Flora von Bistram

Eiszeit

 

Mit letzter Kraft schleppte sie sich hinter die Fässer, da lagen sie noch, die alten Decken, die Karsten organisiert hatte.  Wo steckte er nur…nicht weiterdenken, nur gegen den Schmerz im Leib ankämpfen, atmen, atmen, gekrümmt schlich sie weiter, sich vorantastend, endlich niedersinkend auf dem harten Boden.

Dunkel brannten die Augen aus tiefen Höhlen  im spitzen und schmutzigen Gesicht und täuschten ein Alter vor, das gelebt war, doch die realen Jahre sicher nicht anzeigten.

Schwer atmend, immer wieder von einer Schmerzwelle durchrüttelt, schreiend und sich festkrallend in der teils feuchten, teils etwas starr gefrorenen Decke, die nun unter den Fluten des Schweißes der Anstrengung und Schwäche, der in minutenschneller Folge der Wehen,  sich erwärmte, zumindest weicher wurde.

Sie sackte zusammen, eine gütige Ohnmacht umfing sie, entkräftet durch Hunger, Kälte, Müdigkeit und der eisige Dezemberwind blies ab und zu feinste Schneekristalle durch die schadhaften Dachbleche der alten Fabrik.

 

Eine neue Wehe ließ sie wimmernd zu sich kommen und instinktiv wusste sie, dass es nun nicht mehr lange dauern konnte. Obwohl kaum noch Kraft sie aufrichten konnte, entledigte sie sich der verdreckten Jeans, des  nassen Schlüpfers und zog Stück für Stück die zweite Decke über sich.

Tausend Messerstiche, heftigster Schüttelfrost ließen sie nur noch wimmern und es als wohltuend empfinden, dass sich, als ihr Schrei mit seltsamem Echo von den Wänden zurückgeworfen wurde, mit dem alles zerreißenden Schmerz  nun ein Schwall warmen Blutes aus ihrem Schoß nach draußen drängte.

Hinter den geschlossenen Augen wurde es hell, ein Licht leitete sie mit Musik und sie hörte nicht mehr den zarten Schrei, der  das Ende ihres Leids begleitete, sah nicht den kleinen offenen Mund, der kundtat:“Hier bin ich, ich lebe, nimm mich an!“

 

Er hielt inne - eben hatte er noch die alten Bretter der  maroden Imbissbude, die, unweit der alten verlassenen Fabrik, nur ihn noch als Besitzer  kannte, etwas besser befestigt, noch einmal Kartons und Zeitungen von innen angenagelt – er war sich nicht sicher, war das nun eine Katze oder ein anderes Tier, das da geschrien hatte? Doch nein– da wieder – es schüttelte ihn, er bekam eine Gänsehaut, das war ein Mensch! Er verließ sein schützendes Daheim, denn das war es für ihn, stolperte auf das Gebäude zu, holperig war der überschneite und gefrorene Weg, so dass er nur schlecht vorwärts kam, zumal seine Schuhe mehrere Nummern zu groß waren, ausgestopft mit Zeitungspapier gegen die Kälte. Die Atemluft ließ sich als kleine Kristalle in seinem struppigen Bart nieder, Schneeflocken umwirbelten ihn, angepeitscht von dem eisigen Nordostwind, vor dem auch die vielen Schichten der wärmen sollenden Kleidung nicht ganz schützen konnten.

Nun war es still, kein Laut mehr zu hören, er blieb stehen, bemühte sich, ruhiger zu atmen, um lauschen zu können und da, da kam wieder ein Schrei, doch anders, zart, hell und fordernd, nicht so schmerzerfüllt, wie eben.

„Hallo! Hallo! Ich komme, ich helfe, keine Angst, ich bin gleich da!“

Im Laufen laut weiter redend erreichte er schließlich das Tor, das etwas windschief in den Angeln hing und so gelangte er mit Leichtigkeit in den großen Raum.

„Ich bin hier!“ Und wie eine Antwort erscholl nun auch wieder das Geschrei – ein Kind- durchzuckte es ihn- ein sehr kleines Kind!

 

Hinter den Fässern angekommen blieb der Mann erschüttert stehen: in einer Blutlache lag der laut protestierende Säugling, ohne seine Mutter zu einer Reaktion bewegen zu können…

 

Behutsam nahm er das zitternde und schon etwas bläulich schimmernde Kind an sich, nachdem er sich aus mehreren Schichten seiner Oberbekleidung geschält, den saubersten Pullover ausgewählt hatte und wickelte es hinein, darüber zog er ihm noch eine Strickjacke, legte es dann wieder behutsam auf die Decke, bedeckte die junge Frau- oder war es noch ein Kind?-

mit den herumliegenden Decken, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie wirklich nicht mehr lebte.

Ein wenig hilflos nahm er nun das immer noch schreiende Kind wieder auf, das sich nun in seinen Armen sehr schnell beruhigte und schon wenig später, erschöpft von den Strapazen der ersten Lebensstunde, einschlief.

„Ihr armen Hascherl, was mach ich denn nur jetzt? Erst mal nach Hause.“ Nach Hause? Ja, die alte Bude empfand er schon als sein Zuhause, hatte er es sich doch ein wenig wohnlich dort gemacht, doch es war da eindeutig zu kalt für das Kind und zu Essen hatte er auch nichts.

Also nahm er nicht den Weg zu dem Imbiss auf, sondern steuerte zielsicher nach Westen, denn er wusste, in ungefähr einem  Kilometer Entfernung stand ein Haus, dort würde man ihm weiter helfen können.

 

Seine Hände zitterten, sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm einfiel, dass er seinen Rotwein nicht dabei hatte, doch nun war ein Menschenleben in Gefahr und so tief war er noch nicht gesunken, dass er das aufs Spiel setzen wollte.

Endlich erreichte er die geräumte Straße, eine Wohltat, nach dem immer wieder Einsinken im tiefen, überfrorenen Schnee.

Als er endlich durch die breite Einfahrt ging, die gesäumt war von kleinen, kugelig geschnittenen Buchsbäumen, erreichte ihn auch schon eine Wärme, ein Wohlgefühl, wie er es lange nicht mehr gefühlt hatte. Ja, hier zu leben, das war doch etwas ganz anderes und seine Gedanken wollten in die Vergangenheit gleiten, ließen ein Haus vor seinen Augen erstehen und…da, der Kleine bewegte sich und fing an, erst ein wenig glucksend, dann etwas heftiger,

zu schreien.

Schon lag sein Finger auf der Klingel und ein dunkles Ding – Dang – Dong klang durch das ansonsten ruhige Haus. Ihm erschien die Zeit ewig, bis sich endlich schlurfende Schritte der Tür näherten und diese sich endlich öffnete.

Unter verwuschelten Haaren schauten sehr müde Augen auf ihn und unter Gähnen murmelte der junge Mann:“Was treibt sie denn hierher?“

„Bitte, sie müssen mir helfen, rufen sie die Polizei, da liegt ein totes Mädchen in der Fabrik, die hat wohl eben dort entbunden.“ und wie zur Bekräftigung hob er den kleinen Schreihals hoch.

„Ach du meine Güte, kommen sie rein,“ nun wirkte er sehr munter und schob den Älteren fast vor sich her in ein wunderbar warmes Wohnzimmer.

„Sie setzen sich erst mal ans Feuer, ich hole das Telefon und für sie einen Kaffee, sie sehen ja ganz verfroren aus...................

 

wird fortgesetzt 

 

 2005

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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