhigt, nachdem er Zeter und Mordio schreiend durch die Amtsräume gelaufen war und jeden Diener persönlich befragt hatte, ob dieser eine verdächtige Person bemerkt hätten. Aber außer der Polizei und den Angestellten des Mansion House war der Dienerschaft niemand begegnet.
 
Wutentbrannt und aufgewühlt eilte Albert Donovan hinunter, um sich in den Festumzug einzureihen, gefolgt von einem sich prüfend umschauenden Inspektor Elk.
 
Es war 12.20 Uhr und die Kutsche des Lord Mayor setzte sich in Bewegung. Elk ging inmitten festlich gekleideter Bediensteter nebenher und versuchte dabei, die Umgebung im Auge zu behalten.
 
 
 
Etwa zu dieser Zeit hatte Joe Beechum die St. Pauls Kathedrale erreicht, wo der Zug das erste Mal halten sollte. Da die Zielperson hier die Kutsche verlassen und über den Platz zu den Stufen des Portals schreiten musste, konnte dies ein potentieller Anschlagsort sein. Er zog aus seiner dicken Aktentasche das von Sir John unterschriebene Papier, welches ihm Zutritt zu allen Sicherheitsbereichen gewährte und konnte ungehindert die Absperrung überwinden. Kritisch musterte er die umliegenden Gebäude, die ein eindrucksvolles Ensemble viktorianischer Baukunst darstellten. Dank seiner Recherchen war ihm das Umfeld inzwischen vertraut. Mit schnellen Schritten betrat er die Kathedrale. Das festlich geschmückte Kirchenschiff übte einen eigentümlichen Reiz auf den Australier aus. Er bekreuzigte sich und begann dann, seine Vorbereitungen zu treffen.
 
 
 
...


Wie es weitergeht, ob der geheimnisvolle Todesbote sein Ziel erreicht und welches dunkle Geheimnis Albert Donovan umgibt, all das kann man nachlesen bei www.libri-amici.com (Download-Angebot) oder Hören unter www.soforthoeren.de (Download-Angebot).

Diese Geschichte wird gerade von dem jungen hörbuch-Label hms audio vertont und soll ab September zum download bereit stehen. Ich habe an der Geschichte noch etwas bebastelt und hoffe, es gefällt...Thorsten Wirth, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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