Helmut Wurm

Sokrates und der alte Wandervogelführer Hans Breuer

Sokrates sitzt im Sommer 2008 zusammen mit dem Wandervogelführer Hans Breuer auf einer Schönwetterwolke, die hoch am Himmel langsam dahin gleitet. Beide lassen ihre Beine vom Rand der Wolke herunter baumeln und betrachten die schöne sommerliche Welt unter ihnen. Sie gleiten gerade mit einem leichten Wind über Mitteleuropa, können aber am Horizont auch noch bis nach Griechenland und Skandinavien schauen. Hans Breuer hat neben sich seine Gitarre und ein großes, fremdartiges Fernrohr liegen. Abwechselnd klimpert er ein paar Volkslieder oder richtet sein Fernrohr auf irgendeinen Teil der Welt unter ihnen. Dabei macht er aber kein vergnügtet Gesicht, sondern brummt ständig missmutig etwas vor sich hin. Sokrates sitzt schon eine Weile schweigend daneben.

(Jetzt ist es aber notwendig zu erklären, wie die Beiden auf diese Wolke kommen. Das ist leicht eingeschoben, dauert aber doch etwas länger:

Nach dem Tode des Sokrates durch den Schierlingsbecher – ein echter Justizskandal - hatte der für ihn damals zuständige Gott Apollon in der Ratsversammlung der Götter auf dem Olymp den Antrag gestellt, Sokrates wegen seiner unbestreitbaren Verdienste die Unsterblichkeit zu verleihen, was auch einstimmig angenommen wurde. Nur Herakles hatte sich der Stimme enthalten, denn er hatte zu seinen Lebzeiten in der Schule immer etwas Schwierigkeiten gehabt, aber da er als Halbgott nur eine beratende Stimme hatte, fiel seine Enthaltung nicht weiter ins Gewicht.

Aber Sokrates konnte es im Olymp auch nicht sein lassen, einzelne Götter in kritische Gespräche zu verwickeln, wenn sie nach seiner Meinung nicht ganz richtig gehandelt hatten - und die griechischen Götter handelten manchmal bekanntermaßen auch menschlich-unvoll-kommen. Das wurde nicht immer freundlich und verständnisvoll aufgenommen. Wenn er also den Kriegsgott Ares z. B. manchmal fragte, ob er diesen oder jenen Streit nicht besser hätte verhindern können, oder wenn er die Göttin der Schönheit Aphrodite fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, diesen oder jenen Helden nicht zu umgarnen, weil ja doch kein Mann ihrer Schönheit widerstehen könne, dann gab es bei diesen Göttern oft missmutige Antworten statt Nachdenken.

Und um weiteren Streit zu vermeiden, empfahl Zeus Sokrates, doch besser als Unsterblicher auf die Welt zurück zu kehren und dort unter den Menschen das Nachdenken zu fördern, denn die hätten es notweniger als die griechischen Götter, die es, so fügte Zeus im Vertrauen hinzu, manchmal in der Tat auch nötig hätten. Das wurde in einem kurzen Vertrag wegen des seltenen Vorkommens solcher Angebote sicherheitshalber festgehalten.

Dieses längere Gespräch des Zeus mit Sokrates wäre es übrigens wert, für sich alleine schon einmal mitgeteilt zu werden, denn es kennzeichnete anschaulich die griechische Götterwelt. Aber das kann ja ein anderes Mal nachgetragen werden.

Sokrates nahm das Angebot natürlich sehr gerne an und seit dieser Zeit weilt er wieder auf der Erde, mal offen als Sokrates, mal unerkannt als unauffälliger alter Mann, und verwickelte die Menschen in Gespräche, die übrigens nicht jedem angenehm waren. Aber wem ist schon Selbstkritik und Nachdenken über Unangenehmes immer angenehm? So wird es auch auf das hier mitgeteilte Gespräch vermutlich unterschiedliche Reaktionen geben – je nach dem Grade der möglichen Selbstkritik.

Als dann der griechische Himmel später geschlossen und vom christlichen Paradies übernommen wurde, wurde auch die Unsterblichkeit des Sokrates und der spezielle Vertag des Sokrates mit übernommen und auf unbegrenzte Zeit verlängert. Denn auch Petrus war unsicher, ob die bohrenden Nachfragen des Sokrates nicht doch manchen Heiligen in Verlegenheit bringen könnten. Er stimmte deswegen dem dauerhaften Rückkehrrecht des Sokrates ebenfalls zu – auch im christlichen Himmel eine Ausnahme.

Gelegentlich steigt Sokrates auf einen höheren Berg und hält eine Wolke an – die Erlaubnis und Fähigkeit dazu ist in einer Ergänzung zu seinem Vertrag ausdrücklich festgehalten - um den Menschen von höherer Warte aus zuzusehen und sich dann zwischen Himmel und Erde auf neue Gespräche vorzubereiten und zu freuen.

Diesmal hatte Sokrates auf einer Wanderung im Taunus den Großen Feldberg erreicht und Lust darauf bekommen, auf einer Wolke bis in den Harz zu segeln und sich dort unter die Menschen zu mischen. So hatte er kurzerhand auf dem Gipfel eine tief ziehende Schönwetterwolke angehalten und sich darauf geschwungen. Sokrates hatte also einen Wolkentramp vor. Gerade, als er es sich in dieser weichen Wolke bequem gemacht hatte, bemerkte er, dass er nicht alleine war. Neben ihm saß ein relativ junger Mann in einer typischen Wanderkleidung um 1900, mit einem großen Hut auf dem Kopf und einer Gitarre und einem merkwürdigen Fernrohr neben sich. Aber soweit erst einmal die Erklärung, wie Sokrates auf die Wolke kam.

Wie kam nun Hans Breuer auf diese Wolke? Als der bekannte Wandervogelführer Hans Breuer im unsinnigen 1. Weltkrieg – fast alle Kriege sind unsinnig - als Arzt durch eine Granate verschüttet wurde, gab es keine Einwände, dass er wegen seiner Verdienste um das Singen und den Wandervogel nicht sofort in den Himmel konnte. So wanderte er nun durch das Paradies und saß als junger Mann mit seiner Gitarre dabei, wenn die Engel und die Heiligen zu Harfenbegleitung und in Choralform von Gottes Schöpfung sangen und deren Schönheit priesen.

Aber regelmäßig wurde ihm das zu abstrakt und er schmetterte dann ein schönes Wanderlied dazwischen oder erzählte von der Schönheit seiner Wanderungen auf der Erde. Die Engel und Heiligen räusperten sich zwar jedes Mal ermahnend, da aber Hans Breuer damit nicht gegen die Paradies-Ordnung verstieß, sondern nur auf einen Teil von Gottes schöner Schöpfung aufmerksam machte, fuhr man dann im allgemeinen Choralsingen weiter.

Aber irgendwann tat Petrus diese Sehnsucht des Hans Breuer nach seinem geliebten Wandervogelleben doch leid und er erlaubte ihm, sich gelegentlich auf eine Wolke zu setzen und die Welt von oben herab mit einem Fernrohr zu betrachten, die alten Wanderwege mit dem Glas abzusuchen und zu schauen, was die späteren Wandervögel so trieben, und natürlich auf dieser Wolke ungehört aus seinem Liederbuch, dem Zupfgeigenhansl, nach Herzenslust zu singen. Dafür solle er dann die Harfenmusik und die Choräle im Himmel still ertragen.

Es ist verständlich, dass der Heidelberger Pachant Hans Breuer auf dieses Angebot gerne einging und so saß er heute wieder einmal auf einer Wolke, genauer auf eben dieser Wolke, die Sokrates angehalten hatte)

Die beiden begrüßten sich kurz mit Hallo, erinnerten sich an ein gemeinsames Gespräches im Heidelberger Klingenteich anlässlich der Gestaltung des Zupfgeigenhansl’s – das ebenfalls Wert wäre, einmal mitgeteilt zu werden - und saßen dann eine Weile still auf der Wolke, um die schöne Welt an diesem schönen Sommertag unter sich vorbei gleiten zu sehen. Nur das regelmäßige unzufriedene Brummen von Hans Breuer störte etwas. Sokrates fragt ihn deswegen nach einer Weile.

Sokrates: Lieber Hans, weshalb brummst du denn dauernd vor dich hin? Das passt doch gar nicht zu dem schönen Sommertag. Und weshalb nimmst du denn dauernd das Fernrohr und schaust so interessiert auf Deutschland herunter? Jedes Mal, wenn du dein Fernrohr wieder beiseite legst, scheinst du nicht gerade etwas Angenehmes zu beobachten. Genieße doch einfach die schöne Aussicht und freue dich darüber. Dir muss doch als alter Wandervogel dabei das Herz aufgehen.

Hans Breuer (brummig): Wie kann ich mich freuen, wenn ich sehe, was viele heutige Wandervögel machen und wie sie mit meinem Erbe und meinen Zielen umgehen. Das kann einem schon die Freude verderben. (Dann nimmt er wieder sein Fernrohr, schaut längere Zeit auf einen bestimmten Ort unter ihnen und beginnt wieder zu brummen).

Sokrates (tut die offensichtliche Unzufriedenheit von Hans Breuer leid): Ich weiß nicht, was du im Einzelnen meinst, Hans. Kannst du dich mal genauer über deine Unzufriedenheit äußern?

Hans Breuer: Ich beobachte seit einiger Zeit da unten ein Wandervogeltreffen. Wie sich dort die Tische biegen... Salatschüsseln, Gebratenes, Gekochtes, Pizzas, Fertiggerichte, sogar Süßspeisen als Nachtisch... Das erinnert mich an moderne Geburtstagspartys oder an Festtagsbankette... Unsere bürgerlichen Eltern meinten damals auch, sie müssten bei Besuchen und am Wochenende zu Hause mit solchem Aufwand aufwarten... Wir Wandervögel haben damals gerade aus Protest gegen diese unnötige Fülle das einfache, besonders das ländliche Essen wieder entdeckt... Wie uns das geschmeckt hat... Wo ist unsere damalige bewusste Einfachheit geblieben?... Vom Essen her gehört diese Gruppe da unten zu den Party-Vögeln, aber nicht zu den Wandervögeln im alten Geist... Da würde ich als Wandervogelführer aufräumen... Eintöpfe aller Art, deutsches Obst, Nüsse, Vollkornbrot mit Butter, Wurst und Käse... Das gibt wundervolle Festtagsessen und ist viel gesünder...

Sokrates: Du hast prinzipiell Recht, Hans... Aber viele Jüngere und Ältere sind die moderne Fülle so gewohnt, dass es schon einer deutlichen Durchsetzungsfähigkeit von Seiten eines Gruppenführers bedarf, um dagegen anzugehen. Wenn die Jüngeren das einfache Essen dann kennen gelernt hätten, würde es ihnen grade als Kontrast zur modernen Fülle sicher gut schmecken... Es müsste wieder starke, anspruchsvolle junge Führer geben...

Hans Breuer: Aber wo sind solche starken anspruchsvollen Führerpersönlichkeiten heute? Heute werden Gruppenführer gewählt und wer dem bequemen Gruppenwillen nicht Rechnung trägt, wird abgewählt. Das schwächt einen reformbereiten jungen Führer.

(Er nimmt wieder sein Fernrohr und richtet es auf diese Wandervogelgruppe unter ihnen) Und was da an Getränken auf den Tischen steht! Bier, Wein Schnäpse... Die großen Gläser werden ständig nachgefüllt... Es gibt sogar eine richtige Bier- und Weintheke... Und da hinten steht tatsächlich ein Anhänger einer Brauerei...Ich komme mir als Beobachter vor wie auf einer Renaissance-Hochzeit... Und die Jüngeren trinken wie die Älteren... Keiner sagt offensichtlich etwas dagegen. Das sind keine Wandervögel, das sind Saufvögel und Schluckspechte... Ich hatte damals in meinem Bund durchgesetzt, dass alle Treffen, an denen Jugendliche teilnahmen, alkohol- und nikotinfrei waren...

Sokrates: Aber selber warst du doch kein Abstinenzler. Wenn ich mich recht erinnere, stand damals vor uns auf dem Tisch unter dem großen Lebensbaum am Klingenteich ein Flasche Neckarwein und wir haben mit Freude den guten Neckarwein zu manchem Lied getrunken...

Hans Breuer: Ich war kein Abstinenzler. Wir haben nur unterschieden, was für einen Heranwachsenden richtig ist und was nicht... Ich habe die fehlende Mäßigkeit der Jugend selber oft erlebt. Das habe ich auch um 1912 schriftlich in unserer damaligen Wandervogel-zeitschrift dargestellt und diese Verbote für die Jüngeren begründet... Als Erwachsene haben wir im Kreis der Bachanten manches Glas guten Weines getrunken und dazu gesungen... Ein gutes Glas Neckarwein vermisse ich manchmal im Himmel... Wenn ich diesen Wunsch dort äußerte, würde sich wieder geräuspert... Ich bin nie ein Heiliger gewesen und habe, ehrlich gesagt, eine gewisse Antipathie gegen Heilige... Dieses Geräusper bei jeder Kleinigkeit kann einem wirklich die Laune vererben... Ich habe auch als Erwachsener geraucht, aber Jugendlichen habe ich gnadenlos den Tabak abgenommen... Wo tut das heute noch ein Führer? ... Gefälligkeitsführer scheinen das da unten zu sein. Vermutlich hat sich bei denen der Karl-Fischer-Geist durchgesetzt... Der hat ja auch mit Jüngeren, zumindest gelegentlich, geraucht und Bier getrunken... Wo sind neue anspruchsvollere Wandervogel-Führer, die sich dagegen wenden, dass Jugendliche rauchen und trinken?

(Hans Breuer nimmt wieder sein Fernrohr, schaut hinunter und brummt): Und wie die angezogen sind... Wie die Lumpazis... Das Hemd hängt aus der Hose, die Haare wild und die Schuhe ungeputzt... Gerade so wie ich es in der Frühzeit des Wandervogels unter Fischers Leitung erlebt und, es sei ehrlich gesagt, auch selber getrieben habe... Wir sahen aus wie die Strolche und wollten auch Strolche der Landstraßen sein... Wir hatten uns sogar Ausdrücke der Landstreicher-sprache, des Kundenrotwelsch, angewöhnt. Doch dann hat es bei mir auf einer Harzreise den endgütigen „Rappel“ gegeben und ich habe mich von dem Fischer’schen Kunden-Lumpazi-Stil konsequent verabschiedet und die Mehrzahl der damaligen Wandervögel hat meine Ansprüche übernommen... Wo sind diese Ansprüche heute? Die da unten sehen noch oder wieder so aus wie die Fischer’schen Vaganten... schmuddelig... Das sind keine Wandervögel, das sind Gammelvögel ...

Sokrates: Ich glaube, das musst du weniger als Orientierung am Fischer’schen Vaganten-Stil einstufen, sondern mehr als bewussten Gegensatz zu der modernen häuslichen und beruflichen Sauberkeits-Umwelt beurteilen. Der Gegensatz macht immer Spaß, gerade bei der Jugend... Aber du hast Recht, es wäre besser, wenn viele Führer von heute etwas mehr auf Ordnung achten würden, auch in der Kleidung und im persönlichen „Outfit“ ihrer Gruppenmitglieder... „Outfit“ sagt man doch heute ...

Aber gibt es denn nur diese eine Wandervogelgruppe da unten, die du beobachten kannst? Es ist doch Sommer und gerade die Ferienzeit. Da müssten doch viele andere Gruppen unterwegs sein...

Hans Breuer: Das wundert mich ja auch schon. Im Sommer waren wir doch alle draußen auf Fahrt. Wo sind nur die heutigen Wandervogelgruppen?... (Er richtet gedankenverloren sein Fernrohr auf ein vorbei fliegendes Flugzeug): Da! Da sitzen ja welche drin, da sitzt ja eine Gruppe Wandervögel drin... Statt zu wandern... Wo wollen die denn hin?... (Er schraubt an der Einstellung seines Fernrohres und erklärt Sokrates): Ich habe hier eine Weitwinkeleinstellung, damit kann ich die Ferne herbei holen. Und sobald das Glas Wandervögel erfasst, leuchtet am Rande eine kleine blaue Blume auf. Und Lieder kann ich ebenfalls bei einer besonderen Einstellung bis hinauf zu meiner Wolke hören... Dieses Gerät hat mir ein alter, ehrbarer Handwerker im Himmel gebastelt, der sich auch manchmal etwas langweilt ... (Plötzlich): Da! Und da fährt gerade ein Bus, in dem sitzen auch Wandervögel... Und dort auf dem großen Passagierschiff ist auch eine Gruppe... Ich denke, es heißt doch eigentlich „Wandervögel“, aber das sind ja Flug-, Bus- und Schiffvögel... Das sind Fahrvögel. Wo ist die alte Wandervogel-Ehre hingekommen?... Gewandert wird wohl kaum noch richtig! Es fehlen offensichtlich Führer, die die Gruppen zurück zur Tradition führen...

Sokrates: Jetzt sei bitte nicht so streng mit den heutigen Wandervögeln. Ihr habt ja auch regelmäßig den Zug benutzt, um aus Berlin heraus zu kommen. Bei den vielen heutigen Möglichkeiten zu reisen kann es nicht wundern, dass die Gruppen auch diese benutzen... Aber du hast Recht. Die Wandervögel könnten etwas mehr wandern und weniger fahren...

Hans Breuer (ganz aufgeregt): Ist das möglich!... Da in Griechenland, in Schweden, in Bulgarien, in Spanien... Da springen ja ganze Gruppen von Wandervögeln herum... Gefällt denen unser schönes Deutschland nicht mehr? Gibt es bei uns nicht genügend schöne Gegenden, die man durchwandern kann?... Waren denn schon alle Gruppen im Böhmerwald, im Spessart, im Wesergebiet, in der luxemburgischen Schweiz, im Spreewald? Sind denn schon alle die romantische Straße, den Rheinsteig oder den Rothaarsteig entlang gewandert, sind schon alle dem Fernwanderweg von Flensburg zu den Alpen gefolgt...? (Durch die zusammen gebissenen Zähne): Und hier wandern einige Gruppen durch Kreta. Das ist ja noch weiter... Aber ich kann als Entschuldigung wenigstens anrechnen, dass diese Gruppen wandern... Bei 40° im Schatten wandern... Als wenn es bei uns hier nicht genügend schattige Wälder gäbe...

Aber trotzdem, das sind keine Wandervögel, das sind Auslandsvögel... Wo sind die Führer, die ihre Gruppen wieder Deutschland entdecken lassen?

Sokrates: Lieber Hans, auch jetzt bitte ich dich, etwas weniger enttäuscht zu sein. Was hättet ihr denn damals gemacht, wenn ihr schnell und bequem ins Ausland gekommen wäret? Reizt nicht das Fremde mehr als die Nähe?... Aber ich gebe dir insofern Recht, dass wieder mehr in Mitteleuropa gewandert werden sollte.

Hans Breuer (brummt): Ist die sächsische Schweiz oder der Böhmerwald für einen Kölner vielleicht die Nähe? Und gibt es im Ausland eine solche landschaftliche und kulturelle Vielfältigkeit wie in Mitteleuropa? Um die kennen zu lernen, braucht man selbst als eifriger Wandervogel Jahrzehnte... Und ich hatte damals angeregt, sich die Landschaften, durch die man wandert, innerlich zu erschließen, durch Chroniken, durch Bilder, durch Skizzen, durch Gedichte, durch das Sammeln von volkskundlichen Informationen, durch intensive Vorbereitungen und Nachbereitungen...Wird das heute noch gemacht?

Sokrates (kratzt sich etwas verlegen den Bart): Ja...hm... Ich bin natürlich nicht über alles informiert... Aber ich fürchte, dass das bei vielen Gruppen etwas abgenommen hat... Man wandert einfach mehr durch die Gegend...

Hans Breuer (heftig): Also so, wie damals bei Karl Fischer... Einfach nur unterwegs sein... (Richtet sein Fernrohr wieder auf die 1. Gruppe unter ihnen und hält sich dann die Ohren zu): Was für ein Gebrüll steigt da zu mir auf? Soll das etwas Wandervogelsingen sein? Das sind ja mehr Brüllgesänge und Dröhngesänge als schöne Lieder... Das ist ja so schlimm wie unter Karl Fischer, als in vielen Wandervogelgruppen vorwiegend Studentenlieder und Soldatenlieder gesungen wurden... Welche Mühe hatte ich mir mit dem anspruchsvollen Singen gemacht... Das sind keine musisch anspruchsvollen Wandervögel, das sind Brüllvögel...Neue, junge, anspruchsvollere Führer müssten ein anspruchsvolleres Singen üben...

Sokrates: Lieber Hans, jetzt übertreibst du es wirklich. Lass die Gruppen sich doch einfach mal aussingen. Das stärkt den Gruppenzusammenhalt und ist auch mal schön. Natürlich sollten die schönen und anspruchsvolleren Lieder nicht vergessen und mehr fleißig geübt und wiederholt werden. Insofern gebe ich dir Recht...

Hans Breuer: Und was ist für 2009 geplant? Da jährt sich zum 100. Mal die erste Auflage des Zupfgeigenhansl’s. Mit diesem Liederheft wolle ich das anspruchsvolle Singen fördern und gleichzeitig Volksliedgut vor dem Vergessen bewahren. Hast du gehört, was zu diesem Jubiläum geplant ist? Bin ich denn überhaupt noch bekannt?

Sokrates (etwas traurig): Das Wenige, was ich dazu gehört habe, ist nicht erfreulich. Deinen Namen kennen viele schon nicht mehr, allenfalls den Namen des Liederbuchs Zupfgeigenhansl. Aber mehr als dass es mittlerweile scheinbar veraltete Wandervogel- und Volkslieder enthält, wissen die Mehrzahl der jungen Wandervögel auch nicht mehr. Und bezüglich des Jubiläums ist eigentlich nichts geplant. Das Jubiläum ist zwar irgendwo mal angesprochen worden, aber die meisten haben desinteressiert die Achseln gezuckt. Selbst die Stadt Heidelberg, wo du doch studiert und den Zupfgeigenhansl zusammengestellt hast, plant nur eine kleine Ausstellung. Das ist in der Tat schade...

Hans Breuer (traurig): Ich habe es gewusst, ich bin vergessen, meine Mühen hatten keine Langzeitwirkung... Woran lag das nur? Karl Fischer mit seinem anspruchslosen Vaganten-Stil hat sich durchgesetzt...

Sokrates: Ja, er hat mit seinem Stil eher überdauert als du, obwohl nicht alles, was du damals gefordert und umgesetzt hast, vergessen ist. Aber du warst einmal zu anspruchsvoll und dann bist du zu früh gestorben. Ansprüche brauchen viel Zeit, um sich im Bewusstsein zu verankern. Ansprüche müssen immer wieder in den Gruppen über die Generationen hinweg weiter gepflegt und wie ein Stab in einer großen Stafette weiter gegeben werden. Dazu gehören hauptsächlich Führer, die diese Ansprüche weiter geben... Die Menschen, und die Wandervögel sind ja auch nur Menschen, tendieren langfristig immer zum Mäßigen, Einfachen und dem Zeitgeist Entsprechenden...

Hans Breuer (verbissen): Vergessen, zu anspruchsvoll ... Ob einmal die Zeit kommt, wo ich und meine Ansprüche wieder mehr bekannt, mehr anerkannt und umgesetzt werden?... Das geht nur über neue, jungen Führer, die sich nicht nach dem Zeitgeist richten...

(Allmählich kommen der Harz und der Brocken in Sicht und langsam immer näher. Beide „Wolkentramper“ hängen ihren Gedanken nach. Am Brocken wollte Sokrates seinen „Wolkentramp“ beenden. Er macht Hans Breuer darauf aufmerksam, der gerade wieder verbissen durch sein Fernrohr schaut)

Sokrates: Ich bin jetzt gleich an meinem Ziel, am Brocken, angelangt. Das war ein langes Gespräch, Hans, und es hat mir etwas zu viel Bitterkeit enthalten. Du hast heute vielleicht zu viel Negatives gesehen, was sich aber so nicht auf alle Wandervogelgruppen übertragen lässt... Partyvögel, Saufvögel, Gammelvögel, Fahrvögel, Auslandsvögel, Brüllvögel sind nicht alle ... Vieles, was dich so unzufrieden macht, kann ich zwar verstehen, auch wenn ich meine, dass du weniger anspruchsvoll sein solltest. Am Zeitgeist kommt keine Generation vorbei. Die meisten Menschen sind zu schwach, negativen Strömungen ihrer Zeit Widerstand zu leisten. Und die meisten Wandervögel sind eben auch nur Menschen, sind Kinder ihrer Zeit... Es gibt übrigens auch heutzutage viele anspruchsvolle Wandervogelführer und -gruppen, die dir in ihren Ansprüchen nahe stehen. Es wäre aber zu wünschen, dass es noch mehr würden. Lass uns darauf hoffen, dass sich viele Wandervogelführer und -gruppen wieder mehr an dich erinnern und sich auf die früheren anspruchsvollen Werte im Wandervogel besinnen und wie Hefe die neuen alten Ansprüche im Wandervogel wieder verbreiten. Karl Fischer mit seinem Stil war Gründer und Belastung zugleich für den Wandervogel, da gebe ich dir Recht...

Hans Breuer: Ja, das ist auch meine Hoffnung, dass viele Wandervogelführer und Wandervogelgruppen es sich zu ihrer Aufgabe machen, meinen anspruchsvolleren Zielen wieder mehr Anerkennung zu verschaffen... Vielleicht kannst du, wenn du jetzt absteigst, dabei mithelfen. Ich darf leider nicht mit...

Sokrates (greift nach den Zweigen eines niedrigen Baumes auf dem Brockengipfel, hält die Wolke einen Moment an, springt zur Erde und ruft): Mach’s gut Hans... Euer damaliges harmloses „Heil“ im Sinne von „Gesundheit und Wohlergehen“ als Wandervogel-Gruß haben ja die Nazis gründlich entehrt...

Ich werde gerne deine berechtigte Unzufriedenheit und deine Wünsche mit in meine Gespräche übernehmen, nicht so direkt und massiv, wie du es heute getan hast, sondern vorsichtiger und gemildert, aber ich werde daran erinnern,... gerade im kommenden Hans-Breuer-Jahr 2009... Das verspreche ich dir... Aber sei du auch etwas nachsichtiger als eben mit  den heutigen Wandervögeln!

Und sei im Himmel nicht zu missmutig, das versteht man dort nicht... Unzufriedenheit und Querdenker wünscht man dort auch nicht...

Hans Breuer: Ich weiß, fast so wie auf der Erde! Und bringe mir das nächste Mal eine Flasche Neckarwein mit... Im Himmel ist es manchmal vor lauter Nektar und Ambrosia und überhaupt etwas langweilig... Ein kleines Gläschen Neckarwein, in der Wolke versteckt, sieht man oben vermutlich nicht... Und habe keine Sorge, wir alten Wandervögel waren Epikuräer! Die Lehre des Epikur vom Maßhalten in allen Dingen kennst du ja aus eigenem Erleben und die hast du ja selber praktiziert... Mach’s auch gut Sokrates... Ich singe dir noch ein Lied...

(Die Wolke schwebt weiter, Sokrates winkt ihr nach und hört noch die schwächer werdenden Klänge des Liedes “ Aus grauer Städte Mauern, zieh’n wir durch Wald und Feld...“ Aber natürlich kann nur Sokrates das Lied hören...)

(Übernommen von den Aufzeichnungen des discipulus socratei)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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