Daniel Siegele

Wiebkes Mehrzweckagentur

 

In einem irgendwo zwischen Meppen und Papenburg und nicht allzuweit von der Bundesstraße 70 entfernt gelegenen Straßendorf ist Wiebke seit ein paar Jahren die Besitzerin eines am Ortsaugang gelegenen kleinen Geschäftes, in welchem man – von einer mittäglichen Pause einmal abgesehen – von der Abfahrt des ersten morgendlichen Schulbusses bis zu den ersten Abendstunden aus einem breitgestreuten Angebot von Waren und Dienstleistungen für den alltäglichen Provinzbedarf seine Auswahl treffen kann.

Wenn man durch die Glasscheibe des Schaufensters sieht oder auch gleich Wiebkes Geschäft betritt, sieht man, daß hier von Kaugummikugeln und verschiedenen Eissorten (von denen einige „offiziell“ schon seit mehr als 20 Jahren gar nicht mehr hergestellt werden) über altbekannte Frauen-, Kreuzworträtsel- und Fernsehzeitschriften sowie Abreißkalender, Lottoformulare und Busfahrscheine bis hin zu konservierten Lebensmitteln in Dosen oder Gläsern trotz der Kleinheit des Ladens und des auch nicht sonderlich großen, rückwärtigen Lagerraums wohl jeder alltägliche Käuferwunsch erfüllt werden kann.

Zu den bereits erwähnten Dienstleistungen zählt, daß Wiebke hier nicht nur die oben genannten Busfahrscheine verkauft, sondern im Zusammenwirken mit der Bundespost auch kleinere Pakete annimmt oder bis zur Abholung aufbewahrt, die Kataloge einiger bekannter Versandhäuser bereithält sowie entsprechende Warenbestellungen entgegennimmt und innerhalb der Grenzen des kleinen Ortes einen jede Lokalzeitung weitestgehend ersetzenden Nachrichtenaustausch maßgeblich mit im Gange hält.

Wiebkes Tagesablauf wird im Großen und Ganzen von tagtäglich in mehr oder weniger ähnlicher oder gar gleicher Weise wiederkehrenden Ereignissen bestimmt: Zu den ersten Eindrücken eines noch recht jungen Tages gehört die allmorgendliche Vorbeifahrt einiger Landmaschinen verschiedener Art, deren Besitzer sich in dem kleinen „Mehrzweckladen“ vor der Weiterfahrt zu ihren Feldern und Äckern oft und gerne eine Tasse Kaffee und ein paar belegte Brötchen zum Mitnehmen gönnen, weshalb Wiebke die meisten von ihnen inzwischen mit dem Vornamen anredet und während der Vorbeifahrt an ihrem Geschäft in jedem Falle mit einem kurzen Winken grüßt; Zu Wiebkes regelmäßiger hungriger Kundschaft gehören außerdem die Schulkinder des Ortes, die während des dann schon fortgeschrittenen Nachmittages von dem aus der Kreisstadt zurückkehrenden Schulbus bis zum Gemeindehaus gebracht werden und sich von „Tante Wiebke“ mit Eis und Getränken in größeren Mengen versorgen lassen wollen!

Wenn der Ort, in dem sich Wiebkes Geschäft befindet, auch nur einen recht kleinen Teil des Emslandes für sich einnimmt, so ist das Bedürfnis der hier wohnenden Hausfrauen, sich mit Schönem und mehr oder weniger Nützlichem aus den gängigen Versandhauskatalogen zu versorgen, doch nicht weniger ausgeprägt als anderswo, wobei sich Wiebke zuweilen mit nicht gar so alltäglichem Versandgut konfrontiert sieht; nicht wenige Mühe hatte Wiebke in diesem Zusammenhang mit einer in einem Stück gelieferten und unter Verwendung von viel Styropor in einem sehr großen Karton verpackten Bügelmaschine – einem der seinerzeit teuersten Versandhausangebote überhaupt, und in idealer Weise geeignet, die neidischen Nachbarinnen der Bestellerin bis zu einem nur noch mühsam verborgenen, inneren Zornesbrodeln zu reizen – die sie tatsächlich nur mit der Unterstützung des ihr bereits seit längerem bekannten, hilfsbereiten Auslieferungsfahrers in den kleinen Lagerraum ihres Ladens zu befördern vermochte.

Die – an den lokalen Verhältnissen gemessen – recht gut betuchte Bestellerin der soeben erwähnten und nicht eben billigen Bügelmaschine wohnt noch nicht sehr lange in unserem kleinen emsländischen Straßendorf; es ist ihr dessen ungeachtet jedoch bereits mehr als einmal gelungen, zumindest ihre unmittelbaren Nachbarinnen sehr zu provozieren, indem sie sich auf der Dorfstraße mit – offenbar in der nächsten größeren Stadt erworbenen – modischen Luxusartikeln wie einer Krokodillederhandtasche oder – gemessen an den ortsüblichen provinzdörflich-kleinbürgerlichen Vorstellungen  in geradezu unanständiger Weise teuren (französischen?) Stöckelschuhen sehen läßt; ein wenig beruhigt fühlen sich die Nachbarn der „Neureichen“ lediglich durch den Umstand, daß die letzteren ja ohnehin  von „Auswärts“ stammen, wohin sie – mitsamt ihrer Bügelmaschine, ihrem teuren Auto, sowie ihrem „reichlich locker erzogenen Fräulein Tochter“ auch hoffentlich möglichst bald wieder verschwinden werden (wodurch gerade die besonders selbstgerechten „Dorfmoralwächter“ allerdings auch das allerliebste Ziel ihrer Kritik und ihres mühsam verborgenen Neides verlieren könnten).

Zu Wiebkes regelmäßigen Kunden gehören jedoch nicht nur die Schulkinder, die während des Nachmittags aus der Kreisstadt zurückkehren, die Landwirte, die allmorgendlich mit ihren Traktoren auf der Durchgangsstraße ihres Weges fahren oder diejenigen Dorfbewohner, welche Paketsendungen aufgeben oder abholen und Busfahrscheine, Lottoformulare oder Lebensmittel erwerben wollen – recht regelmäßigen Besuch erhält Wiebke auch von durchreisenden Überlandvertretern für Landmaschinen oder Düngemittel, die zum Teil ungefähr einmal in jedem Monat oder sogar in Wochenabständen wiederkehren.

Für diejenigen Zeitgenossen, die außerhalb ihrer Öffnungszeiten nach kleinen Durstlöschern oder Appetitstillern verlangen, hat Wiebke an der freien Außenwand ihres am Ortsausgang gelegenen Geschäfts vor ein paar Jahren einen Automaten mit zahlreichen kleinen Verkaufsfächern anbringen lassen – jedes einzelne Fach ist hierbei mit einem Klappfenster versehen, dessen Verriegelung jeweils durch das Einwerfen einer entsprechenden Münze und das Drücken des zugehörigen Knopfes gelöst werden kann.

Die einzelnen Verkaufsfächer werden während der Nachtstunden durch kleine Glühbirnen beleuchtet, am oberen Rand des großen Verkaufsautomaten befindet sich überdies eine breite, hinterleuchtete Milchglasscheibe mit der Aufschrift „Leckere Kleinigkeiten rund um die Uhr!“ – den letzten Teil ihres Arbeitstages verbringt Wiebke dementsprechend mit dem Zubereiten belegter Brötchen verschiedener Art. Nachdem sie aus gelegentlichem Schaden klug werden mußte, hat Wiebke ihren Automaten noch mit einem selbstgefertigten Hinweisschildchen mit der Aufschrift „Die Klappen bitte langsam öffnen, sonst geht die Mechanik kaputt!“ versehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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