Eines Tages nahm sie mich bei der Hand und führte mich hinaus zum Wald.
Immer weiter mit sich fortzerrend, brachte sie mich bald an den kleinen
See in seiner Mitte.
„Was wollen wir hier eigentlich?“ fragte ich sie.
Ungeduldig
werdend blickte ich zurück zum Dorf, zurück nach Eskoych und sah dort
meinen Vater vor mir, wie er auf mich wartete und enttäuscht sein würde.
„Ich
will dir etwas zeigen!“ sagte sie in einem nachdrücklichen Tonfall und
zog mich weiter. „Es ist nicht mehr weit“, versuchte sie mich zu
beruhigen.
Bald kamen wir zu der alten verfallenen Ruine des Hauses,
das dort auf einem hohen schroffen Felsen den See überragte; wie die
ausgeweidete Leiche eines gestrandeten Meeresungeheuers da stand, ihre
düsteren, verbrannten Balken in den Himmel streckend.
„Du willst dort doch wohl nicht hinauf?“ entfuhr es mir, als böse Vorahnungen mich durchzuckten.
Auch
ich kannte schließlich die Geschichten, auch ich hatte von alten
Flüchen, bösen Geistern und grässlichen Monstren gehört. Was wäre nun,
wenn diese Geschichten wahr sein sollten?
„Seit wann bist du denn so ängstlich?“ versuchte sie mich zu necken und zum Vorwärtsgehen zu bewegen.
„Du
weißt genau, dass es verboten ist das Haus zu betreten!“ entgegnete ich
ungehalten, mehr Angst verspürend als ich mir jemals eingestanden hätte.
„Ich
weiß“, antwortete sie in einem beruhigenden Tonfall, „doch dort will
ich auch gar nicht hin. Ich möchte dir etwas zeigen. Es ist dort
hinten.“
Mit dem Arm deutete sie nun in die Richtung, wo der Felsen
zum See hin abfiel. Ich konnte außer dem Schatten der Bäume kaum etwas
erkennen, doch bildete ich mir ein, kleine graue Gestalten über den
Felsen huschen zu sehen. Schließlich musste ich ihr zwangsweise folgen,
da sie bereits voraus geeilt war, während ich noch mit meinen Ängsten
rang. Sie stand am Felsen und als ich bei ihr ankam, sah ich, was sie
wohl gemeint hatte: Eine dunkle Höhlenöffnung offenbarte sich meinem
Blick, ihren Schlund aufreißend wie ein hungriges Monster.
„Los, komm schon!“ sprach sie aufgeregt und schnell atmend; schnell war sie verschwunden.
Ihr
heller Ruf nach mir ertönte bald aus der Dunkelheit, lockte mich,
forderte mich. So begann ich den Abstieg. Die Höhle stellte sich in
Wahrheit als Gang heraus, der vermutlich tief unter den See führte.
Beklemmung stieg in mir auf, als ich mich im Halbdunkel langsam
vorwärts tastete. Gänsehaut befiel mich, als ich meinen Weg hinab unter
die schweren Wasser suchte. Angst packte mich im Genick, als selbst das
Tageslicht der Außenwelt verschwand und mir keinen Weg mehr zeigte.
„Wo bist du?“ rief ich verzweifelt, doch außer meinem hohlen Echo antwortete mir niemand.
Unwillig
ging ich weiter. Unter meinen suchenden Fingern spürte ich rauen
Felsen, Erde und hie und da auch Spinnweben. Einmal strich ich über
etwas Glitschiges, das sich schnell von mir fortbewegte. Abscheu stieg
in mir auf. Was, wenn dies bereits Teil des Fluchs war, der über dem
Haus lag, und ich nun verdammt wäre für ewig in dieser klammen
Finsternis vorwärts zu waten? Panik erfüllte alle Winkel meines Körpers.
„Madhou!“ rief ich verzweifelt.
Dann
plötzlich wurde es heller. Ich erkannte, dass ein Feuer entfacht worden
war; wohl in einem Raum am Ende des Ganges. Und wieder hörte ich sie
auch nach mir rufen. Ich fand sie in einer größeren Höhle. Sie war
gerade damit beschäftigt, eine zweite Fackel zu entzünden und sie in
eine Wandhalterung gegenüber der ersten zu stecken. Nur schwach
erleuchteten diese Feuer den Raum. Dieser war nicht natürlichen
Ursprungs, er musste aus dem Fels gehauen worden sein. Seine Form glich
einer flachen Scheibe: die Decke niedrig, der Durchmesser weit. Von der
Mitte der Decke hing eine Felssäule, die sich zum Boden hinab
verjüngte, doch bereits kurz vor der Oberfläche eines runden
Steintisches aufhörte. Sowohl auf diesem, als auch auf dem Boden der
Höhle fand sich ein seltsames Spiralen-Muster. Es begann unter meinen
Füßen und endete in der Mitte der Tischoberfläche, wo sich eine
Vertiefung befand. Dies alles, Raum und Tisch, musste aus einem
einzigen Stück gemeißelt worden sein.
„Wo sind wir hier?“ waren meine ersten erstaunten Worte.
„Unter dem See!“ antwortete sie, und die Freude in ihrer Stimme stand im Gegensatz zu meinem Schaudern.
Madhou war gerade mit ihrem Tun fertig geworden und wandte sich nun diesem steinernen Tisch zu, da fiel mir etwas ein.
„Mach das bloß nie wieder!“ entfuhr es mir, mehr ängstlich denn wütend.
„Was denn?“ fragte sie unschuldig.
„Mich in dieser fürchterlichen Dunkelheit allein zu lassen!“
Ihr Lächeln kann ich bis heute nicht deuten, doch fühlte ich mich schon damals nicht wohl dabei.
„Stell
dich nicht so an“, raunte sie leise, kniete sich dabei neben dem Tisch
nieder und ließ ihre Finger über seine Kanten gleiten.
Jetzt erst
bemerkte ich die Figuren, die man einmal rings um den Rand der
Steintafel eingemeißelt hatte. Sie zeigten unheimliche Gestalten und
Begebenheiten, furchteinflößende Ungeheuer, die sich kein vernünftiger
Geist hätte ausmalen können, und Menschen, die vor ihnen knieten, in
Anbetung, Opferung und Tod. Wieder schauderte es mir, während die kalte
Höhle begann, Verderben und Verdammung auszustrahlen.
„Ich will hier weg“, sprach ich und bemerkte das Zittern in meiner Stimme.
„Du
bleibst hier!“ antwortete sie hart, während sie ihr Gesicht endgültig
dem Tisch zuwandte. „Ich entdeckte diese Höhle vor wenigen Wochen und
ich möchte sie mir dir teilen. Komm her zu mir und genieße sie zusammen
mit mir.“
Langsam erhob sie sich bei dieser Ansprache und strich nun
mit der Hand über die Oberfläche des Steines, fuhr mit den Fingern
hinab zu der Vertiefung in der Platte. Dann schrie sie überrascht auf.
Ich sah einzelne Blutstropfen von ihrem Finger fallen; sie musste sich
geschnitten haben. Ein merkwürdiges Gefühl des Unheils durchzuckte mich.
„Es reicht; ich gehe. Ich werde dich im Dorf erwarten“, sprach ich und musste die Laute förmlich aus mir herauspressen.
Ich
wollte nur noch weg von diesem Ort. Ohne auf Madhou oder eine Antwort
von ihr zu warten, drehte ich mich um. Wieder musste ich durch diesen
schrecklichen Tunnel, der trotz der Fackeln aus der Höhle nur teilweise
erleuchtet werden konnte. Diesmal jedoch war ich schneller, denn ich
fühlte mich verfolgt, wagte es aber nicht, mich umzudrehen. Wie ein
Messer bohrte der Eindruck der Verfolgung sich in meinen Rücken, bis
ich den Schmerz tatsächlich deutlich spüren konnte. Hastig eilte ich
voran, stolperte immer wieder, musste die letzten Schritte sogar
kriechend zurücklegen, während Käfer und Spinnen über meine Hände
huschten. Schmutzig und keuchend erreichte ich endlich wieder
Tageslicht. Erschrocken drehte ich mich dort um, doch konnte ich in der
Finsternis nichts erkennen; nichts hatte mich verfolgt. Nicht einmal
den Schein von Madhous Fackeln sah ich noch. Kurz fragte ich mich, ob
ich nicht auf sie warten sollte, doch sie schien mir nicht zu folgen.
Dann überlegte ich, dass ich sie dort herausholen müsste, vor allem
beschützen, was dort an Schrecklichem auf sie lauern könnte, doch meine
Angst besiegte mich; ich konnte es nicht. Bald kehrte ich dem Wald den
Rücken und ging zurück nach Eskoych. Es erwarteten mich zahlreiche
Fragen und besorgte Blicke.
Madhou kam nicht mehr heim. Ich machte
mir schreckliche Vorwürfe deswegen: Ich hätte bei ihr bleiben sollen,
hätte sie zurückholen sollen. Doch etwas in mir sagte mir, dass auch
ich dann niemals mehr zurückgekommen wäre. Zu diesen Tagen begann der
Wald seine Wandlung. Immer waren die Damodh-Hügel und mit ihnen
Eskoych, ihre Wiesen und der Wald die schönste Gegend der mir bekannten
Welt gewesen. Nun aber wirkte der Wald anders; das bemerkte nicht nur
ich. Jeder, ob Einheimischer oder nicht, sah den Wandel. Grün tragende
Bäume wurden braun und verloren ihre Blätter, Tiere verließen und
mieden den Wald und Förster weigerten sich bald, ihn zu betreten.
Doch
immer noch wurde Madhou in seinem Inneren vermutet und schließlich
entschied man sich, den Wald nach ihr abzusuchen. Dutzende von
Freiwilligen fanden sich, trotz der unheimlichen Wandlung des Waldes.
Ich muss gestehen, vielleicht zu meiner Schande, dass ich nicht an der
Suche teilnahm. Man mag mir jegliche Feigheit dieser Welt vorwerfen,
doch rückblickend betrachtet konnte man nur froh sein, nicht gegangen
zu sein. Das, was ich von der Suche hörte, sollte mir genug Schrecken
sein.
Wenige Tage nach Madhous Verschwinden, noch zu den Anfängen
der Wandlung, machten sie sich auf den Weg. Mein Vater war auch dabei.
Es war gerade Mittag, da erreichten sie den See. Sie fanden den Felsen
mit dem Haus vor, wie ich ihn beschrieben hatte, doch vermochten sie
keine Tunnel zu entdecken, die unter den See geführt hätten. Nur eine
kleine Höhle in dem Felsen war vorhanden. Dort war es auch, dass sie
die Kette fanden, die Madhou von ihrer Mutter bekommen hatte und auf
die sie so schrecklich stolz war. Dies war den Männern Grund genug, die
Suche noch nicht zu beenden, denn vermutlich war sie noch in diesem
Wald. Bis zum Sonnenuntergang durchsuchten sie den ganzen bedrohlichen
Forst. Alles dort soll verändert gewesen sein; nicht nur der Wald hatte
sich gewandelt. Über dem einst klaren und stillen See hing den ganzen
Tag eine dichte, niedrige Nebeldecke und hin und wieder stiegen Blasen
an die Oberfläche, die zerplatzten und deren ausströmende Gase den
Männern schlecht werden ließ. Tiere erblickten sie nicht eines, doch
fand die Gruppe vereinzelte Knochen, die stets fein säuberlich abgenagt
schienen. Hinter jedem Busch fanden die Männer tödliche Gruben, giftige
Pilze oder dornenbewehrte Sträucher. Der einst so friedliche, einst so
schöne Wald schien sich in einzige Todesfalle verwandelt zu haben; in
einen Ort des Bösen – Nein, in das Böse selbst. Denn schließlich kam
der Abend und mit ihm der Tod.
Die Gruppe wollte die Suche letztlich
doch aufgeben und nach Eskoych zurückkehren, da es immer später wurde.
Doch tatsächlich wurde es nur für sie zu spät. Lediglich zwei der
Männer verließen den Wald lebend, doch ihre Geschichten wirkten viel zu
abenteuerlich, als dass sie jemand geglaubt hätte, auch wenn sie
übereinstimmten. Beide starben kurz nach ihrer Verhörung; seitdem wagt
sich niemand mehr in den Wald. Ich war bei dieser Anhörung zugegen,
hoffte ich doch etwas über meinen Vater und Madhou zu erfahren. Nun
wache ich manchmal nachts schweißgebadet auf und wage nicht mehr,
wieder einzuschlafen.
Die Männer berichteten von einem lebendigen,
doch dunklen Wald; von Ranken, die nach ihnen griffen und sie in die
Gruben und Sträucher zerrten; von Bäumen, die sich einzelne Männer
einverleibten als seien sie Wasser; von Nebel, der sie alle zu
ersticken drohte; von Büschen, denen Beine wuchsen auf welchen sie die
Suchenden verfolgten; und von dem Haus, das in lodernden Flammen stand
und doch zusammen mit diesem Feuer ein Ganzes zu bilden schien. Und am
schrecklichsten von allem war die Erzählung, dass Madhou gesehen wurde
oder etwas, das noch entfernt an sie erinnerte, doch mittlerweile mehr
Teil des Waldes zu sein schien und über das Leiden der Sterbenden
lachte.
Dutzende starben in dieser Nacht, an dieser Tatsache ist
nicht zu rütteln. Dies alles war Grund genug für mich, Eskoych zu
verlassen und in die Stadt, nach Barhsrom zu gehen. Ich schwor mir, nie
wieder zurückzukehren in diesen verwandelten Wald, doch immer höre ich
Madhou mich in meinen Träumen rufen. Meine schöne Madhou erscheint mir
wie früher in ihnen. Ich hatte einen Einfall, wie ich diese Verwandlung
umkehren kann, wie ich wieder meine Madhou von damals zurückbekomme.
Wünscht mir Glück und Erfolg.
ENDE
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Kommentar des Herausgebers
Eskoych
ist ein kleines Dorf nördlich von Barhsrom in Dhranor. Früher war es
bekannt für seine lieblichen Auen. Heutzutage erzählt man sich
Geschichten über den sogenannten Mordwald bei Eskoych, wo vor gut
zweihundert Jahren zahlreiche Männer den Tod fanden. Der Mordwald wird
selbst von der Armee gemieden. Niemand betritt ihn freiwillig; nur
Wahnsinnige gehen hinein, doch kehren nie zurück.
Diese Geschichte ist das letzte, was man von einem jungen Mann aus Barhsrom fand. Nie wieder hörte man von ihm oder Madhou.
Tonn Onasi, Jagâharis des Hauses des Buches von Raygadun
Raygadun, Aleca, 16.03.3995
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andre Schuchardt).
Der Beitrag wurde von Andre Schuchardt auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2009.
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Andre Schuchardt als Lieblingsautor markieren
Oasenzeit. Gedichte und Geschichten
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