Daniela Tannebeger

Tage zählen..

 

„Hallo, mein Name ist Melissa, ich bin acht Jahre alt und mit meiner Familie vor einer Woche hierher gezogen.“ „ Und von wo seid ihr hergezogen?“ wollte die Lehrerin mit der großen schwarzen Brille von dem kleinen Mädchen wissen. Noch nie in ihrem Leben hatte Melissa so eine große Brille gesehen und zusammen mit den langen schwarzen Haaren, streng nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, sah das Gesicht der Lehrerin ganz weiß aus, weiß wie die Wände ihres neuen Kinderzimmers. „Melissa! Wo genau haste denn nun zuletzt gelebt?“ fragte die Lehrerin mit strenger Miene. „Mhmmm..“ Melissa dachte einen Augenblick nach. „Zuletzt haben wir in der Nähe von Berlin gelebt, davor ein halbes Jahr in Offenbach, bevor wir in Offenbach gewohnt haben, bin ich am Bodensee zur Schule gegangen und davor...“ Melissa macht wieder eine Pause, der Name der Stadt wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Angestrengtes dachte sie weiter darüber nach. „Nun gut Melissa, das reicht uns fürs erste. Ich heiße Frau Jagusch und bin deine neue Klassenlehrerin. Auf der Bank neben Philipp ist noch ein Platz frei, da kannst du dich hinsetzen.“ Die Lehrerin zeigte auf eine Bank am Fenster in der vorletzten Reihe und so nahm Melissa ihren Schulranzen und setzte sich artig auf den freien Platz neben dem hageren Jungen mit den vielen Sommersprossen. „Philipp“ dachte Melissa, sie kannte schon ein Philipp, damals im Kindergarten waren sie die besten Freunde gewesen, aber das war schon eine ganze Weile her und seitdem ihre Eltern mal wieder umgezogen waren, hatten sie sich nie wieder gesehen. Dieser Philipp jedenfalls hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem damals besten Freund. Traurig schaute Melissa aus dem Fenster heraus auf den Schulhof. Schon lange hatte sie keinen besten Freund mehr gehabt.

 Als kurz vor um eins endlich die Schulglocke klingelt, ist Melissa froh ihren ersten Tag in der neuen Schule überstanden zu haben. Schnell packt sie ihre Sachen zusammen und verlässt in Eile das Klassenzimmer.

 Draußen vor dem Schulgebäude haben sich schon unzählige Eltern eingefunden, auch ein Schulbus steht schon, für den Abtransport von einigen Schülern, bereit. Nur Mama ist nirgends zu sehen. Noch einmal schaut Melissa gründlich von links nach rechts über den ganzen Hof und läuft einen Meter vor und zurück. Endlich sieht sie das Gesicht ihrer Mutter, hinter einem Pfosten am Eingangstor der Schule, auftauchen. „Hallo Melissa, wie war denn die Schule?“ wollte Mama wissen. „Wie immer.“ antwortete das Mädchen knapp, und ohne weitere Fragen zu stellen verließen Mutter und Tochter das Schulgelände und liefen in Richtung Parkplatz.

Auf der Heimfahrt schaute Melissa aus dem Fenster, so anders sah es hier gar nicht aus, allmählich glaubte sie, dass sich im Grunde alle Städte sehr ähnlich waren und verlaufen würde sie sich in nächster Zeit sowieso. So gab sie sich auch keine große Mühe sich den Weg von der Schule bis zu ihrem neuen Haus einzuprägen.

Es war wirklich ein schönes Haus, das musste Melissa zugeben. Es war gelb angestrichen, hatte ein rotes Dach und eine rote Tür und zur Straße hin, zwei riesige Fenster. Von weiter weg, dachte Melissa, sah es fast so aus als hätte das Haus ein großes freundliches Gesicht mit einem roten Mund. Das Allerbeste am neuen zu Hause, war aber nicht das Haus selbst, sondern ein Garten, welcher auch zum Grundstück gehörte. Der Garten war voller Büsche und Bäume, zum klettern und verstecken, einer großen Wiese und sogar einem kleinen Teich mit echten Fischen. Das musste sie unbedingt Bruno zeigen. Bruno war Melissas Zwergkaninchen und gleichzeitig ihr guter Vertrauter. Auch er hatte schon viele Umzüge mitgemacht, wusste also genau wie Melissa sich fühlte und hatte immer ein offenes Ohr für ihre Geschichten. Um genau zu sein, zwei Ohren, und zwar ziemlich große.

„Bruno und ich gehen raus auf die Wiese spielen.“ rief Melissa ihrer Mama zu, die noch dabei war den Lebensmitteleinkauf aus dem Auto ins Haus zu tragen. „Aber Melissa, wir hatten doch gesagt, dass du nach der Schule als erstes dein Spielzeug ausräumen musst. In deinem Zimmer stehen noch all die Kartons vom Umzug.“ „Aber Mama, wenn ich das alles ausgeräumt habe, ist es dunkel und dann kann ich mit Bruno auch nicht mehr raus. Du weißt doch, er hat Angst im Dunkeln.“ „Ja ich weiß entgegnet Mama, dann wird Bruno wohl bis morgen warten müssen. Als erstes werden die Spielsachen ausgepackt!“ Melissa kannte den Ton in der Stimme ihrer Mutter genau, er war ernst und bestimmt, damit waren weitere Diskussionen nicht erwünscht. Trotzdem entgegnete Melissa „Ich will aber nicht! Wenn wir nicht ständig umziehen würden, müsste ich auch nicht ständig meine Spielsachen ein und auspacken!“ wütend stampfte Melissa mit einem Fuß auf den Boden. Jetzt drehte sich die Mama zu Melissa um und kniete sich vorher hin. „Aber Du weißt doch, dass wir wegen Papa umziehen müssen, wegen Papa und seinem Job“ sagte Mama sanft. „Ja ich weiß, es ist immer Papas schuld und ich will nie, niemals in meinem Leben so einem blöden Job haben!“ Da kullern zwei dicke Tränen über Melissas Gesicht. „Ach mein Schatz“ sagte die Mama und streichelt ihrer Tochter sanft über den Kopf, „aber wir brauchen doch den Job von Papa, damit wir uns all die schönen Sachen kaufen können und das Essen, und auch damit wir in einem schönen großen Haus wohnen können, mit einem Garten, wo du alle deine Freunde einladen kannst.“ „Aber wenn wir ständig umziehen, hab ich keine Freunde und brauch auch keine einladen!“ entgegnet das Mädchen mit trauriger Miene. „Gut, aber essen müssen wir trotzdem!“ sagt Mama, richtet sich auf und wendet sich wieder den Tüten mit den Lebensmitteln zu. „Und deshalb gehst du jetzt in dein Zimmer und packst deine Sachen aus! Ende der Diskussion!“ Melissa dreht sich um und geht langsam, mit gesenktem Kopf, die Treppe hinauf. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kommt sie an dem ihrer Oma vorbei. Auch Oma muss immer mit umziehen, da sie nicht mehr alleine zuhause bleiben kann und immer jemanden brauchte, der sich um sie kümmert.

„Hallo Melissa“, sagte die Oma, als sie das Mädchen an der Tür stehen sah. „Warum schaust du denn so traurig?“ fragte sie. „Ach Oma, das ständige umziehen nervt!“ „Ich weiß mein Engel, mich auch, aber das lässt sich nun mal nicht ändern. Was meinst du, soll ich dir eine Geschichte vorlesen, um dich ein wenig aufzuheitern?“ „Eigentlich soll ich meine Spielsachen ausräumen“, entgegnet Melissa. „Na gut, dann nur eine ganz kurze Geschichte, wenn du es Mama nicht verrätst. Deine Spielsachen jedenfalls werden auch danach noch da sein“ erwidert die Oma freundlich. „Einverstanden!“ und über Melissas Gesicht huscht ein kleines Lächeln.

Auf Omas Couch, ganz nah an sie ran gekuschelt, lauscht das Mädchen dem Ende der Geschichte. Es ging um einen Drachen, eigentlich mag Melissa keine Drachen, aber der in der Geschichte, war ein ganz freundlicher, der einem kleinen Jungen beim Kampf gegen den bösen Ritter geholfen hat.

„Ende!“ sagt Oma und klappt das große, alte Geschichtsbuch mit den vielen zerknitterten Seiten und der komisch verschnörkelten Schrift zu. „Hat dir die Geschichte gefallen, mein Engel?“ fragt die Oma. „Und wie!“ antwortet Melissa noch immer in Gedanken bei Drachen und Rittern.

„Ich frage mich, wer dir wohl die Geschichten vorlesen wird, wenn ich nicht mehr kann.“ Oma starrte nachdenklich auf den Umschlag des Geschichtenbuches. „Wieso solltest du es denn nicht mehr können?“ frag Melissa. „Lesen verlernt man doch nicht, oder?“ „Nein, das nicht.“ entgegnet die Oma, aber ich bin doch schon sehr alt und ich habe nicht mehr so viele Tage. Das hatte sie die Oma schon oft sagen hören und jedes Mal war Melissa darüber verwundert. Die Oma hatte also Tage, sie selber hatte keine. Keine Stunden, keine Minuten, nicht einmal die kleinste Sekunde. „Woher weiß man denn wie viele Tage man noch hat?“ frag Melissa. Da lächelt die Oma und sagt „mach dir mal keine Sorgen mein Engel, du hast noch ganz, ganz viele.“ Das war zwar keine richtige Antwort auf Melissas Frage aber vorerst gab sich das Mädchen damit zufrieden und begab sich nun endlich in ihr Zimmer zu ihren verpackten Spielsachen. Nachdem Melissa das letzte Kuscheltier aus dem Karton befreit hatte, die Bauklötze und der Hüpfeball  ihren Platz gefunden und auch der Puppenwagen den schönsten Platz unter dem Fenster bekommen hatte, war es draußen schon dunkel. Bestimmt wird es bald Abendessen geben und so beschloss das Mädchen die letzten freien Minuten mit Bruno zu verbringen und ihn mit ein paar Kuscheleinheiten zu verwöhnen.

 „Abendessen!“ Hörte sie Mama aus der Küche rufen. Bruno musste wieder zurück in seinen Stall und Melissa machte sich auf dem Weg nach unten. Auch Papa war bereits von Arbeit gekommen aber Melissas Freude darüber hielt sich in Grenzen, nach dem Streit von heute Nachmittag mit ihrer Mutter, war sie immer noch wütend auf Papa. „Wo ist eigentlich Oma?“ fragt Papa, als alle bereits hungrig am Esstisch versammelt sind. Mama stand von ihrem Stuhl auf und ging die Treppe hinauf um Oma Bescheid zu sagen. „Oliver, Oliver!“ hörte Melissa die Mama ganz aufgeregt rufen. „Komm schnell herauf und ruf einen Krankenwagen, ich glaube Oma hat einen Herzinfarkt!“ Auch wenn Melissa nicht genau wusste was einen Herzinfarkt ist, war sie sich doch sicher, dass es ganz bestimmt nichts Gutes bedeutet. Aufgeregt sprang sie von ihrem Stuhl und wartete ungeduldig am Treppenaufgang. Mama und Papa hatten mir verboten ins zweite Stockwerk zu kommen. Es dauerte ewig, so kam es Melissa zumindest vor, bis sie endlich das Tatü Tata des Krankenwagens hören konnte. Sie sprang zu Tür und öffnete diese und im selben Augenblick rannten auch schon zwei Männer in roten Uniformen, in den Händen eine große Trage, die Treppe hinauf.

 Eine viertel Stunde später waren Mama, Papa und Melissa im Krankenhaus angekommen und saßen ungeduldig im Wartezimmer . Mama und Papa sehen sehr betrübt aus, dachte Melissa und auch der Arzt der soeben das Wartezimmer betrat, machte kein sehr freundliches Gesicht. „Sind sie die Tochter?“ fragte der Arzt und drehte sich in Richtung Mama. „Ja“ antwortet sie knapp. „Wie geht es ihr Herr Dr.?“ „Den Umständen entsprechend“ antwortet der Mann im weißen Kittel. „Viel später hätte man sie nicht ins Krankenhaus bringen dürfen. Aber so wie es aussieht, wird sie bald wieder auf den Beinen sein.“ „Dürfen wir sie denn sehen?“ fragt Papa. „Ja“ erwidert der Doktor. „Aber nur kurz, vor allem braucht sie jetzt Ruhe.“ „Das verstehen wir, wir möchten uns nur ganz kurz von ihr verabschieden und ihr sagen, dass wir sie morgen wieder besuchen kommen.“ „Zimmer 214, wir sehen uns dann morgen wieder.“ entgegnet der Doktor.

Als Melissa die Oma im Krankenhausbett liegen sieht, so schwach und kreidebleich, muss sie wieder daran denken worüber sie heute Nachmittag gesprochen haben. Vielleicht hätte sie doch weiter nachbohren sollen, wo genau die Oma nun eigentlich die Tage versteckt hat. Vielleicht hat sie doch noch mehr als sie denkt und sich einfach nur verzählt? Jetzt jedenfalls konnte sie nicht mit Oma darüber reden.

Als Melissa abends in ihrem Bett lag, dachte sie noch einmal darüber nach. Auf der Heimfahrt hatte sie versucht mit Papa darüber zu reden, aber Papa war nicht in Redelaune und hatte nur entgegnet, „das ist nun mal so, umso älter man wird, desto weniger Tage bleiben einem im Leben.“ Das hat Melissa mal wieder nicht verstehen können, heute war so ein anstrengender Tag gewesen, wieder einer dieser ungeliebten ersten Schultage und dann noch das mit Oma! Sie hatte nicht das Gefühl dass es weniger Tage in ihrem Leben wurden. Nein, ganz gewiss, sie das Gefühl, dass mit jedem neuen Morgen auch ein neuer Tag in ihrem Leben dazu kam.

Müde und erschöpft vielen ihr die Augen zu.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Daniela Tannebeger).
Der Beitrag wurde von Daniela Tannebeger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Daniela Tannebeger als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Gedichte mit und ohne Depresionen von Henriette Toska



In ihrem Erstlingswerk hat die Autorin verschiedene Gedichte zusammengefasst.
Sie beziehen sich auf den Lebenslauf und Alltagsgeschichten zu jeder Jahreszeit.

Viel Spass beim Lesen

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Daniela Tannebeger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

So weit das Auge reicht - Wirtschaftskrise 2009 von Daniela Tannebeger (Gesellschaftskritisches)
Ein seltsames Erlebnis von Marion Bovenkerk (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Wie ein frisches Brötchen Freude machen kann. von Christine Wolny (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen