Siegfried Gränitz

Annemarie


Sie war älter als Renate, als ich sie kennenlernte, aber ein Jahr jünger als ich.

Sie wohnte im Nachbarhaus mit ihren beiden Schwestern: Birkenhof 4.

Alle drei waren mit ihren Eltern 1947 nach Reichenbrand gezogen.

Sie waren sehr hübsche Kinder.

Annemarie, die Älteste, aber war die, die von allen umschwärmt wurde.

Ihr blondes Haar trug sie mit Seitenscheitel und hatte immer eine Haarschleife hineingebunden: mal in Rot, mal in Hellblau oder in Weiß.

Sie wusste ganz genau, dass sie nicht hässlich war und benutzte ihr Aussehen dazu, jahrelange Freundschaften zwischen uns Jungs auseinanderzubringen.

Wie sie das machte?

Sie gab jedem einzelnen von uns das Gefühl, dass gerade er es war, der ihr besonders gut gefiel: reihum tat sie das. –

Hansi war zuerst dran!

Sie zog ihn eines Tages in eine Ecke der kleinen Gartenanlage, die an die Wohnhäuser grenzte, und tuschelte mit ihm.

Wir anderen Jungs guckten neidisch hinterher, als sie gleich darauf in den Büschen verschwanden.

Als nach zehn Minuten keiner von beiden wieder erschien, gingen wir sie suchen.

Wir schwärmten aus, wie wir es immer bei unseren Kriegsspielen taten, die wir immer noch nicht vergessen hatten.

Die beiden waren nirgends zu finden!

Wie sich eine Stunde später herausstellte, waren sie auf Umwegen zu „Buschmanns“, einem kleinen Laden an der Rabensteiner Straße, gelaufen, hatten sich Brausepulver gekauft, waren zu Hansi in die Wohnung gegangen und hatten vom Fenster aus zugesehen, welche große Suchaktion sie ausgelöst hatten. –

Bei Eberhard ging Annemarie anders vor.

Sie passte ihn nachmittags an der Schultür ab – der Unterricht fand in dieser Zeit noch ziemlich unregelmäßig statt – und ging – beide trugen den Ranzen über der Schulter – mit ihm ins Stelzendorfer Bad.

Was scherte Eberhard seine Mutter, die zu Hause wartete, wenn Annemarie mit ihm ins Bad wollte!

Welche Strafe es im Anschluss für Eberhard gab, hat er uns nie verraten! –

Nun war ich an der Reihe!

Meine große Leidenschaft kannte Annemarie: Kino, Kino und nochmals Kino.

Sie klingelte bei uns und wollte wissen, ob ich ein bisschen mit zum Spielen käme.

Meine Mutti hatte nichts dagegen, ich natürlich genauso wenig.

Annemarie wollte aber nicht mit mir auf den Spielplatz gehen, sondern zeigte mir den Inhalt ihrer Geldbörse und lud mich ins Kino ein: zum Trickfilm „Das Wunderpferdchen“.

Und irgendwann an diesem Tag  behauptete allen Ernstes, meine beiden Freunde hätten sich über mich lustig gemacht, täuschten ihre Freundschaft mir gegenüber nur vor, und dabei sei doch gerade ich es, den sie am meisten mochte. –

An einem besonders heißen Tag im Spätsommer – ich war mit meinem Vati auf seinem Beet, wo er

vor allem Tabak angepflanzt hatte, mit Gießen beschäftigt – erschien Annemarie mit einem mir fremden Jungen vor dem Haus, breitete eine Decke auf der Wiese aus und setzte sich mit ihm in den Schatten einer Birke.

Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

Annemarie schenkte gerade aus einer Kanne irgendein Getränk aus: in zwei Gläser, die sie einem Henkelkorb entnahm.

Dann erzählten sie sich irgendwelche Geschichten, als sie nebeneinander saßen und Kekse knabberten.

Nichts ringsum interessierte sie – sie taten so, als seien sie weit und breit die einzigen Menschen.

Der Junge schmierte Annemarie, nachdem sie ihre Oberbekleidung ausgezogen hatte und im Badeanzug dasaß, Sonnencreme auf die Haut, wobei sie übertrieben laut kicherte und zu mir hersah.

Ich hätte vor Eifersucht sämtliche Tabakpflanzen meines Vatis herausreißen können!

Mir war sofort klar, dass sie in dem Fremden ihr nächstes Opfer gefunden hatte.

In der Regel gingen diese „Freundschaften“ zwei bis drei Tage.

Während dieser Zeit hatte Annemarie keinen Blick oder ein Wort für andere übrig.

Und der Auserwählte genoss diese Zeit so lange, bis er wieder beiseite geschoben wurde.

Während mein Vati Unkraut zupfte, lief ich mit der Bemerkung, etwas trinken zu wollen, zu Hansi und Eberhard und verständigte sie von meiner Beobachtung.

Auch sie hatten längst Annemaries Charakterschwäche mitgekriegt und sie schweren Herzens links liegen lassen, was wiederum der alten Freundschaft zwischen unserem Kleeblatt zugute kam.

Heute sollte Annemarie im wahrsten Sinne des Wortes eine kalte Dusche abkriegen!

Die beiden Turteltäubchen saßen so günstig für unser Vorhaben vor einem Kellerfenster, dass erstens der Wasserschlauch, den wir anschlossen, nicht zu sehen war und zweitens der Strahl sie mit voller Wucht treffen musste.

Wofür trug sie schließlich einen Badeanzug?, trösteten wir uns.

Gesagt – getan!

Hansi schloss im Kellervorraum den Schlauch an und kauerte am Wasserhahn.

Eberhard nahm das Mundstück in die rechte Hand und zielte auf Annemarie und ihren neuen Freund.

Und ich hatte die Aufgabe, während ich wieder meinem Vati half, den günstigsten Zeitpunkt auszusuchen und ein Zeichen zu geben, wann Hansi aufdrehen sollte.

Ich hatte nur die beiden im Auge.

Sie waren mit ihrer Decke jetzt aus dem Schatten in die Sonne gerückt und erzählten sich anscheinend Witze.

Im Vorgefühl unserer Rache hob ich den Arm und gab das Zeichen.

Genau in diesem Moment kam die alte Frau Bochmann aus dem Hauseingang, um an der Teppichstange ihren Läufer auszuklopfen.

Der Strahl hatte so einen Druck, dass das Stück Stoff sofort durch die Gegend flog, begleitet von einem dreistimmigen Schrei.

Frau Bochmann hatte zwar das meiste abbekommen, aber auch Annemarie und der Junge waren nicht verschont geblieben und standen triefend neben ihrer Decke.

Mein Vati sah der Reihe nach erst sie, dann mich an.

Ich zuckte mit den Achseln.

Als wenige Augenblicke später Hansi und Eberhard mit hängenden Schultern die Kellertreppe hochkamen – feige waren sie nicht, das musste man ihnen lassen! –, interessierte mich weniger das Geschrei Herrn Bochmanns, der sofort mit der Polizei drohte, sondern der nasse Badeanzug Annemaries und noch viel mehr sein Inhalt.

Das Mädchen stand, die Arme seitlich von sich gestreckt und die Finger gespreizt, stocksteif vor uns.

So hatte ich die zehnjährige Hexe noch nie gesehen.

Der knallrote Badeanzug klebte an ihrem Körper, und zwei kleine Hügel mit winzigen Spitzen drückten von innen gegen den Stoff.

Aber nicht nur wir Jungs stierten darauf, sondern sogar der alte Herr Bochmann.

Hallo, Unbekannte (natürlich heißt Du nicht Annemarie)!
Wenn Du Dich in meiner Geschichte wiedererkennen solltest, darfst Du mir ruhig schreiben: an sgraenitz@web.de.
Siegfried Gränitz, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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