Anja Jung

Die Geschichte vom eigenen Eisberg

Eigentlich wollte sie nach Hause fahren, zu dem Mann, der sie so sehr liebt. Doch sie konnte einfach nicht. Der Vollmond, bedeckt von kleinen Wolkenfetzen, geht gerade auf. Rot war er, so rot, wie das Blut, das durch ihre Adern floss. Sie fuhr weiter, immer weiter, bis sie an ihren See kam, ein See, eingebettet zwischen alten Bäumen und Sträuchern. Hier saß sie früher so oft, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Jetzt war der Frühling bereits erwacht, die erste Wärme zog durch das Land, doch sie konnte diese Wärme gar nicht spüren. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, gut in ihrem Beruf zu sein oder damit, ihr Herz verschlossen zu halten. Sie wollte nicht verletzbar sein, so, wie damals. Und wie damals, so wollte sie sich niemals wieder fühlen – allein, verlassen, beschimpft und belogen. Ja, darum konnte sie dem Mann, der zu Hause auf sie wartet, nicht zeigen, wie sehr sie auch ihn liebte.
Sie stieg aus dem Auto, die Autotür fiel ins Schloss, nur ein paar Schritte und der See lag vor ihr. Es roch nach frischen Blättern und Blüten.
Drei tiefe Atemzüge, so hatte man ihr gesagt, helfen, sich zu besinnen. Aber worauf? Auf sich selbst? Selbst? Wer ist sie überhaupt?
Zu sehen ist eine Frau, die für ihren Beruf lebt, eine Frau, die über Grenzen geht, eine Frau, die Herausforderungen annimmt, eine glückliche Frau, die immer freundlich und zufrieden ist, weil sie alles hat, was sie braucht? So ist sie, genau das sagen andere Menschen von ihr!
Doch sie wusste, sie war noch viel mehr. Eine Frau, die nicht Lieben kann? Die Angst hat vor Verletzung und darum ihr Herz verschließt? Oft fühlt sie sich auch traurig, sie hat Angst. Manchmal kann sie nicht mehr, sie ist zu schwach, vorwärts zu gehen. Manchmal möchte sie gar nicht mehr aufstehen und allein in einer Höhle leben …ja, auch so ist sie.
Sie geht weiter um den See, ein leichter Wind weht ihr das Haar ins Gesicht. Der Mond steht fast im Zenit und spiegelt sich im See. Nach einer Weile bleibt sie stehen und lauscht in sich hinein. War sie ein gutes Vorbild? Sie hat ihren Söhnen immer gesagt, dass es wichtig ist, nicht aufzugeben, sich den Dingen zu stellen und dass sie sich lieben und annehmen sollen, so, wie sie sind. Ja, es sind wunderbare Kinder, sie sind gut geraten. Alle drei gehen ihren Weg und leben ihr Leben. Langsam geht sie weiter.
Bei den alten Eichen angekommen, setzt sie sich auf die Bank am See. Schwer atmet sie. Sie fühlt sich wie ein Eisberg. Kühl, von außen schön anzusehen, auf dem Meer des Lebens dahingleitend. Doch unter dem Meer, da liegt all das, was nicht sichtbar ist, nicht einmal für den Mann, der auf sie zu Hause wartet. Seine Lebensgeschichte hat er ihr erzählt, vieles, was man von ihm nicht im Außen sehen kann. Doch was weiß er von ihr? Nicht viel. Sie hat Angst, Angst vor Verletzung, Angst nicht geliebt zu werden, so wie sie ist.
Und dann, dann kommt wieder diese Traurigkeit.
Der leichte Wind lässt sie frösteln. Langsam erhebt sie sich und geht zum Auto zurück. Sie merkt, wie sich die alte Kälte um ihr Herz legt, während sie das Auto vor dem Haus abstellt.
Er empfängt sie im Flur und freut sich, sie zu sehen. Er hat auf sie gewartet. Er stellt keine Fragen. Er umarmt sie und hält sie eine Zeit lang, liebevoll im Arm. Es ist ein Moment, in dem sie sich einlassen und ihr Herz öffnen möchte. Es ist ein kleiner Augenblick, in dem sie ihren alten Eisberg zum Schmelzen bringen lassen möchte. Wie?
Das weiß sie auch noch nicht so genau, doch sie fühlt, es ist an der Zeit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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