Harald Blumenau

Das Puzzle

Wenn ich an sie denke, überkommt mich noch heute ein warmes Gefühl in der Brust und ich glaube den süßen, aufdringlichen Geruch von verwesendem Fleisch zu riechen.
Ein Kiefer Karzinom hatte fast ihre gesamte linke Gesichtshälfte zerstört und der Tumor starrte mir beim täglichen Verbandswechsel erschreckend und bedrohlich entgegen, gerade so, als ob er an das baldige Ende seines ausgemergelten und wehrlosen Opfers erinnern wollte.
Sie stellte auch mir immer diese Fragen, mit denen sie bereits unser gesamtes Personal in Verlegenheit gebracht und in die Flucht geschlagen hatte.
Auf diesem Weg konnte sie ihren Willen letztlich doch noch durchsetzen, dass nur ich zur täglichen Wundversorgung vorbeikommen sollte.
"Sie haben gestern gesagt, ich würde in jedem Zombie Film ohne Maske eine Hauptrolle bekommen.
Soll ich das als Beleidigung auffassen?"
"Nein", antwortete ich, "das war nur eine Feststellung, Sie sehen ja auch aus, wie ein wandelndes Schaschlik!"
Dann hat sie gelacht, bis sie sich vor Schmerzen krümmen musste.
Es war jeden Vormittag dasselbe.
Die Fragen von Frau S. waren tückisch und man wurde immer wieder neu geprüft, ob man ehrlich zu ihr ist.
"Ich sterbe bald, meinen Sie nicht auch?"
Natürlich fielen die meisten unserer Schwestern und Pfleger gnadenlos durch.
Mit Beschönigen und Relativierungen versuchten sie einer Wahrheit zu entgehen, der sich ihre Patientin schon längst gestellt hatte.
So blieb nur noch ich übrig und wir wurden ein gutes Team.
Nach dem Versorgen des Gesichts oder besser dem, was davon übrig war, folgte ein seltsames Ritual, an das ich mich nie gewöhnen konnte.
Kaffee trinken.
Ich fand es furchtbar, jedes Mal.
Herr S. saß am Tisch, hinter einer Bildzeitung versteckt und rief seiner Frau, die vor Schmerz kaum stehen konnte, zu was noch alles fehlen würde.
Ein richtiger Pascha!
Sie musste immer wieder inne halten und kramte hektisch in der Küche.
Bei einem ersten Versuch meinerseits, ihr in der Küche zu helfen, ist es geblieben, nachdem mich der Bildzeitungsträger unfreundlich zurechtgewiesen hatte:
"Das ist die Aufgabe meiner Frau!"
Manche Dinge ändern sich nie, dachte ich damals.
Dann haben wir zwei immer miteinander gequatscht.
"Sie waren ja früher bildhübsch", sagte ich und blickte dabei auf die schwarz/weiß Fotografien längst vergangener Jahre.
So, oder ähnlich begann ich unsere Gespräche.
Dann fing sie an, von ihrem Leben zu erzählen und ihre Augen bekamen wieder einen lebendigen Glanz.
Das Tollste an Frau S. war ihr Witz, ich habe selten in meinem Leben bei einer Frau einen derartig pechschwarzen Humor erlebt.
Manchmal haben wir uns fast totgelacht, wobei das in Bezug auf sie, durchaus wörtlich genommen werden konnte.
Wenn wir es zu bunt trieben, rief uns Herr S. wie eine Horde ungezogener Kinder zur Ruhe.
Ihre Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein und sie konnte deshalb tagelang nicht schlafen.
Für diese Nächte hatte sie ihr Puzzle.
Es war riesig und bestand aus unglaublich vielen Teilen einer herrlichen Landschaftsaufnahme.
Eine wunderschöne Sommerwiese und ein großer Kastanienbaum waren darauf.
Daran saß sie bereits seit Monaten.
Und dann kam das Ende, für mich zu plötzlich und trotz besseren Wissens unerwartet.
Es war noch sehr früh, plötzlich schellte es im Büro und der Bildzeitungsträger stand vor mir.
"Meine Frau ist tot!", mehr konnte er nicht mehr herausbringen, dann fiel er mir tränenüberströmt in die Arme.
Ich war mit der Situation überfordert, reagierte ein wenig unbeholfen und versprach ihm, ihn am Mittag zu besuchen und bei den Formalitäten zu helfen.
Als ich pünktlich um 12.00 Uhr das Reihenhaus betrat, wurde ich Zeuge einer seltsamen Wandlung.
Der sonst so passive Bildzeitungsträger hatte den Kaffeetisch akkurat gedeckt, Kuchen eingekauft und auch sämtliche Formalitäten waren bereits erledigt.
„Was mache ich bloß ohne meine Frau?“, wollte er verzweifelt wissen.
„Ich glaube, das werden sie schon schaffen“, versuchte ich ihn vergeblich zu trösten.
„Sie scheinen sich doch sehr gut zu helfen zu können.“
„Wissen Sie, ich führe schon seit Jahren den Haushalt, nur wenn Besuch kommt, dann wollte meine Frau das nie“, entgegnete er.
Plötzlich verstand ich.
Er wirkte an diesem Tag genauso zerbrechlich, wie diese kleine Frau, die es nun auch für mich nicht mehr gab.
Beim Verlassen des Hauses fiel mein Blick auf das Puzzle auf dem Eichentisch, in der dunklen Ecke des Wohnzimmers.
Es war fertig!
"Was soll damit passieren?“, fragte ich ihn.
„Ich bewahre es auf!“, antwortete er mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel zuließ.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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